Wege aus dem IT-Fachkräftemangel

Der IT-Fachkräftemangel wird für die Unternehmen in Deutschland zu einem immer größeren Problem. Trotz der Entlassungswellen bei großen Tech-Unternehmen, die auf ein Ende des Job-Booms hindeuten, bleibt der IT-Arbeitsmarkt in Deutschland wie leergefegt. Die Recruiting-Aktivitäten zu ver­stärken, hilft nur selten. Bessere Alternativen bieten der Einsatz von selbstständigen IT-Profis, einfacheres Coding oder Quali­fizierungen von Quereinsteigern.

Überall werden IT-Fachkräfte gesucht – nicht nur in Software-Unternehmen. Die Expertinnen und Experten werden dringend benötigt, um Apps und mobile Anwendungen zu programmieren, um Webdienste zu entwickeln und für die IT-Sicherheit zu sorgen. Laut dem Job- und Skill-Barometer von DGFP und Textkernel wurden 2021 über 1,46 Millionen Stellenanzeigen für die Berufsgruppe IT geschaltet. Das waren 35 Prozent mehr als im Vorjahr. Für das Jahr 2022, das zum Redaktionsschluss noch nicht vollständig ausgewertet war, sind weitere Steigerungen zu erwarten.

Der IT-Job-Boom in den USA ebbt ab

Die Nachfrage ist riesig, aber der deutsche IT-Arbeitsmarkt ist nahezu leergefegt. Da kommen die Nachrichten von großen US-Firmen eigentlich gerade recht: Der Facebook-Mutterkonzern Meta gab im November bekannt, 11.000 der insgesamt 87.000 Stellen abbauen zu wollen. Der Kurznachrichtendienst Twitter hatte nach der Übernahme durch Elon Musk Tausende Kündigungen ausgesprochen. Microsoft strich gut ein Prozent seiner 221.000 Stellen weltweit. Amazon teilte im Januar 2023 die geplante Streichung von über 18.000 Stellen mit. Ebenso haben viele kleinere Tech-Firmen und -Startups ihre Belegschaften ausgedünnt. 

Doch was auf ein Ende des IT-Job-Booms in den USA hindeutet, wird sich in Deutschland nicht in ähnlicher Form fortsetzen. Denn die genannten Entlassungswellen in den USA haben nicht unbedingt konjunkturell bedingte Gründe, sondern liegen unter anderem in Änderungen im Geschäftsportfolio oder bei Twitter an der Übernahme durch den kapriziösen Unternehmer Elon Musk. Allerdings wird auch hierzulande mit Blick auf die unsichere politische und wirtschaftliche Situation etwas vorsichtiger investiert: "Aktuell wird unternehmensintern insofern auf die Kostenbremse gedrückt, als dass der Return on Investment laufender Projekte stärker hinterfragt wird", so Andreas Sauer, Bereichsleiter Technology bei Hays.

Auch in Deutschland werden Stellen abgebaut, vereinzelt auch im Umfeld von Tech-Startups. Für diese Unternehmen ist es in der Anfangsphase immer wichtiger, die nächste Finanzierungsrunde für weiteres Wachstum zu schaffen, als Personal einzustellen. "Diese Entlassungen führen allerdings in Summe nicht automatisch zu mehr verfügbaren IT-Talenten am Markt. Denn meist werden hier Nachwuchs-IT-Kräfte entlassen, die noch über wenig Expertise verfügen", sagt Andreas Sauer. "Die Unternehmen brauchen allerdings aktuell wirklich gute und vielseitig erfahrene IT-Spezialistinnen und -Spezialisten, die IT- und Business-Zusammenhänge verstehen und daraufhin eine zukunftsfähige Infrastruktur aufbauen. Das können diese Youngsters noch nicht leisten. Erfahrene Techies werden von keinem Unternehmen vor die Tür gesetzt – und falls doch, verfügen sie über so gute Netzwerke, dass sie sofort wieder in einem neuen Projekt arbeiten", fasst er zusammen.

Auf dem Arbeitsmarkt sind also keine großen Veränderungen zu erwarten. "Trotz Krieg und Krisen: In Deutschland fehlen 137.000 IT-Fachkräfte", gab der Branchenverband Bitkom jüngst bekannt. Der Mangel an IT-Fachkräften habe sich im Jahresverlauf weiter verschärft und liege sogar höher als vor der Coronapandemie. Die Konsequenz laut Bitkom-Präsident Achim Berg: "Der Fachkräftemangel entwickelt sich zum Haupthindernis bei der digitalen Transformation." Und die Zukunft sieht nicht rosig aus: Im vergangenen Jahr haben nur noch 72.075 Menschen in Deutschland ein Informatik-Studium aufgenommen – 3.000 weniger als im Jahr 2020 und fast 6.000 weniger als 2019.

Wenig Glück im Ausland

Mehr als ein Drittel der Unternehmen (37 Prozent) würden laut Bitkom-Befragung IT-Fachkräfte aus Russland oder Belarus einstellen, sofern sie vorher eine behördliche Sicherheitsprüfung durchlaufen haben. Insgesamt gibt es ein Potenzial von 59.000 Stellen, die mit IT-Fachkräften aus diesen Ländern besetzt werden könnten. Aber tatsächlich hat erst ein Prozent der Firmen IT-Expertinnen oder -Experten aus Russland oder Belarus eingestellt. Oft scheitert das Vorhaben an bürokratischen Hürden. 

Leichter wäre es vielleicht, diejenigen IT-Fachleute anzusprechen, die gerade bei Twitter, Meta, Amazon et cetera ihren Job verloren haben. Doch so einfach ist das nicht, auf diesem Weg an neues IT-Personal zu kommen. Denn zum einen betreffen diese großformatigen Freisetzungen kaum IT-Fachkräfte, die in Deutschland beheimatet sind oder den Wunsch haben, hier zu arbeiten. Zum anderen sind die meisten dieser Leute Gehälter gewöhnt, mit denen viele Arbeitgeber in Deutschland nicht mithalten können. Darüber hinaus ist anzunehmen, dass von den Entlassungswellen der US-Firmen nicht unbedingt diejenigen Leute mit den aktuell gefragten Technologiekenntnissen betroffen sind. Die strategisch wichtigen Entwicklerinnen und Entwickler werden weiterhin gehalten. 

Das Vorhaben, IT-Fachkräfte aus anderen Ländern mit niedrigerem Lohnniveau anzuwerben, ist auch nicht unbedingt erfolgreich: IT-Spezialistinnen und -Spezialisten kennen ihren Wert, egal aus welchen Ländern sie ursprünglich kommen. Und die deutschen Arbeitgeber sind aus ihrer Sicht nicht mehr so attraktiv, wie das vielleicht früher noch der Fall war. Hohe Einstiegshürden, die deutsche Bürokratie, sprachliche Barrieren und stark angestiegene Lebenskosten halten viele von einem Umzug nach Deutschland ab. 

Remote-Tätigkeiten vom Heimatland aus sind auch kein allzu erfolgsversprechender Weg, denn die emotionale Einbindung von Mitarbeitenden, die nicht wenigstens ab und zu persönlich vor Ort sind, ist nur gering. Das führt dazu, dass schon das nächste etwas bessere Jobangebot die IT-Fachleute weiterziehen lässt. Der zeit- und kostenintensive Recruiting- und Einstellungsprozess startet von vorn.

Viele Firmen intensivieren ihr Recruiting

Im Durchschnitt bleibt eine offene Stelle für IT-Fachkräfte über sieben Monate unbesetzt. Das sind gut zwei Wochen länger als vor einem Jahr, hat der Bitkom-Verband ermittelt. Dabei verlassen sich die Unternehmen schon längst nicht mehr nur auf Stellenausschreibungen und Initiativbewerbungen, sondern ziehen möglichst viele Register, um die begehrten IT-Fachkräfte zu gewinnen: 61 Prozent übernehmen Praktikantinnen und Praktikanten (2021: 42 Prozent), 31 Prozent präsentieren sich auf Karrieremessen (2021: 24 Prozent), 22 Prozent setzen auf Headhunting (2021: 14 Prozent) und 21 Prozent nutzen Active Sourcing (2021: zwölf Prozent). Weitere zwölf Prozent versuchen, ihren Fachkräftebedarf durch die Übernahme freier Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in feste Anstellungsverhältnisse zu decken (2021: zehn Prozent).

IT-Personalnot frisst den Digitalisierungsfortschritt

Die IT fungiert schon seit einigen Jahren als Enabler und Schnittstelle für digitale technische Veränderungen, die gemeinsam mit den Fachbereichen auf den Weg gebracht werden. Fehlt hier auf lange Sicht wesentliches Know-how, können weder die IT-Legacy Systeme modernisiert noch neue Innovationsfelder erschlossen werden. Das versetzt dem ohnehin an vielen Ecken schleppend verlaufenden Digitalisierungsfortschritt einen gewaltigen Dämpfer. Laut des aktuellen Hays Fachkräfte-Index bezog sich die extrem hohe Vakanz im Bereich IT im dritten Quartal 2022 vor allem auf die Berufsbilder IT-Security Spezialist/-in, Datenbankentwicklung sowie IT-Architekten/-in. Zwar ist die Gesamtnachfrage im dritten Quartal 2022 um zwölf Prozentpunkte im Vergleich zum Vorquartal eingebrochen, aber das kann nicht über das hohe Niveau der offenen Stellen von noch weit über 100.000 hinwegtäuschen.

Alternative 1: Externes Know-how nutzen 

Doch es gibt bessere Möglichkeiten, an IT-Fachkräfte zu kommen, als die Recruiting-Bemühungen weiter zu intensivieren. Denn der Pool an verfügbaren Kräften wird nicht größer, ganz im Gegenteil. Eine gute Möglichkeit, IT-Know-how ins Haus zu holen und notwendige Digitalisierungsprojekte durchzuführen, ist der Einsatz von externen Kräften. Dass das viele Unternehmen erkannt haben, verdeutlicht der Nachfrage-Boom auf dem IT-Freiberuflermarkt. "Im ersten Halbjahr 2022 hatten wir 50 Prozent mehr Anfragen nach IT-Security-Experten, gemessen an der Situation im Vorjahr“, berichtet Alexander Raschke, Vorstand des auf Digit & IT-Freelancing spezialisierten Personaldienstleisters Etengo. „Am häufigsten wurde Know-how in den Bereichen Security Engineering, Websecurity, Vulnerability Management und Security Management im Cloud-Umfeld nachgefragt", sagt er. 

Hochqualifizierte IT-Freiberufler haben viel zu tun – und das aus gutem Grund. Immer weniger IT-Etagen gelingt es, in einer vertretbaren Zeit qualifiziertes IT-Personal für anstehende Projekte zu rekrutieren. Dabei treibt sie nicht etwa die Sorge um, den reinen Personalbedarf nicht mehr decken zu können. Vielmehr fehlt ihnen wichtiges Know-how, um ihre Wachstumsziele zu erfüllen. Damit wächst die Relevanz der Externen gleich in zweierlei Hinsicht: als Scharnier für neue Kompetenzen und zusätzlich als Verstärkung einer ohnehin überlasteten internen Belegschaft sowie explodierende Projektportfolios.

Dass sich der Anteil der Solo-Selbstständigen in IT-Organisationen derart ausweitet, bringt jedoch auch ein Risiko und damit erhöhte Compliance-Anforderungen mit sich: Soloselbstständige mit Dienstvertrag – also weder Arbeitnehmerüberlassung noch Festanstellung – dürfen zu keiner Zeit in die Arbeitsorganisation des Auftraggebers integriert werden oder Weisungen  erhalten. "Deshalb ist der Arbeitsauftrag oder der Leistungsumfang des Projektes genau zu spezifizieren, um rechtliche Fallstricke zu minimieren", sagt Alexander Raschke von Etengo. Der Spezialanbieter machte 2021 einen Umsatz von rund 131 Millionen Euro mit der Organisation freiberuflicher Projektarbeit im IT- und Digitalsektor.

Alternative 2: Low-Code-Entwicklung

Es gibt aber auch gute Nachrichten aus der IT: Programmieren wird einfacher, zum Beispiel durch Low-Code-Entwicklung, die das Erzeugen von Anwendungen durch einfaches Zusammenklicken vorgefertigter Bausteine ermöglicht. "Konfigurieren statt programmieren" lautet die Idee dahinter, die das Coding mit visuellen Hilfsmitteln ermöglicht – nicht mehr auf der Basis von Textzeilen. Darüber hinaus gibt es auch eine programmiercodefreie Entwicklung (No Code). Diese Entwicklungstechnik eignet sich für Personen, die weder Programmierkenntnisse noch -erfahrungen besitzen. Sie basiert ebenfalls auf einer einfach bedienbaren Entwicklungsumgebung mit grafischer Oberfläche, beschränkt sich aber auf einfache Anwendungen. Individuelle Anpassungen sind nur in begrenztem Umfang möglich. 

Seinen Ursprung hat dieser Trend in der Coronapandemie. Im Jahr 2021 wurde Low-Code-Entwicklung zunehmend aus Gründen der Zusammenarbeit, der Kostensenkung und der Geschwindigkeit eingesetzt. Heute beschleunigt Low Code die Entwicklung von Kundenportalen, Produktivitätsanwendungen und Unternehmenssoftware. Ziel ist es, die Flexibilität des Unternehmens zu erhöhen, die Einführung von Technologien zu erleichtern und Sicherheit von Beginn an in die Anwendungen mit einzubauen. Vier von zehn Unternehmen nutzen Low Code bereits für geschäftskritische Anwendungen, so die Studie "State of Low-Code in Key Verticals 2022" von Mendix. 

Die Unternehmen in Deutschland sind schnell auf die Low-Code-Technologie aufgesprungen und wollen sie auch in Zukunft nicht mehr missen. Die Mendix-Studie zeigt, dass die meisten Firmen bis 2024 eine häufigere Nutzung von Low Code als traditionelles Coding erwarten. Die Studie macht auch deutlich, dass sich Low Code in 69 Prozent der befragten Unternehmen von einer Krisentechnologie zu einer Kerntechnologie entwickelt hat. 94 Prozent dieser Unternehmen nutzen Low Code. Im Jahr zuvor waren es nur 77 Prozent.

Alternative 3: Quereinsteiger qualifizieren

Der zunehmende Einsatz von Low Code ist nicht der einzige Lichtblick im IT-Fachkräftemangel. Denn immer mehr Unternehmen setzen auf alternative Einstiegswege in die IT. Sie fragen sich, ob es wirklich das Hochschulstudium Software Engineering oder Wirtschaftsinformatik sein muss, damit jemand für sie als Anwendungsentwickler, Webentwicklerin oder IT-Security-Consultant oder Datenbankspezialistin tätig werden kann. Ist eine gezielte Weiterbildung von Menschen mit IT-Affinität nicht vielleicht eine gute Alternative? 

Diese Frage mit "Ja" beantworten können zahlreiche bekannte Unternehmen, unter anderem SAP. Das Softwareunternehmen startete Ende 2022 eine Partnerschaft mit der Online-Lernplattform Coursera. Diese entwickelte zum Beispiel ein Zertifikat zum "SAP Technology Consultant", das aus sieben Kursen besteht und die Teilnehmer befähigen will, ein tieferes Verständnis für das SAP-Netzwerk zu erlangen. Darüber hinaus stockte das Unternehmen das Kursangebot auf seiner Learning-Webseite auf. Damit sollen die Chancengleichheit gefördert und der Zugang zu kostenlosen Lernangeboten erhöht werden, damit sich Interessenten gezielt auf eine Laufbahn innerhalb des SAP-Ökosystems vorbereiten können. Zudem setzt SAP auf Low Code, damit die Nutzerinnen und Nutzer aus den Unternehmen eigene Anwendungen selbst erstellen können. 

Jeder kann programmieren lernen

Dass man dem IT-Fachkräftemangel begegnen kann, indem man das Potenzial nutzt, das bereits im Land ist – Menschen mit IT-Affinität aber ohne spezifische Entwicklerausbildung – erkennen immer mehr Unternehmen. Zu nennen sind hier Firmen wie Volkswagen, Cariad, Bayer, Microsoft et cetera, die eine der drei Schulen 42 unterstützen. Auch SAP ist als Partner mit dabei. Diese Programmierschulen verzichten ganz bewusst auf Eingangshürden wie einen ersten Hochschulabschluss. Das Softwareunternehmen Datev hat für sich einen eigenen Weg gefunden. Und auch für Arbeitgeber, die nicht groß genug sind, eine eigene IT-Weiterbildung zu etablieren, gibt es zahlreiche Möglichkeiten. 

Ein Beispiel ist Yakha, Gewinner des HR Innovation Awards in der Kategorie "Recruting und Attraction". Der Anbieter hilft Unternehmen, ihren Talentpool an IT-Fachkräften zu vergrößern, indem es Quereinsteiger anspricht, passende Kandidatinnen und Kandidaten in einem anspruchsvollen Prozess und anschließend in einem 14-monatigen Traineeship weiterqualifizert. 

Dieser Beitrag ist zuvor erschienen in Personalmagazin Ausgabe 3/2023. Lesen Sie das gesamte Heft auch in der Personalmagazin-App.


Das könnte Sie auch interessieren:

Weiterbildung gegen den Fachkräftemangel

Wenn Babyboomer sichtbare Lücken reißen

Mehr als 300.000 MINT-Fachkräfte fehlen