Sind moderne Unternehmens­konzepte übergriffig?

Unternehmen versuchen, bei Mitarbeitenden Energien zu mobilisieren, die außerhalb der Jobbeschreibung liegen. Das sei übergriffig, lautet die These des Buchs "Die Humanisierung der Organisation", das Judith Muster zusammen mit Kai Matthiesen und Peter Laudenbach verfasst hat und das zu einer heftigen Kontroverse auf Linkedin geführt hat. Ein Gespräch mit Judith Muster und Matthias Meifert, der Musters Position kritisiert.

Personalmagazin: Nach der Veröffentlichung des Buches "Die Humanisierung der Organisation" haben Sie, Herr Meifert, eine Debatte über die Organisationssoziologie eröffnet, in der Sie die einseitige Begeisterung für diese Fachdisziplin kritisiert haben. Wie sehen Sie das heute? 

Matthias Meifert: Der Punkt, der mich zu dieser Debatte gebracht hat, war meine Befürchtung, dass die Thesen der Organisationssoziologie in den Unternehmen falsch verstanden werden. Die Mitarbeitenden werden in dem Buch auf ihre Funktionsrolle reduziert, ihre Bedürfnisse und Wünsche werden negiert. Meinen die Autorinnen und Autoren das ernst oder ist das nur eine Zuspitzung, um Aufmerksamkeit zu bekommen?

Personalmagazin: Frau Muster, Ihr Buch ist seit acht Monaten auf dem Markt. Haben Sie damit eine überdurchschnittliche Aufmerksamkeit erzielt?

Judith Muster: Wir merken an den vielen interessierten Anfragen, Kommentaren, Einladungen, dass unsere Perspektive bei vielen Menschen etwas anregt. Das freut uns, denn Ziel des Buchs ist es, zu thematisieren, dass Organisationen ungelöste Probleme gerne auf Personen verschieben. Die lebhafte Debatte über das Buch zeigt, dass das offensichtlich für viele ein relevantes Thema ist. Wir zeigen damit einen Mechanismus in Unternehmen auf, der für viele Mitarbeitende sehr unangenehm ist.

Wie weit geht die Rolle von Menschen in Unternehmen?

Personalmagazin: Eine Kernthese des Buchs lautet, dass wir in Organisationen zwischen Rolle und Mensch unterscheiden müssen. Das sei ein Akt der Emanzipation. Herr Meifert, stimmen Sie dem grundsätzlich zu?

Meifert: Selbstverständlich übernehmen Menschen, wenn sie in ein Unternehmen eintreten, mehrere Rollen. Da stimme ich zu. Ich bin aber der Überzeugung, dass die Menschen mehr in ein Unternehmen einbringen als die Punkte, die in einer funktionalen Jobbeschreibung formuliert sind. Das ist mein Kritikpunkt an den Ausführungen. Wer einen Arbeitsvertrag unterschreibt, geht mit dem Unternehmen auch einen psychologischen Vertrag ein. Damit sind sehr viel mehr gegenseitige Erwartungen verbunden, als das im Arbeitsvertrag formuliert ist. Der psychologische Vertrag, das zeigen die Forschungen der Verhaltenswissenschaften, bildet die Grundlage für Motivation und Empowerment. Das kommt mir in der organisationssoziologischen Betrachtung zu kurz. 

Wer einen Arbeitsvertrag unterschreibt, geht mit dem Unternehmen auch einen psychologischen Vertrag ein. Damit sind sehr viel mehr gegenseitige Erwartungen verbunden, als das im Arbeitsvertrag formuliert ist. - Matthias Meifert, HRpepper

Personalmagazin: Wie sehen Sie das, Frau Muster? Können Sie dem zustimmen?

Muster: Unsere Grundthese lautet, dass der Mensch einer Organisation nicht als ganzer Mensch zur Verfügung steht. Nicht alle seine Gefühle, Leidenschaften und Interessen können von Organisationen automatisch qua Mitgliedschaft einfach benutzt werden. Umgekehrt bedeutet es aber nicht, dass der Mensch nicht mit all seinen Eigenschaften und Gefühlen in der Organisation in Erscheinung treten darf. Das geht auch mir so: Wenn ich an der Wand im Metaplan-Gebäude vorbeigehe, die mit 70er-Jahre Ornamenten getäfelt ist, dann habe ich immer wieder Schmetterlinge im Bauch. Ich habe bei Metaplan angefangen zu arbeiten, weil es eine der wenigen Organisationsberatungen ist, die eine soziologische Betrachtungsweise hat. Als Mensch kann ich für eine Organisation begeistert sein, das ist wunderbar – diese Begeisterung steht der Organisation aber nicht als Ressource zur Problemlösung zur Verfügung. Die Gefühle der Mitarbeitenden stehen außerhalb der Verfügungsgewalt der Organisation. Manche Organisationen sehen das aber anders und dann wird es gefährlich.

Unsere Grundthese lautet, dass der Mensch einer Organisation nicht als ganzer Mensch zur Verfügung steht. Nicht alle seine Gefühle, Leidenschaften und Interessen können von Organisationen automatisch qua Mitgliedschaft einfach benutzt werden. - Judith Muster, Metaplan

Meifert: Das ist eine sehr pessimistische Betrachtungsweise und reduziert den Menschen. Wir haben bei HRpepper keine getäfelten Wände, aber "Ownership Thinking" als Leitmotiv. Unsere Organisationsmitglieder sollen die Organisation so leben, als ob sie vollständige Eigentümer wären. Ist es übergriffig, von den Mitarbeitenden mehr zu verlangen, als den Arbeitsvertrag mit seiner Rollenbeschreibung formal zu erfüllen? Rollen lassen sich in einer Organisation nur mit großem bürokratischem Aufwand beschreiben und es bleiben immer noch viele offene Räume. Man kann Menschen zumuten, auch in die offenen Räume zu gehen, egal ob sie am Band stehen oder CEO sind. Das gehört zu unserer Philosophie der Organisationsentwicklung dazu. 

In Organisationen besteht die Gefahr von Übergriffigkeit

Muster: Für mich steht im Vordergrund, gut zu organisieren. Ich würde mir nicht anmaßen, über Ihre Organisation Urteile zu treffen. Ich mache empirische Sozialforschung und nur, wenn ich weiß, wie eine Organisation tickt, kann ich mich dazu seriös äußern. Was ich aber in jedem Fall sagen kann: Meine These, dass in Organisationen die Gefahr besteht, dass sie übergriffig agieren, konnte ich aber allzu häufig auch in der Beratungspraxis beobachten – Sie vermutlich auch.

Meifert: Wir haben das beide in der Unternehmenspraxis gesehen, das eint uns. Meine Vermutung ist allerdings, dass Ihre Publikation Leser anspricht, die den Menschen gar nicht in seiner Komplexität sehen wollen, sondern nur in seiner Funktion für die Organisation.

Muster: Die Resonanz ist tatsächlich umgekehrt. Ich habe gerade mit vierzig Intendantinnen und Intendanten deutscher Theater zusammengesessen, die das Buch gelesen haben und mit mir diskutieren wollten, wie sie die viel thematisierten Machtmissbräuche in hierarchisch organisierten Theatern besser unterbinden können. Sie haben Interesse an Strukturen gezeigt, die das Problem lösen und den Menschen so Sicherheit bieten.

Meifert: Ich fremdle damit, dass Niklas Luhmann stets als Bezugsrahmen herangezogen wird, der in einer Verwaltungsorganisation der 60er-Jahre sozialisiert wurde, die keiner permanenten Veränderung ausgesetzt war. Ich habe den Eindruck, dass in dieser Theorie alle Menschen ihre Entscheidungen zweckrational treffen, und dass alle Irrationalitäten ausgeblendet werden. In der Betriebswirtschaftslehre war das mit dem Menschenbild des Homo oeconomicus auch lange so, aber in den letzten Jahrzehnten wurden die Erkenntnisse der Verhaltenswissenschaften aufgenommen. 

Ich habe den Eindruck, dass in dieser Theorie alle Menschen ihre Entscheidungen zweckrational treffen, und dass alle Irrationalitäten ausgeblendet werden. - Matthias Meifert, HRpepper

Muster: Ihr Eindruck ist falsch: Die Geburtsstunde der Organisationssoziologie ist ja gerade die Abkehr von der Zweckrationalität. Wir beobachten vielmehr, dass Organisationen ganz unterschiedlichen Rationalitäten folgen, die manchmal gar nicht zusammenpassen. Genau das ist auch Luhmanns Blick auf Organisationen. In "Funktion und Folgen formaler Organisation" thematisiert er die Paradoxie, dass Organisationen sich auf einen Zweck hin gründen, dann aber eine Eigenlogik entwickeln, die Folgeprobleme für die Menschen hat, die in ihr arbeiten. Sie sind es, die diese Folgeprobleme abpuffern müssen.

Personalmagazin: Lassen Sie uns konkret werden. Ein Betrieb möchte eine Serviceeinheit neu ausrichten. Die Geschäftsführung formuliert einen Nordstern, an dem sich die Organisation auszurichten hat. Sie appelliert an den neuen Mindset, der nötig sei, um die Kundenorientierung zu verbessern. Mehr Leidenschaft und Engagement sei erforderlich. Ist das übergriffig?

Muster: Zunächst einmal muss der Zweck der Abteilung sauber beschrieben werden, auch der Purpose und die Werte, die gelten sollen. Ich beobachte häufig, dass in den Organisationen dann aber nicht die Strukturen geschaffen werden, in denen entsprechend gearbeitet werden kann! Es werden bunte Bilder gemalt, wie Führung sein soll. Zu häufig wird dabei nur an das Verhalten der Menschen appelliert, anstatt Kommunikationswege festzulegen und Strukturen zu schaffen, die tatsächlich handlungsleitend sind und konkret Orientierung stiften. 

Es werden bunte Bilder gemalt, wie Führung sein soll. Zu häufig wird dabei nur an das Verhalten der Menschen appelliert, anstatt Kommunikationswege festzulegen und Strukturen zu schaffen, die tatsächlich handlungsleitend sind und konkret Orientierung stiften. - Judith Muster, Metaplan

Meifert: Ich erlebe häufig die gegenteilige Perspektive. Der deutsche Ingenieur, Betriebswirt oder IT-Fachmann ist der Überzeugung, neue Strukturen geschaffen und den Zielzustand beschrieben zu haben. Er oder sie erwartet, dass sich die Veränderung quasi von allein einstellt. In der Praxis erlebe ich, dass Unternehmen ganz wenig Mühe in gute Kommunikation stecken, das Change Narrativ wird nicht erläutert und das Why nicht begründet. Das Ergebnis: Die Menschen werden nicht mitgenommen.

Das Problem mit der Eigenverantwortung

Personalmagazin: Ich möchte einen weiteren Punkt ansprechen, der bei der Organisationsgestaltung eine Rolle spielt. Die Stärkung der Eigenverantwortung der Mitarbeitenden wird häufig als ein Ziel eines Veränderungsprozesses ausgerufen, manchmal mit einem emanzipatorischen Pathos. Wenn man Ihr Buch liest, Frau Muster, entsteht der Eindruck, dass das kein Thema der Organisationsgestaltung sei.

Muster: Wir müssen zwischen Verantwortlichkeit und Verantwortung unterscheiden. Organisationsmitglieder, die eine Stelle einnehmen, sind für etwas verantwortlich. Organisationsmitglieder, die die Lücke überbrücken zwischen dem, was man wissen kann, und dem, was man entscheiden muss, übernehmen Verantwortung. Traditionell ist Verantwortlichkeit eher weiter oben in der Hierarchie einer Organisation angesiedelt, Verantwortung eher weiter unten. Wenn man über Eigenverantwortung redet, sollte man diese Unterscheidung im Blick behalten. Allzu häufig wird Eigenverantwortung appellativ verwendet, etwa in dem Sinne: Nimm die Sache doch mal in die Hand und bringe sie unternehmerisch nach vorne, ohne dass dafür die Strukturen geschaffen oder Mittel bereitgestellt werden. Damit verlangt man Unleistbares. 

Allzu häufig wird Eigenverantwortung appellativ verwendet, etwa in dem Sinne: Nimm die Sache doch mal in die Hand und bringe sie unternehmerisch nach vorne, ohne dass dafür die Strukturen geschaffen oder Mittel bereitgestellt werden. Damit verlangt man Unleistbares. - Judith Muster, Metaplan

Personalmagazin: Ein moderner Ansatz in Beratungsprojekten ist, Verantwortung nach unten zu delegieren. Wie sehen Sie das Herr Meifert?

Meifert: Wenn Luhmann zitiert wird in Bezug auf Stellen, ist das für mich aus der Zeit gefallen. Das passt vielleicht zu einer Verwaltungsorganisation, in Unternehmen gibt es mehr Dynamik, da arbeiten Menschen eher rollenbasiert. Je dynamischer die Rollenanforderung ist, desto mehr gibt es das Momentum der Eigenverantwortlichkeit. Konzepte wie Job Crafting, die gerade en vogue sind, setzen auf Empowerment und die Gestaltung des eigenen Arbeitsumfelds. Das führt zu einem hohen Commitment der Mitarbeitenden, wie empirische Studien zeigen. 

Muster: Nach meiner Erfahrung arbeiten über neunzig Prozent der Organisationen stellenbasiert. Viele Versuche in die Richtung agiler Organisationseinheiten sind am Ende schon allein am SAP-Stellensystem gescheitert, in dem die formalen Verantwortlichkeiten festgeschrieben werden mussten – egal, ob man Rollen ausdifferenziert hatte. An diesen Stellenbeschreibungen orientieren sich dann die Nachbarabteilungen und konterkarieren die Versuche anders zu arbeiten.

Meifert: Das bezweifele ich. Meine These ist: Es ist nicht nur an SAP-Stellensystemen gescheitert, sondern auch an der Sozialisationserfahrung. Menschen, die in Großorganisationen mit starken Hierarchien und der Erfahrung "Ober sticht Unter" groß geworden sind, sind es nicht gewohnt, Verantwortung für alles zu übernehmen, für das sie sich zuständig und kompetent fühlen. Sie müssen die alten Gewohnheiten verlernen und die neuen lernen.

Menschen, die in Großorganisationen mit starken Hierarchien und der Erfahrung "Ober sticht Unter" groß geworden sind, sind es nicht gewohnt, Verantwortung für alles zu übernehmen, für das sie sich zuständig und kompetent fühlen. Sie müssen die alten Gewohnheiten verlernen und die neuen lernen. - Matthias Meifert, HRpepper

Wie verändert man die Strukturen und Verhältnisse in Unternehmen?

Personalmagazin: Wir sind an einem entscheidenden Punkt. Wenn die Verhältnisse es nicht zulassen, neue Wege zu gehen, wie kann man die Verhältnisse ändern?

Meifert: Ich würde nicht sagen, dass wir die Menschen verändern müssen, damit sich die Verhältnisse ändern. Wir müssen sie eher ermutigen. Ich glaube fest daran, dass Menschen die Verhältnisse ändern können. Menschen kommen mit Erwartungshaltungen in die Organisation, die über die formale Aufgabe hinausreichen. Aber ich bin da auch ausreichend Pessimist, um zu sehen, dass viele Graswurzelbewegungen gescheitert sind. Ein jüngstes Beispiel ist Working Out Loud, das sehr gefeiert wurde und von dem man nicht mehr viel hört.

Personalmagazin: Wie ist das in Ihrer Firma gelungen? HRpepper ist holokratisch organisiert und praktiziert viele Elemente von New Work.

Meifert: Ich allein wäre nie auf die Idee gekommen, einen solchen Weg einzuschlagen. Es gab ein paar Menschen in unserer Organisation, die von New Work begeistert waren. Wir haben uns informiert, beispielsweise mit Frederic Laloux und der Initiative Augenhöhe gesprochen, und dann entschieden, dass wir das ausprobieren wollen. 

Muster: In kleinen Organisationen mag das ein Versuch sein. Wenn man aber eine Firma mit fünftausend Menschen verändern will, kann man nicht einfach mal reden und was ausprobieren. Dann braucht man ein anderes Instrumentarium, um die Kommunikation mit allen sicherzustellen.

Wenn man aber eine Firma mit fünftausend Menschen verändern will, kann man nicht einfach mal reden und was ausprobieren. Dann braucht man ein anderes Instrumentarium, um die Kommunikation mit allen sicherzustellen. - Judith Muster, Metaplan

Meifert: Ein Kunde von uns, einer der größten Industriekonzerne im Lande, kam auf die Idee, Empowerment auszurufen. Dazu wurde auch formal geregelt, dass alle unterhalb vom Vorstand mehr Entscheidungskompetenz bekommen. Doch im Ergebnis haben sich die Führungskräfte dieses Mandat nicht geholt und mit Leben gefüllt. Die formale Änderung reichte in diesem Fall nicht aus. 

Muster: Das beobachten wir auch oft. Meist ist die Organisation dann gar nicht beschrieben, wenn man sich nur die formale Struktur oder formale Zwecksetzung anschaut. Darauf weisen wir in unserem Buch hin. Man muss auch die informalen Dimensionen einer Organisation betrachten: Die wirkmächtigen Netzwerke und Cliquen, die Workarounds und kleinen Abkürzungen, die oft die Dysfunktionalitäten der Formalstruktur ausgleichen, oder auch die Kollegialitäten und kleinen Tauschhandel, die Reibungsverluste formaler Silos kompensieren. Dieses wilde Unterleben hält die Organisation am Laufen. Auch das ist übrigens eine Grundannahme der Organisationssoziologie.

Das zweischneidige Schwert der Motivation

Meifert: Ihre Argumentation passt für mich nicht zum Untertitel des Buchs, der ja heißt: "Wie man dem Menschen gerecht wird, indem man den Großteil seines Wesens ignoriert." Die Erwartungen und Wünsche, die Menschen mit in die Firma bringen, sind doch eine Quelle der Motivation. Das zeigt die ganze verhaltenswissenschaftliche Forschung. Damit Menschen Leistung bringen, brauchen sie nicht nur eine formale Aufgabe, ohne an ihre Bedürfnisse, ihre Motive und Präferenzen anzuknüpfen, geht das nicht.

Die Erwartungen und Wünsche, die Menschen mit in die Firma bringen, sind doch eine Quelle der Motivation. - Matthias Meifert, HRpepper

Muster: Sie übersehen dabei etwas Wichtiges: Natürlich müssen Organisationen so gestaltet werden, dass Menschen und Organisationen zusammenpassen. Doch die These des Buchs ist: Organisationen dürfen die persönlichen Motivlagen der Menschen nicht als Ressource und Gestaltungshebel betrachten, über den sie beliebig verfügen können. 

Meifert: Da habe ich jetzt ein Verständnisproblem. Wie kann das Unternehmen über die Motivlage der Menschen verfügen?

Muster: Die Motivation der Menschen darf nicht ausgenutzt werden, um strukturelle Probleme zu lösen. Das geschieht viel zu häufig. Statt entsprechende Strukturen zu schaffen, die eine gute Arbeitsumgebung schaffen, wird an die Menschen appelliert, agiler zu sein und die Dinge voranzubringen. Da wird die Motivation und das Engagement der Menschen instrumentalisiert.

Die Motivation der Menschen darf nicht ausgenutzt werden, um strukturelle Probleme zu lösen. - Judith Muster, Metaplan

Personalmagazin: Viele Menschen bringen doch eine hohe Motivation mit und identifizieren sich mit ihrem Job. Manchmal kann der Arbeitgeber das ausnutzen, häufig aber fühlen sich die Menschen nicht instrumentalisiert. 

Muster: Ich selbst identifiziere mich wie beschrieben ja auch sehr mit meinen beiden Arbeitgebern: mit Metaplan und auch mit der Uni. Doch wir dürfen nicht immer von Menschen ausgehen, die so viel Freiheit in der Gestaltung ihres Jobs haben. Die Aufgabe von Organisationsgestaltung ist es, die Strukturen so zu bauen, dass sie möglichst entlastend für alle Menschen sind.

Meifert: Ich möchte widersprechen. Es gibt keine Organisation, die nicht aus diesem Goodwill, aus dem Commitment und aus Begeisterung der Mitarbeitenden ein "Mehr" abruft, als formal vereinbart wurde. Organisationen leben von der Selbstbegeisterung der Menschen, die einen Sinn in ihrer Tätigkeit erleben. Das ist dann eine gewisse Übergriffigkeit im positiven Sinne. 

Organisationen leben von der Selbstbegeisterung der Menschen, die einen Sinn in ihrer Tätigkeit erleben. Das ist dann eine gewisse Übergriffigkeit im positiven Sinne. - Matthias Meifert, HRpepper

Brauchen wir eine normative Vorstellung einer Organisation?

Muster: Das ist gefährlich realitätsfremd, denn nicht nur erfolgreiche, auch unerfolgreiche Organisationen tendieren dazu, ungelöste Probleme auf die Menschen zu verschieben und diesen dann die Schuld am Misserfolg zu geben. Davor müssen wir die Menschen schützen.

Meifert: Ich sehe dieses Risiko. Trotzdem bleibe ich bei einer optimistischeren Perspektive auf die Realität von Organisationen nach über 20 Jahren Erfahrung in der Managementberatung. Mir ist diese Haltung zu defizitorientiert und sie berücksichtigt zu wenig den Wunsch nach Entfaltung des Einzelnen. 

Personalmagazin: Brauchen wir eine normative Vorstellung einer Organisation? In den Ausführungen von Herrn Meifert wurde deutlich, dass für ihn normative Vorstellungen eine wichtige Rolle spielen. Frau Muster, verfolgen Sie auch einen normativen Ansatz?

Muster: Die Systemtheorie ist zunächst eine deskriptive Theorie. Sie will beschreiben, wie Organisationen real funktionieren, nicht wie sie funktionieren sollten. Wir haben aber ein Buch geschrieben, das unsere normativen Vorstellungen enthält, die wir als Menschen haben. Wenn wir die These vertreten, dass Organisationen Menschen nicht unnötig belasten sollen, wie ich das bereits ausgeführt haben, ist das ein normativer Anspruch. Und übrigens geht auch Luhmann am Ende des schon erwähnten Buchs der Frage nach, wie der Mensch in einer Organisation Mensch bleiben kann.

Meifert: Ich habe dazu eine Nachfrage: Wer hat die Verantwortung, diese Organisationsleistung zu erbringen? Ist das das Management?

Muster: Ja, das Management gehört dazu, weil es ein Mandat für die Organisationsgestaltung hat und das auch durchsetzen kann. Es können aber auch Netzwerke sein, die sich das Mandat nehmen. Das ist in jeder Organisation immer wieder überraschend, oft kann man das nicht am Organigramm ablesen, wer dabei in Führung geht.

Personalmagazin: Herr Meifert, wer hat aus Ihrer Sicht das Mandat zur Organisationsgestaltung?

Meifert: Grundsätzlich liegt die Verantwortung beim Management oder in der Funktion der Organisationsentwicklung. Aber auch jeder Einzelne trägt Verantwortung, Hinweise auf Veränderungsbedarf zu geben oder gar Veränderungen anzustoßen. Die Frage ist, wie bauen wir Organisationen so, dass für Einzelne oder Gruppen solche Gestaltungsspielräume entstehen?

Aber auch jeder Einzelne trägt Verantwortung, Hinweise auf Veränderungsbedarf zu geben oder gar Veränderungen anzustoßen. Die Frage ist, wie bauen wir Organisationen so, dass für Einzelne oder Gruppen solche Gestaltungsspielräume entstehen? - Matthias Meifert, HRpepper

Personalmagazin: Die Gedanken aus der Organisationssoziologie sind anregend, aber in der Alltagssprache auch schwer verständlich. Wie übersetzen Sie das Framework in die Unternehmenspraxis?

Muster: Unsere Beratungsprojekte entstehen aus konkreten Anliegen, die unsere Kunden formulieren. Es geht beispielsweise um Reorganisation, Transformation, Kulturprozesse oder Marktevaluation. Unsere Kunden müssen sich nicht mit der Theorie beschäftigen, sie merken in der konkreten Beratung, ob der Ansatz für sie passt. Viele allerdings begeistern sich für die Begriffe und Denkwerkzeuge und fangen irgendwann im Prozess an, sie ganz selbstverständlich selbst zu verwenden. Manche wollen das dann sogar vertiefen und sich weiterbilden. Das kann man bei uns, wir haben bei Metaplan eine Akademie dafür geschaffen.

Personalmagazin: Zum Schluss unseres Gesprächs: Was ist Ihr Fazit?

Meifert: Nach der Buchveröffentlichung war die Diskussion auf Linkedin sehr kontrovers. Heute haben wir uns von beiden Seiten angenähert. Wir brauchen einen guten Blick auf Struktur einer Organisation, aber auch auf die Menschen, die in der Organisation arbeiten. Ich fände es schön, wenn wir zu einer integrierten Sichtweise kämen.

Muster: Polarisierungen zur Unterstreichung von Kontrasten nützen meist dem Diskutanten mehr als der Diskussion. An der Linkedin-Debatte hatte ich mich auch deshalb kaum beteiligt. Wichtig ist mir vielmehr, dass wir seriös und mit präzisen Begriffen hantieren, das ist in einem Gespräch, wie diesem hier, sehr viel besser möglich.

Dieses Doppelinterview ist erschienen in Personalmagazin Ausgabe 6/2023. Lesen Sie das gesamte Heft auch in der Personalmagazin-App.


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