Tight-Loose-Tight als Führungsprinzip
Das Team läuft in unterschiedliche Richtungen, niemand übernimmt Verantwortung, bei jeder Kleinigkeit fragen die Mitarbeitenden nach – der Alltag vieler Führungskräfte ist davon geprägt, ständig Entscheidungen treffen zu müssen. Die eigentliche Arbeit bleibt liegen. Diese Situation kennt auch die Leiterin eines Content-Teams einer Zeitung. "Eigentlich möchte ich ja Freiraum geben. Ich will ein selbstständig arbeitendes Team haben, aber ständig muss ich irgendwo draufschauen und Feedback geben. Manchmal geht es schneller, wenn ich es selbst erledige. Ich glaube, mein Team ist nicht reif für Eigenverantwortung."
Was ist Tight-Loose-Tight?
Das Modell "Tight-Loose-Tight" kann Führungskräften in solchen Situationen helfen. Dieses Führungsprinzip, das aus Norwegen stammt und von Rune Ulvnes entwickelt wurde, schafft eine Balance zwischen klarer Führung und notwendiger Flexibilität.
Tight-Loose-Tight beschreibt drei aufeinanderfolgende Phasen in der Führung.
Tight (Enges Festlegen)
In der ersten Phase geht es nicht um das Setzen klarer Ziele, sondern darum, Hypothesen für die Lösung komplexer, noch ungelöster Probleme zu entwickeln. Diese Phase beinhaltet folgende Schritte:
- Problembeschreibung: Das Problem wird klar umschrieben, um es tiefgehend zu verstehen und alle Einflussfaktoren zu identifizieren.
- Erstellen von Hypothesen: Basierend auf der Problemanalyse entwickeln Führungskräfte gemeinsam mit dem Team Hypothesen darüber, welche Ansätze oder Maßnahmen zur Lösung beitragen könnten. Diese werden im Verlauf des Prozesses getestet und validiert.
- Rahmenbedingungen festlegen: Die Führungskraft kommuniziert Rahmenbedingungen wie Budget, Zeit, Kundenvereinbarungen oder andere äußere Einflüsse, um die Grenzen zu definieren, innerhalb derer das Team operiert. Dieser Rahmen sorgt dafür, dass die anschließende kreative Arbeit in eine sinnvolle Richtung gelenkt wird.
Ziel dieser ersten Tight-Phase ist es, einen strukturierten Ausgangspunkt zu schaffen, von dem aus das Team frei explorieren kann, ohne sich im Unklaren zu verlieren. Die Hypothesen bieten Leitplanken, sind jedoch flexibel genug, um während des Prozesses angepasst oder verworfen zu werden.
Loose (Loslassen)
Diese Phase zeichnet sich durch folgende Aspekte aus:
- Autonomie und Entscheidungsfreiheit: Die Mitarbeitenden bekommen den Freiraum, eigenständig zu arbeiten und Entscheidungen zu treffen. Dies ermöglicht ihnen, kreativ zu denken und innovative Ansätze zu entwickeln.
- Kreative Problemlösung: Da die Lösungswege nicht strikt vorgegeben sind, können die Teammitglieder unterschiedliche Ansätze ausprobieren, neue Ideen einbringen und auf unkonventionelle Weise an die Problemstellung herangehen.
- Eigenverantwortung: Die Mitarbeitenden übernehmen Verantwortung für ihre Arbeitsergebnisse. Sie stehen dafür ein, wie sie die Hypothesen überprüfen, was zu stärkerem Engagement und höherer Motivation führt.
- Erkundung und Experimente: Durch das Testen der Hypothesen ist dies eine Phase des Lernens, in der Irrtümer als Teil des Prozesses betrachtet werden und wertvolle Erkenntnisse liefern.
- Flexibilität und Anpassung: Da die Mitarbeiter in dieser Phase die Freiheit haben, ihren eigenen Weg zu wählen, können sie flexibel auf Veränderungen und neue Informationen reagieren. Sie haben die Möglichkeit, ihre Ansätze kontinuierlich zu verbessern und anzupassen.
Die Loose-Phase ermöglicht den Mitarbeitenden, ihre Fähigkeiten voll einzubringen und eigenverantwortlich zum Erfolg beizutragen. Diese Phase ist entscheidend, um innovative Lösungen zu entwickeln und das Potenzial des Teams optimal zu nutzen.
Tight (Enges Nachfassen)
In der zweiten Tight-Phase geht es nicht um die Überprüfung von Ergebnissen, sondern um die tiefgehende Reflexion über das Gelernte. Diese Phase umfasst die folgenden Schritte:
- Überprüfung der Hypothesen: Basierend auf den während der Loose-Phase gewonnenen Erfahrungen und Ergebnissen überprüft das Team gemeinsam mit der Führungskraft, welche der ursprünglich formulierten Hypothesen zutreffend waren und welche nicht. Dies beinhaltet die Analyse der getroffenen Entscheidungen und deren Auswirkungen auf das Problem.
- Reflexion über das Gelernte: Gemeinsam reflektieren sie darüber, was im Prozess gut funktioniert hat und was nicht, welche neuen Einsichten gewonnen wurden und welche Überraschungen auftraten.
- Anpassung des Ausgangspunkts: Auf Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse überprüfen sie den Ausgangspunkt – also die anfängliche Problembeschreibung und die formulierten Hypothesen – und passen sie gegebenenfalls an.
- Planung der nächsten Schritte: Abschließend legen sie die nächsten Schritte fest, die auf dem Gelernten basieren. Dies kann bedeuten, dass sie neue Hypothesen formulieren, alternative Lösungsansätze erkunden oder die bisherigen Erfolge weiter ausbauen.
Das Ziel dieser zweiten Tight-Phase ist es, aus den bisherigen Erfahrungen zu lernen und die Grundlage für zukünftige Entscheidungen zu optimieren. Diese Phase dient der kontinuierlichen Verbesserung.
Tight-Loose-Tight: Balance zwischen Struktur und Flexibilität
Das Modell löst Probleme, mit denen Führungskräfte täglich konfrontiert sind. Es hilft, Übersteuerung und Mikromanagement zu vermeiden, die häufig auftreten, wenn Führungskräfte sich zu sehr in operative Details verlieren und ihren Teams nicht genügend Vertrauen entgegenbringen. Gleichzeitig verhindert es die "Freiraumfalle", in der Teams ohne klare Richtung arbeiten und wertvolle Ressourcen verschwenden.
In diese war oben beschriebene Führungskraft aus dem Content-Team getappt. Sie hatte ihre Teammitglieder verunsichert, weil sie keine klare Richtung und keine definierten Rahmen für die Arbeitsergebnisse vorgegeben hatte. Deswegen mussten ihre Mitarbeiter häufig nachfragen. Nachdem sie ihren bisherigen "Loose-Loose-Loose"-Führungsansatz hin zu Tight-Loose-Tight geändert hatte, war den Mitarbeitern klar, was Aufgabe und Ziel sind und die Nachfragen hörten auf. Sie bekam als Führungskraft wieder Zeit und Raum für ihre eigene Arbeit.
Tight-Loose-Tight erfordert von Führungskräften die besondere Fähigkeit, die richtige Balance zwischen Führung und Loslassen zu finden. Dies ist kein einfaches Unterfangen. Klarheit in der Kommunikation, Vertrauen und Delegation, Flexibilität und Offenheit, konstruktives Feedback sowie Geduld und Resilienz sind Fähigkeiten, die keine Voraussetzung sind, aber zum Gelingen von Tight-Loose-Tight beitragen. Da das Modell stark auf Teamarbeit setzt, müssen Führungskräfte außerdem in der Lage sein, eine kooperative und unterstützende Teamkultur zu fördern.
Anwendungsmöglichkeiten des Tight-Loose-Tight-Modells
Tight-Loose-Tight greift, wo klassische Managementprinzipien versagen – in einem komplexen und dynamischen Arbeitsumfeld. Wenn sich Anforderungen schnell ändern und die richtigen Antworten nicht immer offensichtlich sind, bietet dieses Modell die nötige Flexibilität und Anpassungsfähigkeit.
Zahlreiche norwegische Unternehmen und Behörden nutzen es bereits: von der Polizei, über die Kirche bis zum Gesundheitswesen ist Tight-Loose-Tight im Einsatz. Der Telekommunikationsanbieter Telenor hat es sogar weltweit als generelles Führungsprinzip eingeführt. Auch in Deutschland hält der norwegische Ansatz Einzug: In Kindergärten, Zeitungsverlagen und in der Musikproduktion hat er bereits erfolgreich Anwendung gefunden.
Tight-Loose-Tight ist aber nicht für alle Kontexte die richtige Wahl. Wenn Stabilität und Vorhersehbarkeit im Vordergrund stehen, etwa in der Qualitätskontrolle, im Fertigungsbereich oder bei stark regulierten Prozessen, ist eine klare und strukturierte Steuerung effektiver. Feste Vorgaben, standardisierte Abläufe und engmaschige Kontrollen sind dort unerlässlich, um Effizienz und Zuverlässigkeit sicherzustellen.
Fazit: Tight-Loose-Tight kombiniert Struktur und Flexibilität. Das Modell ermöglicht es Führungskräften, ihre Teams effektiv durch unsichere Zeiten zu führen und gleichzeitig Raum für Kreativität und Innovation zu schaffen.
Dieser Beitrag ist erschienen in Personalmagazin 11/2024. Als Abonnent haben Sie Zugang zu diesem Beitrag und allen Artikeln dieser Ausgabe in unserem Digitalmagazin als Desktop-Applikation oder in der Personalmagazin-App.
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