Kolumne Talent Management: Sinn und Unsinn von HR-Studien

Muss ein Talent Manager die exakte Prozentzahl für ein Abwanderungsrisiko in Change-Zeiten kennen? So manche HR-Studie verkündet diese Zahlen, wie Kolumnist Martin Claßen aufzeigt. Für ihn wären die Daten sinnfrei - doch sie erreichen zumindest ein übergreifendes Ziel.

Gut möglich, dass es Ihnen ähnlich wie mir geht. Wir suchen harte Fakten für die weichen People-Themen. Und unsere Sehnsucht wird mehr und mehr von Hochschullehrern und Unternehmensberatern zu stillen versucht. Die unzähligen Studien rund um HR und Talent Management können selbst wissbegierige Vielleser nicht mehr angemessen würdigen. 

Kürzlich flatterte mir die "Gemeinsame Studie des Instituts für angewandte Innovationsforschung an der Ruhr Universität Bochum und des Instituts für Kirche, Management und Spiritualität der Philosophisch-Theologischen Hochschule Münster" auf den Tisch. Da braucht der Leser bereits fünf Minuten um zu verstehen, von wem diese Analyse stammt.

Genaue Prozentzahlen für bekanntes Phänomen

Besagte Studie stellt fest, dass in Zeiten des Wandels die Bindung der Mitarbeiter erodiert. Genau 56 Prozent der befragten Führungskräfte beobachten nach der Veränderung eine schlechtere Bindung ihrer Mitarbeiter als zuvor - "mit allen Risiken, die damit verbunden sind", warnen die Verfasser fast schon beschwörend und beleuchten unter anderem die Abwanderungsgefahr von Talenten. Als Rezepte empfehlen sie: realistische Kommunikation, umfassende Partizipation und besseres Leadership.

Je geschickter die Frage, desto steuerbarer die Antwort

Die Botschaft ist nun wirklich nicht neu: Achtung, die armen Mitarbeiter brauchen deutlich mehr Wertschätzung. Ob die Gefahr nun bei 56 Prozent, 65 Prozent oder 74 Prozent liegt, ist egal – fast egal, denn 56 Prozent ist nur etwas mehr als die Hälfte; 74 Prozent wären schon fast drei Viertel. Was wesentlich schlimmer klingt. Ich hätte in einer Studie vermutlich sogar 83 Prozent herausgefunden, durch geschicktere Fragestellung und weitere Tricks der empirischen Sozialforschung.

Die Aufmerksamkeit für Studien ist ganz simpel zu erreichen: Wenn schon Kritik, dann schon Drama. Das weiß man doch von den Gallup-Studien, die seit vielen Jahren in unschöner Regelmäßigkeit mit kaum mehr als zehn Prozent engagierten Mitarbeitern daherkommen. Flugs werden sie von Gallup zu Produktivitätseinbußen in dreistelliger Milliardenhöhe hochgerechnet, allein für Deutschland.

Sinn von Studien: Themen bekommen Aufmerksamkeit

Doch solche Studien haben tatsächlich auch einen tieferen Sinn: Wenn nur einhundert Manager deren Ergebnisse lesen, die sich ansonsten nicht mit diesen Themen auseinandergesetzt hätten, und sich an den vorgeschlagenen Rezepten mit allen ihren Kräften versuchen, dann, ja dann ist in diesen Unternehmen für das Talent Management bereits einiges gewonnen. Das wäre doch was! Also ein großes Dankeschön nach Bochum und Münster, an Gallup sowieso für die jährlichen Wachrüttler.

Martin Claßen hat 2010 das Beratungsunternehmen People Consulting gegründet. Talent Management gehört zu einem seiner fünf Fokusbereiche in der HR-Beratung.