Wenn Babyboomer sichtbare Lücken reißen

Dass viele Unternehmen das demografische Schwert trifft, wenn sich fast 13 Millionen Babyboomer in den kommenden 15 Jahren aus der Arbeitswelt verabschieden, ist bekannt, wurde oft aber nur als statistischer Papiertiger angesehen. Nun erleben viele Arbeitgeber, dass Baby­boomer reale Menschen sind, die ihnen fehlen werden, und denken langsam um. Ein Blick in die Praxis.

Bis vor kurzem galt: Mussten Unternehmen restrukturieren oder sparen, gerieten die Babyboomer schnell in den Fokus. Viel Geld floss, um sie zu verabschieden. Zudem nutzten sie Altersteilzeitprogramme, um Ältere vor ihrem offiziellen Ruhestand loszuwerden. "Heute können und wollen es sich die meisten Betriebe schlicht nicht mehr leisten, weder finanziell noch personell, ältere Mitarbeitende früher zu verabschieden", konstatiert Marion Rövekamp, stellvertretende Vorstandsvorsitzende bei der DGFP sowie Vorständin Personal und Recht bei der EWE AG. In Anbetracht des Fachkräftemangels führe dies in eine Sackgasse. Auch für Oliver Burkhard, Vorstand Personal ThyssenKrupp AG, sind Altersteilzeitprogramme und Vorruhestandslösungen "vielfach keine zeitgemäße Lösung" mehr.

Vom Tisch sind beide Instrumente nicht. Viele Unternehmen ermöglichen ihren Babyboomern nach wie vor Altersteilzeit auf Basis betrieblicher oder tarifvertraglicher Regelungen. Und sie bieten auf freiwilliger Basis Wege in den Vorruhestand an.

Demografische Entwicklung verschlafen?

Beim Maschinenbauer Trumpf können Babyboomer über dessen flexible Arbeitszeitgestaltung in den Ruhestand gleiten. Hierzu dient Trumpfs Modell der Wahlarbeitszeit. In ihm legen Mitarbeitende jährlich ihre Wochenarbeitszeit von 15 bis 40 Stunden fest: "Die Option, ihre Arbeitszeit je nach Bedarf zu reduzieren, erleichtert vielen den Übergang in Altersteilzeit und Rente", beobachtet Oliver Maassen, Vorstand und CHRO bei Trumpf.

Doch was sind die Alternativen? Bisher haben die meisten Unternehmen zu wenig unternommen, um den Babyboomern Wege zur Weiterbeschäftigung nach dem Renteneintritt aufzuzeigen und um ihr Know-how in den Betrieben zu bewahren. Das sei vor allem ihrer jahrelang abwartenden Haltung geschuldet, meint Professor Dr. Jutta Rump vom Institut für Beschäftigung und Employability (IBE): "Sie wussten, was auf sie zukommt. Aber ihr operatives Tagesgeschäft und zu bewältigende Krisen haben die demografische Dramatik stets überdeckt", sagt sie. Die Bilanz von Professor Dr. Peter M. Wald, von der HTWK Leipzig, fällt noch kritischer aus: "Viele Unternehmen betreiben bis heute eine Vogel-Strauß-Politik und gehen den Problemen des demografischen Wandels sehenden Auges aus dem Weg." Vor allem Konzerne würden ihre organisatorischen Hebel nutzen, um die demografische Entwicklung zu kompensieren.

In kleinen Unternehmen sieht es laut Dr. Monika V. Kronbügel vom Bundesverband der Personalmanager (BPM) anders aus: "Sie erleben hautnah, was es bedeutet, wenn Babyboomer gehen und kümmern sich um Strategien, damit konstruktiv umzugehen."

Kompetenzen und Alters­struktur im Blick behalten

Lassen zu viele Unternehmen die demografische Entwicklung einfach so geschehen, statt aktiv zu werden und zu handeln? Das Bild ist nicht einseitig, sondern vielschichtig. Gerade Unternehmen mit einer höheren Altersstruktur bewegen sich und betrachten ihre Daten mittlerweile genauer: "Neben der Altersstruktur haben wir für einzelne Bereiche analysiert, welche Kompetenzen wir in den nächsten drei Jahren verlieren", berichtet Oliver Maassen. Darüber hinaus prüfe der Maschinenbauer jährlich, wo Mitarbeitende demnächst in Rente gehen werden, um geeignete Maßnahmen zu starten, sagt er.

Der Versicherungskonzern Axa macht es ähnlich: "Wir analysieren laufend die Entwicklung unserer Alterspyramide und richten unsere Personalstrategie und -maßnahmen entsprechend langfristig aus", führt Sirka Laudon, Vorständin People Experience bei Axa Deutschland, aus. Auch Continental erhebt innerhalb einer vorausschauenden strategischen Personalplanung regelmäßig den Personalbedarf für die kommenden Jahre.

Für Jutta Rump führt an einer strategischen Personalplanung ohnehin kein Weg mehr vorbei: "Viele Unternehmen haben ihre Kapazitäten operativ geplant. Unter dem heutigen Druck müssen sie ihre Personal- und Kompetenzplanung endlich strategisch angehen." Neben einer strategischen Personalplanung setzt die DZ-Bank insbesondere auch auf ihre Führungskräfte. Deren Aufgabe ist es, die Qualifikation und Altersstruktur ihrer Teams im Blick zu haben und sie in die Dialoge mit ihren Vorständen einzubringen.

(Wie der Kompetenztransfer in der Praxis aussehen kann, lesen Sie hier: Sechs Wege für den Kompetenztransfer von älteren zu jüngeren Arbeitnehmenden).

Babyboomer: Mentorenprogramme sind im Kommen

Zudem führen mehr und mehr Betriebe Mentorenprogramme ein, um Wissen an andere weiterzugeben. Hier stehen Senioren ihren Nachfolgern oder Jüngeren beratend zur Seite. Doch es läuft auch in beide Richtungen: Bei Axa bilden Mitarbeitende verschiedener Generationen für ein halbes Jahr Tandems, um voneinander zu lernen. Auch die DZ-Bank hat Mentorensysteme etabliert, um Erfahrungen über Generationen hinweg auszutauschen wie beispielsweise ein Reverse-Mentoring, bei dem erfahrene Kolleginnen und Kollegen von Jüngeren lernen. Auch bei diesen Programmen heben sich laut Monika V. Kronbügel mittelständische Unternehmen hervor: "Sie handhaben die Mentoring-Modelle viel strukturierter. Bei Konzernen schlagen leider häufig mangelnde Bindung und Anonymität ihrer Organisationen negativ zu Buche."

Für das Energieunternehmen EWE geht es vor allem darum, das Wissen der Älteren zu bewahren: "Dafür haben wir einen Ansatz entwickelt, um die Wissensübergabe individuell und persönlich zu organisieren", schildert Marion Rövekamp. In ihrer Rolle im DGFP-Vorstand nimmt sie wahr, dass Unternehmen noch zu selten auf digitale Wissensplattformen setzen, um das Know-how auch der Älteren für sich zu sichern.

Keine speziellen Gesprächsformate für ältere Mitarbeitende

Für den Umgang mit Babyboomern setzen die Unternehmen in erster Linie die vorhandenen HR-Instrumente ein. Das zieht sich wie ein roter Faden durch die Aussagen der HR-Verantwortlichen. Eigene Gesprächsformate, wie ältere Mitarbeitende ihre letzten Berufsjahre gestalten wollen, finden so gut wie nie in den Unternehmen statt. Vielmehr ist dieses Thema in die üblichen Personalgespräche mit den Vorgesetzten integriert: "Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sich Menschen dieser Generation als gleichwertige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wohl bei uns fühlen und nicht besonders behandelt werden möchten", erläutert Gabriele Fanta, Personalchefin von Körber. Ähnlich setzen dies ihre Kolleginnen und Kollegen aus anderen Unternehmen um: "Das Thema wird in den Geschäften transparent in Personal- und Regelterminen gemeinsam mit den Mitarbeitenden adressiert", sagt Oliver Burkhard.

Beim Lernen unterscheiden die Unternehmen ebenfalls nicht (mehr) nach Altersgruppen. Alle werden gleichbehandelt, betonen die HR-Verantwortlichen unisono. So bietet Continental mit dem unternehmenseigenen Institut für Technologie und Transformation (CITT) ziel- und bedarfsgerechte Weiterbildungs- und Qualifizierungsangebote an – das Alter spielt dabei keine Rolle. Und auch Vodafones neue Lern- und Entwicklungsplattform unterstützt die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unabhängig ihres Alters beim lebenslangen Lernen. Ergänzend dazu greift das Telekommunikationsunternehmen Altersdiversität aktiv auf. "Über Workshops ermöglichen wir es unseren Mitarbeitenden jeden Alters, über ihre derzeitige Lebensphase zu reflektieren", erklärt Felicitas von Kyaw, Personalgeschäftsführerin bei Vodafone.

Diversity gilt auch für das Alter

Darüber hinaus scheinen sich in Unternehmen gemischte Teams durchgesetzt zu haben: "Verschiedene Generationen kommunizieren unterschiedlich und haben auch unterschiedliche Lösungsideen für neue Problemstellungen", sagt Gabriele Fanta. Damit sind sie erfolgreicher, ergänzt Nicole Herrfurth, CHRO bei der Elektrobit Automotive GmbH: "Alles, was einseitig ist, fährt gegen die Wand. Vielfältige Teams, in denen Babyboomer genauso viel wert sind wie die Generation Y, erzielen bessere Ergebnisse", schildert sie ihre Erfahrung.

Was aber passiert nach ihrem Renteneintritt mit den Babyboomern? Denken die Unternehmen aufgrund des Fachkräftemangels um? Laut Peter M. Wald ist es "noch eher die Ausnahme denn die Regel", dass sie weiterarbeiten. Trotzdem bewegt sich etwas jenseits des Vorzeigebeispiels Bosch Management Support, das bereits seit 1999 besteht und heute über 1.700 Seniorexpertinnen und -exper­ten weltweit vermittelt.

Senior Experts bringen Mehrwert ins Unternehmen

Thyssenkrupp hat mit der Senior Experts GmbH eine interne Personalagentur etabliert, die ehemalige Beschäftigte für temporäre Einsätze vermittelt. Seither wurden intern bereits rund 500 Senior Experts – in den meisten Fällen handelt es sich um Ingenieure – eingesetzt: "Die Resonanz ist bei den Unternehmen und den Senior Experts sehr gut. Wir werden dieses Engagement angesichts des demografischen Wandels daher weiterentwickeln", stellt Oliver Burkhard fest.

Bei Continental werden verrentete Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter für befristete Projekte eingesetzt oder zur Überbrückung von Elternzeitvertretungen und Sabbaticals. Bei der DZ Bank klären Rentnerinnen und Rentner mit ihrer Führungskraft, ob sie weiterarbeiten wollen. Auch Vodafone beschäftigt einige Mitarbeitende über die Altersgrenze hinaus: "Inwieweit wir in Zukunft stärker darauf zurückgreifen, hängt sowohl von unserer internen Entwicklung als auch den externen Arbeitsmärkten ab", blickt Felicitas von Kyaw nach vorn. Bei Axa binden sich ebenfalls vereinzelt Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter über ihr Renteneintrittsalter hinaus an das Unternehmen. Das Gros der Unternehmen sieht jedoch in den rechtlichen Rahmenbedingungen zu hohe Hürden. Um dies flächendeckender zu nutzen, wäre der Gesetzgeber gefragt, "indem er flexible Arbeitsmodelle für Rentnerinnen und Rentner fördert und ihr Zubrot steuerlich vergünstigt," schlägt Peter M. Wald vor.

Den Abschied der Babyboomer im Blick

Was bleibt nach dem kleinen Streifzug festzuhalten? Die Unternehmen in Deutschland sind sich des Abschieds der Babyboomer deutlicher bewusst als noch vor wenigen Jahren. Ob sie eigene Maßnahmen ergreifen, hängt in den meisten Fällen davon ab, wie sich ihre spezifische Altersstruktur darstellt. In vergleichsweise jungen Belegschaften hat das Thema wenig Relevanz, bemerkt Nicole Herrfurth: "Es ist kein größeres Thema für uns. Wir sind eine junge Organisation und nur vereinzelt gehen Mitarbeitende in Rente."

Über allen Maßnahmen steht jedoch: Ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind heute in aller Regel voll und gleichbehandelt in die großen Themen der Unternehmen – Diversity, lebensphasenorientierte Personalarbeit, flexible Arbeitszeitmodelle und lebenslanges Lernen – integriert. Künftig geht es daher um ein smartes Generationenmanagement für alle.


Dieser Beitrag ist in Personalmagazin Ausgabe 1/2023 erschienen. Lesen Sie das gesamte Heft auch in der Personalmagazin-App.