Das Märchen von den Veränderungsblockaden

60 Prozent der Veränderungen beim Menschen finden statt, wenn sie eine Krise erleben oder versuchen, sich von dem dadurch entstandenen Schmerz wegzubewegen. Nur 40 Prozent passieren, weil Menschen über einen langen Zeitraum Sinnhaftigkeit erleben und aktiv darauf zugehen. Menschen verändern sich durchaus – man muss allerdings die Bedingungen für Veränderung kennen.

In einer Aussage sind sich fast alle einig: Menschen verändern sich nicht gerne. Und genau diese kollektive Denkblockade ist in der Praxis ein riesiges Problem. Warum? Erst kürzlich im Transformationsprozess einer Firmenkultur im Mittelstand mit 3.500 Mitarbeitenden: Das Thema Veränderungskompetenz steht auf dem Programm. Übungen, Einsichten, Konzepte und Erkenntnisse.

Plötzlich meldet sich der HR-Chef. Sehr ruhig, fast flüsternd, meldet er sich zu Wort: Herr Grundl, ich liebe und ich hasse Sie. Oh, warum, wollte ich wissen. Ich hasse Sie, weil mir gerade etwas bewusst geworden ist. Jeden Tag konfrontiere ich Menschen mit Veränderungen und es gelingt mir oft sehr gut. Doch wenn irgendjemand möchte, dass ich mich verändere, schwillt mir der Kamm und ich gehe innerlich mit all meiner Kraft dagegen an. Und für diesen Auslöser, das zu erkennen, liebe ich Sie.

Drei von vier freiwilligen Veränderungsprozessen scheitern

Recherchiert man nach gelungenen und freiwilligen Veränderungsprozessen in Unternehmen, ähneln sich die Ergebnisse. Drei von vier freiwilligen Veränderungsprozessen scheitern. Also 75 Prozent. Das ist nicht so, wenn der Veränderungsprozess durch eine Notlage, einen großen Schmerz, erzwungen wird. Dann erhöhen sich die Chancen für eine gelungene Veränderung enorm.

Wann verändern Sie sich am liebsten? Aus einem Zwang, einem Schmerz, einer Krise heraus? Aufgrund einer Niederlage? Oder vielleicht mehr, weil Sie es wirklich wollen? Weil Ihr Wille, etwas Neues zu erschaffen, stark genug ist, um etwas Neues anzugehen? Weil Sie ein neues Ziel haben, für das sich Veränderung lohnt? Wenn dem so ist, warum verändern Sie sich dann nicht?

Pendeln zwischen Veränderung und Beständigkeit

Ich gebe etwas zu bedenken: Von Kindheit an sind wir ständig mit Veränderungen konfrontiert. Das liegt allein schon an der biologischen menschlichen Entwicklung. Und auch unser Lebenslauf entwickelt sich. Veränderung ist ein wesentlicher Aspekt menschlichen Daseins.

Demgegenüber steht ein weiterer Daseinsaspekt: Der Wunsch nach Sicherheit. Deshalb sucht der Mensch nach Inseln der Beständigkeit. So betrachtet, lässt sich die generelle Behauptung, dass Menschen veränderungsscheu sind, nicht aufrechterhalten. Sie pendeln zwischen den beiden Polen. Vielleicht haben sie ihre natürliche Veränderungskompetenz aufgrund von Ängsten verlernt. Die Angst hat gesiegt. Das sehen wir häufig im Alter. Im Alter sinkt das Motiv „freiwilliges Wachstum“ immer mehr. Ältere Menschen verändern sich oft nur noch, wenn sie müssen.

Lernen Sie, Sinn zu vermitteln!

Klar ist: Sich aus einer Position der Stärke, dem Sinn folgend, zu verändern, macht freier in den Entscheidungen und vergrößert den Handlungsspielraum, der in der Krise nur begrenzt existiert. Das Geheimnis der Proaktivität. Es gilt also, mehr Sinn herzustellen. Und dabei Krisen und Schmerzen aktiv zu vermeiden. Und damit meine ich nicht, sich abzuducken, wenn Krisen einmal da sind. Ich meine damit, sich ganz bewusst zu machen, wie sich Sinn erzeugen lässt.

In meiner Arbeit bringe ich praktisch täglich Veränderung zu Menschen. Und eins habe ich kapiert. Es gibt zunächst immer erst einmal Widerstand. Das darf uns nicht frustrieren. Wer Veränderung bringt, für den muss Widerstand am Anfang so normal sein wie Zähneputzen. Weil es die menschliche Natur ist. Wer hier entspannt bleibt, wird merken, dass die meisten ein bisschen Zeit brauchen, bis sie sich genauso energetisch für den Veränderungsprozess aufgeladen haben wie wir selbst. Wer das limitierende Märchen von der Veränderungsblockaden auflöst, wird schnell merken, wie gut das funktioniert. Das wünsche ich Ihnen von Herzen.


Über den Kolumnisten: Boris Grundl ist Führungskräftetrainer und gilt bei Managern und Managerinnen sowie Medien als "Der Menschenentwickler" (Süddeutsche Zeitung). Er ist Inhaber des Grundl Leadership Instituts, das Unternehmen befähigt, ihrer Führungsverantwortung gerecht zu werden. Dafür erforscht, testet und lehrt das Institut hochwertige, praxisrelevante Unterscheidungen - als Voraussetzung für Wahrnehmung und Erkenntnis.