(1) Begriff

 

Rz. 263

Entscheidend für den Kontinuitätsgrundsatz ist, welcher Elternteil auch für die Zukunft eine möglichst einheitliche, stetige, stabile und gleichmäßige Betreuung und Erziehung gewährleisten kann.[990] Denn Erziehung bedeutet Aufbauen von Lebens- und Verhaltenskonstanten.[991] Dieser Aspekt ist doppelrelevant: Während im Rahmen des Kontinuitätsgrundsatzes hier vor allem die äußeren Erziehungsumstände angesprochen sind, hat die Einheitlichkeit, Stetigkeit und Gleichmäßigkeit der Erziehung auch im Förderungsprinzip seinen Platz, dort sind aber eher die "inneren", vom Elternteil selbst herrührenden Erziehungsumstände in den Blick genommen (siehe Rdn 268). Grund der Bedeutung der Kontinuität ist die Feststellung, dass die Dauerhaftigkeit familiärer Bindungen für eine stabile und gesunde psychosoziale Entwicklung eines Kindes wichtig ist.[992] Entscheidend für die Kontinuität ist, ob sich die Lebensverhältnisse des Kindes derart gefestigt haben, dass sie ohne triftige Gründe nicht durch einen Aufenthaltswechsel verändert werden sollten.[993] Nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung bedarf es dann für einen Obhutswechsel triftiger Gründe, da dieser regelmäßig mit Belastungen für ein Kind verbunden ist.[994] Es entspricht daher auch gefestigter Rechtsprechung, dass bei einer Entscheidung im einstweiligen Anordnungsverfahren der Kontinuitätsgrundsatz besondere Bedeutung besitzt (siehe dazu § 7 Rdn 6,53 und 53 ff.). Bei dem Bemühen um Herstellung von Konkordanz der Grundrechte der Verfahrensbeteiligten steht nicht die Sanktionierung etwaigen Fehlverhaltens eines Elternteils in der Vergangenheit in Rede, sondern die Sicherung des Kindeswohls.[995] Bei einem länger praktizierten Wechselmodell (siehe dazu Rdn 326) wird dem Kontinuitätsgrundsatz hingegen regelmäßig weniger Bedeutung zukommen.[996]

[990] BVerfG FamRZ 2009, 189; 1982, 1179; BGH FamRZ 1990, 392; OLG Hamm FamRZ 2009, 1757; OLG Hamm NZFam 2014, 430.
[992] BGH FamRZ 1990, 392; dazu eingehend Brisch, Die vier Bindungsqualitäten und die Bindungsstörungen, FPR 2013, 183; Walter, Unterschiede zwischen Beziehungen und Bindungen – was sagen der Gesetzgeber und die psychologische Wissenschaft?, FPR 2013, 177; Bovenschen/Spangler, Wer kann Bindungsfigur eines Kindes werden?, FPR 2013, 187; Lüpschen/Lengning, Wie lässt sich eine sichere Bindung fördern?, FPR 2013, 191; Spangler/Bovenschen, Bindung und Bindungserfahrungen: Konsequenzen für Resilienz und Vulnerabilität im kritischen familiären Kontext, FPR 2013, 203; Becker/Laucht, Schutzfaktoren und Resilienz in der kindlichen Entwicklung, ZKJ 2013, 432.
[993] OLG Hamm, Beschl. v. 14.3.2011 – 8 UF 181/10, juris; OLG Brandenburg FamRZ 2003, 1949.
[996] OLG Dresden FamRZ 2011, 1741.

(2) Bedeutung in der Kindeswohlprüfung

 

Rz. 264

Bei der Prüfung dieses Kriteriums ist nicht nur auf die zum Zeitpunkt der Entscheidung bestehende Betreuungssituation abzustellen, auch wenn den in der Vergangenheit durch einen Elternteil wahrgenommenen größeren Erziehungsanteilen erhebliche Bedeutung zukommt,[997] die sich im Falle bisher einvernehmlicher Rollenverteilung verstärkt.[998] Die Anwendung des Kontinuitätsprinzips darf nicht dazu führen, dass eine zwar gleichmäßige, letztlich aber schädliche Erziehung unter Vernachlässigung anderer Aspekte des Kindeswohls fortgeführt wird.[999] Es ist vielmehr eine in die Zukunft gerichtete Prognose vorzunehmen, wobei aber durchaus auch die gegenwärtige Betreuungssituation wesentliche Bedeutung in den Fällen hat, in denen beide Elternteile in gleichem Maße erziehungsgeeignet sind und auch hinsichtlich der kindlichen Belange keine Unterschiede zwischen ihnen bestehen.[1000]

 

Rz. 265

Es gibt insbesondere – und zwar auch bei Kleinkindern[1001] – keinen allgemeinen Erfahrungssatz, dass Mütter grundsätzlich besser in der Lage sind das Sorgerecht auszuüben als Väter.[1002] Eine solche Festschreibung der Rollenverteilung ist mit Art. 3 Abs. 2 GG unvereinbar,[1003] was eigentlich selbstverständlich erscheinen mag. Indessen war und ist auch heute durchaus noch das gegenteilige Verständnis im Unterbewusstsein verschiedener Verfahrensbeteiligter beheimatet.

 

Rz. 266

Der Rechtsprechung ist zu entnehmen, dass gerade in den Fällen, in denen die elterliche Sorge jüngerer Kinder in Rede steht, dem Kontinuitätsgrundsatz erhebliche Bedeutung beigemessen wird,[1004] da bei jüngeren Kindern der häufige Wechsel einer Bezugs- und Betreuungsperson sowie des sozialen Umfelds als schädlich angesehen wird.[1005] Bei Kleinkindern kommt daher dem Kontinuitätsgrundsatz oft ausschlaggebende Bedeutung zu.[1006] Der Verlust des bisherigen räumlichen und sozialen Umfelds wird allerdings auch von Kindern, die das Kleinkindalter abgeschlossen haben, als einschneidend erlebt.[1007] Der Kontinuitätsgrundsatz wird umso gewichtiger, wenn ein Kind in der Vergangenheit nur zeitweise in einem ge...

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