Impf-Dilemma in anthroposophischen Unternehmen

Selbst wenn Unternehmen sich aus Debatten um die Impfpolitik heraushalten möchten: Der Grat zwischen gesetzlichen Vorgaben und Gesundheitsschutz einerseits und Selbstbestimmung anderseits ist oft schmal – vor allem für Firmen, deren Beschäftigte oder Kunden anthroposophisch ticken.

Wenn es um Anthroposophie geht, klingeln aktuell schnell die Alarmglocken: Experten wie der Religionshistoriker Helmut Zander halten diese Weltanschauung für eine Ursache geringer Impfquoten im deutschsprachigen Raum. Eine klare Haltung zum Impfen hatte Begründer Rudolf Steiner zwar nicht: Er setzte einen gewissen Grad an Erleuchtung für eine Impfung voraus, befürwortete aber etwa die Pockenimpfung. Doch in seiner ursprünglichen Lehre zählen übersinnliche Erkenntnis letztlich mehr als wissenschaftliche Empirie. Krankheit kann ein Zeichen sein oder ein Weg zu persönlicher Stärke und Resilienz. Diese Denke erinnert an Argumente von Corona-Verschwörungsmythen. In Waldorfschulen toben vor diesem Hintergrund die Impfdebatten.

So geht integrative Medizin

Auf den Zusammenhang von Impfskepsis und Anthroposophie angesprochen zuckt Nikolai Keller mit den Schultern. "Alle, die uns kennen, wissen, dass wir unseren Job richtig gut machen", sagt der Geschäftsführer der Filderklinik, deren Haupteigentümer die anthroposophische Mahle-Stiftung ist. Das Akutkrankenhaus setzt auf "integrative Medizin": Neben aktuellster Schulmedizin kommen auf Wunsch auch anthroposophische Behandlungsmethoden zum Zug – bei Corona-Patienten zum Beispiel Wickel, Auflagen oder Musiktherapie. Bisher meldeten zwölf Mitarbeitende Impfdurchbrüche. Sie hätten sich extern, etwa über ihre Kinder, angesteckt. Schon zu Pandemie-Beginn sprach HR mit Beschäftigten, die besonders gefährdet sind – etwa, weil sie nach einer Langzeiterkrankung in der Wiedereingliederungsphase waren. "Für diese Personen haben wir Beschäftigungen mit weniger persönlichen Kontakten gefunden", erzählt die Personalleiterin Anja Baitinger.

Filderklinik mit Impfquote von 90 Prozent

Die 3G-Regeln am Arbeitsplatz sind klar: "Wer nicht geimpft, genesen oder getestet ist, betritt die Klinik nicht", so Keller. Masken-Atteste zählten nicht. Früh sprach man sich fürs Impfen aus und startete im Februar 2021 mit Impfungen im eigenen Haus, begleitet durch Infoveranstaltungen und Newskanäle. Und jetzt wird geboostert. Auch in die Firma Mahle schickt die Filderklinik Personal – nur der Impfstoff sei knapp. Wenn Mitarbeitende grundlos ungeimpft sind und in Quarantäne müssen, setze man auch die Lohnfortzahlung aus. An den Teststationen müssen sich alle, die nicht geimpft und genesen sind, täglich testen lassen. Zweimal wöchentlich gilt auch für die vollständig Immunisierten Testpflicht. Wer geimpft ist, kann einmalig den Impfausweis der eigenen Führungskraft vorweisen. Aktuell hat die Klinik eine Impfquote von 90 Prozent unter den rund 850 Festangestellten und 60 Auszubildenden. Das genügt nicht, wenn ab Mitte März 2022 die einrichtungsbezogene Impfpflicht greift. 

GLS Bank: Heterogene Kundschaft

Impfbotschaften sendet auch die GLS Bank, zum Beispiel auf Social Media. "Wir stehen weiter für #ÄrmelHoch", schrieb die Genossenschaftsbank Ende November auf Facebook. Nora Schareika hat sich dafür ablichten lassen, mit der Impfspritze am Oberarm. Nicht alle Kundinnen und Kunden waren begeistert. Manche drohten, die Bank zu wechseln, andere warfen ihr Propaganda vor oder vermissten den Schutz derjenigen, die sich nicht impfen lassen möchten. Die Bank selbst hat das nicht kommentiert. "Wir kommunizieren klar, lassen aber die Vielfalt der Meinungen zu", sagt die Senior Kommunikationsreferentin Schareika. Die GLS sei keine anthroposophische Bank, auch wenn sie von Menschen aus dem anthroposophischen Spektrum gegründet wurde. 

Homeoffice für den Gesundheitsschutz

Es gab Corona-Fälle in der Bank, die Ansteckung sei anderswo erfolgt. Wer keinen Immunstatus nachweist, sich nicht testen lässt oder Angst vor Ansteckung hat, kann zuhause arbeiten. 14-tägig öffnet der Corona-Krisenstab einen Online-Frageraum für Führungskräfte. "Von Konflikten hat uns hier noch niemand berichtet“, so Senior-Referentin Mitarbeiterentwicklung Kristin Send-Bojahr, die für HR im Corona-Krisenstab der Bank sitzt. Vieles kläre sich im Team, im Tagesgeschäft. Manchmal gebe es Meinungsverschiedenheiten, etwa zum Thema Weihnachtsfeiern. Größtenteils wurden diese abgesagt. Im Sommer holte man Betriebsärzte zum Impfen nach Bochum – so jetzt wieder zum Boostern. Wie viele der rund 800 Beschäftigten geimpft sind, wüssten aber nur die jeweiligen Führungskräfte. "Menschen sollten sich frei entscheiden können, ob sie sich impfen lassen – und keine Nachteile erleben, wenn sie es nicht tun", meint die HR-Managerin. 

Weleda: die Neutralen

"Ich habe mich diesen Sommer impfen lassen", sagt Elke Abendschein, Global Head of HR des Naturkosmetikerstellers Weleda, die ein Impfangebot in der Firma nutzte. Das Unternehmen hat Rudolf Steiner vor mehr als 100 Jahren selbst mitgegründet. Die Produkte bestehen aus natürlichen Inhaltsstoffen ohne synthetische Konservierungsmittel – die Firmen-Gärten werden biologisch-dynamisch bewirtschaftet. Die Firma befürwortet laut der Personalleiterin die Impfung – auch um Personen zu schützen, die besonders gefährdet sind oder nicht geimpft werden können. Da man den Impfstatus nur für die Einhaltung der 3G-Regel erhebe, läge die Impfquote nicht vor. "Wir gehen davon aus, dass der Anteil der geimpften Mitarbeitenden in etwa der Quote in der örtlichen Bevölkerung entspricht", so Abendschein. Auch die Coronafälle habe man nicht gezählt. Ihr Auftreten entspreche der Intensität des Infektionsgeschehens. 

Angst vor Diskriminierung

Eine Corona-Arbeitsgruppe ist dafür zuständig, dass alle die 3G-Regeln einhalten, auch in der Kantine oder bei Kontakt mit Gästen. In Schwäbisch Gmünd bietet Weleda zweimal wöchentlich Testmöglichkeiten über einen externen Dienstleister. Auch Selbsttests sind genügend vorhanden. Man appelliere an Mitarbeitende, mit Erkältungssymptomen zuhause zu bleiben. Im Betrieb gibt es auch mit Immunstatus die Empfehlung, sich zu testen. Es dominiere Homeoffice. Allerdings ist in Produktion, Logistik und Labor Präsenz erforderlich. Keinen Impfdruck ausüben, sich aus öffentlichen Debatten heraushalten, so lautet das Credo. Vor allem niemanden diskriminieren – egal, ob es sich um Geimpfte, Ungeimpfte oder Genesene handelt. Die Führungskräfte habe man dafür sensibilisiert. Ungeimpfte erhalten deshalb auch im Quarantäne-Fall weiterhin Lohn. "Aussagen, die Covid-19 leugnen, oder damit verbundene Verschwörungstheorien lehnen wir ganz klar ab", so Abendschein. Konflikte mit Impfskeptikern gibt es laut Weleda nicht. 

Kein Kommentar zu medizinischen Fragen bei Demeter

Beim Demeter e.V., in dem etwa 360 Hersteller, 100 Hofverarbeiter sowie 140 Vertragspartner aus dem Naturkost- und Reformwaren-Großhandel Mitglied sind, möchte man medizinische Fragen Expertinnen und Experten überlassen. Hier zählt der Rat der Verbände der anthroposophischen Ärzte (GAÄD, DAMID) und deren medizinischer Sektion, die sich für die Impfung ausgesprochen hat. Anfang des Jahres folgte der Bundesverband in einer Stellungnahme dieser Empfehlung. In der Demeter-Geschäftsstelle, wo 80 Menschen beschäftigt sind, halten sich alle an die strenge 3G-Vorgabe oder gehen sogar darüber hinaus: Nur Mitarbeitende, die ihrer Arbeit nicht im Homeoffice nachgehen können wie etwa in Post und Versand, sind regelmäßig vor Ort. Dort besteht Testpflicht. Es darf sich nur eine Person je Büroraum aufhalten, man muss Abstand halten oder Maske tragen. Dass die Mitglieder gesunde Lebensmittel produzieren können – hier liege die Kernkompetenz des Verbandes. Zu 3G-Regeln oder zum Impfen bekomme man keine Nachfragen. "Das ist bei uns kein Gesprächsstoff oder nur am Rande", so Geschäftsführer Dr. Alexander Gerber. 

Nicht alle sind auf Linie

Für Schlagzeilen sorgte allerdings der Gründer von Rapunzel, einem Unternehmen, das seit 2004 Demeter-Partner ist: Joseph Wilhelm veröffentlichte Anfang 2020 eine "Wochenendbotschaft", die Verschwörungserzählungen nährten. Nach Boykottaufrufen distanzierte er sich halbherzig von einigen Aussagen und ließ den Text von der Website entfernen. Auch einige Demeter-Höfe verfolgen eine andere Linie. Die Augsburger Allgemeine berichtete Anfang 2021, dass sich der Demeterhof Stümpfl aus Unggenried von der Stellungnahme des Verbandes zur Impfung distanziert hatte. "Die Impfdebatte zeigt die extreme Spannung zwischen Selbstbestimmung und Verantwortung in der Gesellschaft. Für unsere Mitglieder gilt aber natürlich Meinungsfreiheit", meint der Demeter-Vorstand. Sollten diese jedoch den Boden der Satzung verlassen, schließt man sie im äußersten Fall auch aus. Das sei im aktuellen Kontext nur einmal der Fall gewesen. 

Wirtschaftliche Überlegungen überwiegen

Impfgegnerschaft ist kein Phänomen, das nur die anthroposophische Bewegung betrifft. Doch die kommunikative Herausforderung ist hier besonders groß. Man befolgt die gesetzlichen Vorgaben, möchte aber aus wirtschaftlichen Gründen niemandem vor den Kopf stoßen. Wo die Freiheit der Einzelnen aufgrund des Gemeinwohls aufhört – diese Entscheidung bleibt oft eine individuelle Angelegenheit. Die Impfempfehlungen wirken so nicht immer konsequent. Dadurch nimmt man die Gefahr in Kauf, Impfskeptikern das Feld zu überlassen. Auch die Angst, Leute zu verlieren, mag eine Rolle spielen. Gerade Kliniken stehen mit der anstehenden Impfpflicht für ihr Personal vor einem Dilemma. Der Fachkräftemangel spitzt sich zu, durch Belegungsdruck und die Arbeitsbelastung. Nikolai Keller von der Filderklinik, der selbst geimpft und geboostert ist, findet es wichtig, dass im Führungskreis übers Impfen debattiert wird. "Die Grenzen der freien Meinungsäußerung sind die des wissenschaftlich Vertretbaren", findet er. Wer diese Grenze übertrete, werde abgemahnt und gekündigt – und zwar zügig. Bisher sei das noch nicht vorgekommen.


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