Ohne Ruhepause treiben wir Beschäftigte  in den Burn-out

Steigende Energiepreise und stockende Lieferketten setzen den Werkstoffhersteller Covestro wirtschaftlich unter Druck, gleichzeitig soll die Transformation zur Kreislaufwirtschaft gelingen. Steigt nun der Leistungsdruck auf die Beschäftigten? Sophie von Saldern, Global Head of Human Resources, gibt Einblicke in ihre Strategie und verrät, weshalb der Leistungs­begriff eine positivere Betrachtung verdient.

Personalmagazin: Die Konjunktur schwächelt, es droht eine Rezession. Viele Unternehmen fahren Programme zur Kostensenkung. Sehen Sie vor diesem Hintergrund eine Renaissance des Performance Managements?

von Saldern: Ich würde nicht von einer Rückkehr des Leistungsmanagements sprechen, denn es war nie weg. Natürlich stehen wir durch die verschiedenen Krisen aktuell unter einem besonderen wirtschaftlichen Druck. Was sich aus meiner Sicht ändern muss, ist der Blick auf das Thema Leistung. Da haben wir uns als Personaler in den letzten Jahren mit manchen Ansätzen keinen Gefallen getan. 

Neue Ansätze im Performance Management nötig

Personalmagazin: Welche Ansätze halten Sie für ungeeignet?

von Saldern: Für besonders problematisch halte ich das Labeling von Menschen etwa als Low und High Performer. Da werden Individuen in Schubladen gesteckt und nach Standardprozessen behandelt. Das widerspricht meinem Menschenbild als Personalentwicklerin. Ich bin überzeugt, dass unter den richtigen Bedingungen grundsätzlich alle Menschen leistungsbereit sind.  

Personalmagazin: Sie sind Optimistin.

von Saldern: Ich habe ein positives Menschenbild. Nehmen wir ein Beispiel: Eine Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter erhält in einer Leistungsbewertung acht von zehn Punkten von der Führungskraft. Motiviert das? Im Gegenteil! Das nimmt der Person eher die Energie, als dass es sie ermutigt, besser zu werden. Deshalb halte ich Ansätze im Performance Management, die Skalierungen und Zahlenfolgen für gänzlich ungeeignet. 

Personalmagazin: Welche Alternative haben Sie, Menschen zu Leistung zu motivieren?

von Saldern: Bei Covestro folgen wir der Grundannahme, dass Leistung Spaß macht. Für viele Menschen ist das Gefühl, etwas geleistet zu haben, hochgradig befriedigend. Es macht stolz. Also schauen wir, wie wir die Leistungsbereitschaft unserer Beschäftigten fördern können. Wie vermitteln wir Menschen, dass Leistung Spaß macht? Welche Rahmenbedingungen müssen wir schaffen? Wie sorgen wir dafür, dass unsere Mitarbeitenden morgens gerne zur Arbeit kommen?

Messbarkeit ist in HR nicht alles

Personalmagazin: Sie halten wenig von Messbarkeit. Damit widersprechen Sie der Annahme vieler Personalverantwortlichen, die überzeugt sind, HR müsse datengetriebener arbeiten, um als Unternehmensfunktion ernstgenommen zu werden. 

von Saldern: Ich halte viel davon, das Richtige zu messen. Natürlich brauchen wir Kennzahlen. Wir führen dreimal jährlich eine Pulsbefragung unter unseren Beschäftigten durch. Die Trendverläufe daraus sind sehr aufschlussreich. Nur sollten wir uns kritisch hinterfragen, wo es wirklich sinnvoll ist, beispielsweise Leistung quantitativ zu bewerten. Nicht alles, was wir messen können, bringt uns wirklich weiter.

Personalmagazin: Für manche Menschen ist Arbeit ein Mittel zum Zweck: den Lebensunterhalt zu sichern. Warum sollten sie mehr leisten, als wofür sie bezahlt werden?

von Saldern: Dem stimme ich zu. Arbeit dient ein Stück weit auch dem Überleben. Wenn wir einen Schritt weiter gehen, stellt sich aber schon die Frage, ob das, womit ich acht Stunden meines Tages verbringe, mir sinnvoll erscheint. Diese Überlegung halte ich bei der Karrierefindung für entscheidend. Und ich habe den Eindruck, dass die Menschen bei Covestro schon von unserer Vision erfüllt sind. 

Personalmagazin: Gilt das auch außerhalb der Büros für die Mitarbeitenden in Produktion?

von Saldern: Ja. Unser Konzern hat sich der Nachhaltigkeit verschrieben. Das ist für alle Mitarbeitenden ein Thema, das Identität schafft und sie an unser Unternehmen bindet. 

Auf das richtige Arbeitsumfeld kommt es an

Personalmagazin: Wie würden Sie Ihren Ansatz des Leistungsmanagements beschreiben?

von Saldern: Grundlegend ist die Frage, was Menschen brauchen, um leistungsfähig zu sein. Als Unternehmen müssen wir ein Umfeld schaffen, das Menschen zur Leistung motiviert. Wir müssen aber auch realistisch sein. Ein Mensch kann nicht jeden Tag Spitzenleistung erbringen. Erstens kann das von Tag zu Tag schwanken und zweitens ist das von den wechselnden Anforderungen abhängig. Von unseren Führungskräften erwarten wir, dass sie das im Umgang mit ihren Mitarbeitenden reflektieren und entsprechend handeln. 

Personalmagazin: Für viele Führungskräfte heißt Leistungsbereitschaft auch, Überstunden zu machen. In der Debatte über New Work wird manchmal der Eindruck erweckt, dass Karriere machen auch ohne Überstunden geht.

von Saldern: Ja, ich denke, dass ein Großteil der Führungskräfte ihre Leistungsbereitschaft auch durch erhöhten Einsatz ausdrückt. Wir als HR sehen das anders und sind der Überzeugung, dass die oder der bis zur Erschöpfung arbeitende Mitarbeitende ein Auslaufmodell ist. 

"Ohne Ruhepause treiben wir unsere Beschäftigten ins Burn-out." - Sophie von Saldern

Personalmagazin: Sie selbst waren Profibasketballspielerin und haben 106 Spiele für das deutsche Nationalteam absolviert. Wie hat das Ihre Sicht auf das Thema Leistung geprägt?

von Saldern: Im Sport habe ich gelernt, dass es Ruhepausen braucht, um Topleistungen bringen zu können. Das lässt sich auf das Unternehmen übertragen. Ohne Ruhepause treiben wir unsere Beschäftigten ins Burn-out. Das gilt auch für Führungskräfte, Pausen sind auf jedem Level möglich und nötig. 

Führung in Teilzeit: Auch das Topmanagement muss flexibel sein

Personalmagazin: Klappt das auch in der Praxis?

von Saldern: Wir arbeiten daran. Der Glaubenssatz, sich für nicht entbehrlich zu halten, ist leider immer noch verbreitet. Doch er ist falsch. Jeder ist entbehrlich, jeder darf in Urlaub gehen. Nur so bleiben wir als Organisation gesund und leistungsfähig. Das Berufsleben ist ein Marathon, kein Sprint. 

Personalmagazin: Viele Unternehmen werben mit Führung in Teilzeit. Das Topmanagement scheint sich davon bisher kaum angesprochen zu fühlen. Wie ist das bei Ihnen?

von Saldern: Wir haben sehr viele Führungskräfte in Teilzeit, auf dem obersten Level aber weniger. Bei Teilzeit kommt es auf die Menge an. Mit 90 oder 80 Prozent ist das auch auf höchster Ebene machbar. Bei 50 Prozent geht das nur mit Shared Leadership, da der Verantwortungsumfang in Summe einer Vollzeitstelle entspricht.  

Personalmagazin: Shared Leadership bedeutet für HR einen Zusatzaufwand. Lohnt sich das?

von Saldern: Ja. Denn es geht auch um die Frage, wer wir als Arbeitgeber sein wollen. Dazu gehört auch, uns dem gestiegenen Bedürfnis nach Flexibilität anzupassen. 

Jeder ist entbehrlich, jeder darf in Urlaub gehen. Nur so bleiben wir als Organisation gesund und leistungsfähig. - Sophie von Saldern

Personalmagazin: Bei vielen Unternehmen steht die CO2-Neutralität als oberstes Ziel auf der Agenda. Welchen Beitrag können Sie als Personalerin dazu leisten?

von Saldern: Über verschiedene Bausteine, zum Beispiel über Compensation und Benefits. Wir beteiligen unsere Mitarbeitenden jährlich über ein konzernweites Bonusprogramm mit einer einheitlich berechneten Bonuszahlung am Erfolg des Unternehmens. Ab dem Jahr 2022 wurde eine Nachhaltigkeitskomponente zusätzlich zu den finanziellen Leistungskriterien vereinbart. Mitarbeitende und Führungsfunktion haben seit 2021 in ihrem Vergütungsprogramm eine Nachhaltigkeitskomponente, die ein Reduktionsziel für die Emission von CO2 und anderen Treibhausgasen wie beispielsweise Lachgas umfasst.

Transformation klappt nur mit informierten Mitarbeitenden

Personalmagazin: Welche Möglichkeiten haben Sie noch?

von Saldern: Je besser sich unsere Mitarbeitenden selbst aufgestellt fühlen in puncto Kompetenz, Fertigkeit und Wissen, desto besser können sie die Transformation verstehen und ihr positiv entgegensehen. Indem wir uns der Kreislaufwirtschaft verschreiben, ergibt sich daraus auch ein Bildungsauftrag gegenüber unserer Belegschaft. Wir müssen sicherstellen, dass das dafür notwendige Wissen bei 18.000 Menschen vorhanden ist. Insofern ist das Thema Skills of the Future, Ausbildung, Weiterbildung und Lernen, für mich der Dreh- und Angelpunkt dieser Workforce Transformation. 

Personalmagazin: Wie wollen Sie 18.000 Menschen zum Lernen animieren?

von Saldern: Das passiert auf unterschiedlichen Ebenen. Nicht jedes Lernen muss geplant sein. Wo liegt der Unterschied zwischen Erfahrungen aus einem Projekt und Lernen? Lediglich in der Reflexion. Ein Großteil passiert im Job. Darüber hinaus bieten wir aber auch klassische "Learning Nuggets", also kurze Vorträge zu einem Thema. So können sich unsere Beschäftigten selbstständig informieren. In der Produktion haben wir betrieblich festgelegte Schulungen. Darüber hinaus versuchen wir Phasen von Unterauslastung zu nutzen, um Beschäftigten Weiterbildung zu ermöglichen. 

Personalmagazin: Als energieintensive Branche sind Sie von den steigenden Energiepreisen besonders betroffen. Investiert Covestro in Krisenzeiten in seine Beschäftigten?

von Saldern: Wir befinden uns in einem klassischen Zielkonflikt zwischen kurzfristiger Performanz und langfristiger Transformation. Deshalb schauen wir momentan schon sehr genau, wofür wir Budget ausgeben und wie wir priorisieren. Gleichzeitig müssen wir darauf achten, dass wir heute und morgen ein attraktiver Arbeitgeber sind und bleiben. 

Potenziale aller Mitarbeitenden erkennen und stärken

Personalmagazin: Planen Sie einen Stellenabbau?

von Saldern: Nein. Wir haben unseren Mitarbeitenden erst kürzlich eine Beschäftigungssicherung bis ins Jahr 2028 ausgesprochen. Davon abgesehen, verlieren wir in den kommenden acht Jahren allein in Deutschland fast 30 Prozent unserer Belegschaft in den Ruhestand. Wir werden uns also anstrengen müssen, die freiwerdenden Stellen wieder zu besetzen.

Personalmagazin: Wirkt sich der Fachkräftemangel auf Ihre Wettbewerbsfähigkeit aus?

von Saldern: Wir merken schon, dass es schwieriger wird, junge Menschen zu gewinnen. Gleichzeitig bieten wir in der Chemiebranche ein gutes Gesamtpaket mit einer attraktiven Kernvergütung und etlichen Zusatzleistungen. Noch häufiger als nach dem Gehalt, werden wir allerdings nach unserer Mobile Work Policy gefragt. Auch hier können wir mit nur einem Präsenztag pro Woche sehr gut punkten.

"Ich halte es für unsinnig, 90 Prozent der Mittel in zehn Prozent der Beschäftigten zu investieren." - Sophie von Saldern

Personalmagazin: Sie vermeiden den Trendbegriff "Young Talents". Weshalb?

von Saldern: Weil ich ihn ebenso wenig mag, wie den Begriff Talent Management. Er suggeriert, dass es Talente gibt und alle anderen. Ich halte wenig davon, wenn wir 90 Prozent der Mittel auf zehn Prozent der Leute investieren. Und ich meine mit Mittel nicht nur Budgets. Sondern auch Aufmerksamkeit. Das finde ich unter einem Hochleistungsteamgedanken einfach unsinnig. Das würde bedeuten, nur die Besten noch besser machen zu wollen – die sich meist schon um sich selbst kümmern. Wir sollten stattdessen überlegen, wie wir die Schwächeren und das Mittelfeld stärken können. Ich glaube einfach daran, dass jeder Mensch ein Potenzial hat, das es sich lohnt auszuschöpfen. 

Situative Führung und Selbstreflexion

Personalmagazin: Wie spiegelt sich dieser Glaube in Ihrem Führungsverständnis wider?

von Saldern: Unter allen Führungsmodellen scheint mir das der situativen Führung am sinnvollsten. Es fügt sich in unseren Ansatz der "Moments That Matter", weil es Führungskräfte dazu anhält, Situationen und Kontexte zu berücksichtigen. Darauf legen wir in unserer Führungskräfteentwicklung großen Wert. Darüber hinaus halte ich die Fähigkeit zur Selbstreflexion sowohl für persönliche als auch berufliche Weiterentwicklung für unverzichtbar. Wer dazu nicht bereit ist, sollte keine Führungsposition anstreben.

Personalmagazin: Demnach wäre mangelnde Selbstreflexion ein K.-o.-Kriterium für eine Beförderung. 

von Saldern: Das ist sehr drastisch ausgedrückt. Aber natürlich achten wir auf diese Fähigkeit bei der Auswahl. Wir folgen dem Prinzip: Viele Augen, viele Quellen, viele Perspektiven. Wir machen uns in den Personalkonferenzen also ein sehr umfassendes Bild von einer Person, ehe wir entscheiden.

Personalmagazin: Welches Bild würde Ihr Team von Ihnen zeichnen? 

von Saldern: Die würden mich wahrscheinlich als anstrengend und fordernd beschreiben. Aber ich glaube, sie würden auch sagen, dass ich viel Gestaltungsspielraum und Unterstützung gebe. Und auch viel Verständnis aufbringe.

Dieser Beitrag ist erschienen in Personalmagazin Ausgabe 2/2023. Lesen Sie das gesamte Heft auch in der Personalmagazin-App.


Das könnte Sie auch interessieren:

Marion Rövekamp: "Virtuelles Arbeiten braucht neue Führung"

Mit Weiterbildung gegen den Fachkräftemangel

Umdenken in der Führung: Formuliere Wünsche, keine Ansprüche

Agile Führung mess- ­und besprechbar machen (Personalmagazin digital)