Rz. 852

Andere als die in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG genannten Kriterien muss der Arbeitgeber bei der Sozialauswahl nicht berücksichtigen, und er kann es, wenn überhaupt, dann nur nachrangig. Durch die Konzentration auf die Dauer der Betriebszugehörigkeit, das Lebensalter, die Unterhaltspflichten und die Schwerbehinderung des Arbeitnehmers soll laut Entwurfsbegründung "die Beachtung unbilliger Härten im Einzelfall" nicht ausgeschlossen werden.[1] Mögliche zusätzliche Merkmale sollten allerdings einen Bezug zu den 4 Hauptkriterien haben, um Fehler bei der Sozialauswahl zu vermeiden. In der Entwurfsbegründung heißt es dazu, dass die zusätzlich herangezogenen Kriterien "in einem unmittelbaren spezifischen Zusammenhang mit den Grunddaten stehen" müssen.[2] Als Zusatzkriterien ungeeignet sind daher von vornherein alle Merkmale, die überhaupt keinen Bezug zum Arbeitsverhältnis haben, mithin privater Natur sind. Für die Berücksichtigung von Merkmalen, die sowohl dem beruflichen als auch dem privaten Bereich zugeordnet werden können, gibt es keine verlässlichen Orientierungspunkte. Fest steht nur: Bezieht der Arbeitgeber gesetzesfremde Sozialmerkmale in seine Auswahlentscheidung mit ein, läuft er Gefahr, dass die Sozialauswahl (grob) fehlerhaft ausfällt.[3] Das BAG hat daher entschieden, dass die Gründe für den Widerspruch des Arbeitnehmers gegen den Übergang seines Arbeitsverhältnisses auf einen Betriebserwerber seit 1.1.2004 bei der Abwägung der sozialen Auswahlkriterien nicht mehr zu berücksichtigen sind. Es spricht davon, dass die in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG genannten Gründe "abschließend" sind (BAG, Urteil v. 31.5.2007, 2 AZR 276/06[4]), ohne dass klar wird, ob es damit sogar – anders als der Wortlaut und die Gesetzesbegründung – jegliche anderen sozialen Gesichtspunkte ausschließen will.

 
Hinweis

Aus Gründen der Rechtssicherheit und um Fehler bei der Sozialauswahl und ein Unterliegen im Kündigungsschutzprozess zu vermeiden, ist dazu zu raten, die Sozialauswahl ausschließlich auf die gesetzlichen Kriterien zu stützen.

[1] Begr. FraktE, BT-Drucks. 15/1204, S. 11; dort noch für die 3 Sozialauswahlkriterien ohne die Schwerbehinderung.
[2] Begr. FraktE, BT-Drucks. 15/1204, S. 11.
[3] SPV/Preis, 11. Aufl. 2015, Rz. 1091.
[4] NZA 2008 S. 33, s. auch BAG, Urteil v. 7.7.2011, 2 AZR 476/10.

4.7.4.5.1 Benachteiligungsverbote

 

Rz. 853

Bestimmte Umstände dürfen aufgrund sozialgesetzlicher Vorschriften nie zuungunsten des Arbeitnehmers gewertet werden. Zu diesen Merkmalen zählen unter anderem die Möglichkeit des Arbeitnehmers, Altersteilzeit in Anspruch zu nehmen (§ 8 Abs. 1 ATG), die Einberufung des Arbeitnehmers zum Wehrdienst (§ 2 Abs. 2 ArbPlSchG), die Teilnahme an Eignungsübungen (§ 2 Abs. 1 EÜG) sowie an Einsätzen und Eignungsübungen des Zivilschutzes (§§ 9 Abs. 2, 13 Abs. 3 des Gesetzes über den Zivilschutz). Der Arbeitgeber darf ferner betriebsverfassungsrechtliche Funktionsträger, die nicht in den Anwendungsbereich des § 15 KSchG fallen, aufgrund ihrer Position weder bevorzugen noch benachteiligen. Dies folgt aus dem Behinderungsverbot des § 78 BetrVG.[1]

[1] KR/Rachor, 13. Aufl. 2022, § 1 KSchG, Rz. 745; zu § 78 BetrVG; vgl. Richardi/Thüsing, BetrVG, 17. Aufl. 2022, § 78 BetrVG, Rz. 23.

4.7.4.5.2 Chancen auf dem Arbeitsmarkt

 

Rz. 854

Die Wiedereinstellungschancen des Arbeitnehmers stellen ein Merkmal dar, das im Rahmen der Sozialauswahl grds. berücksichtigt werden kann. Allerdings ist Vorsicht geboten: Der kündigende Arbeitgeber wird aufgrund der Komplexität des Arbeitsmarktes meistens nicht in der Lage sein, die Entwicklung auf dem Stellenmarkt hinreichend konkret zu prognostizieren, und zwar selbst dann nicht, wenn er mit den Daten und Zahlen seiner Branche vertraut ist. Voraussetzung für die Berücksichtigung der Chancen des Arbeitnehmers auf dem Arbeitsmarkt im Rahmen der Sozialauswahl ist aber gerade, dass die Einschätzung des Arbeitgebers realistisch und nachvollziehbar und nicht etwa eine vage Vorhersage mit unsicherem Aussagegehalt ist.

 

Rz. 855

Gegen die Einbeziehung der Arbeitsmarktchancen der Arbeitnehmer sprechen gute Argumente. Folge einer Berücksichtigung der Wiedereinstellungschancen auf dem freien Arbeitsmarkt ist zum einen die Privilegierung der Unqualifizierten – gut ausgebildete Arbeitnehmer, die leichter zu vermitteln sind, hätten mithin unter ihrer Qualifikation zu leiden. Zum anderen ist die Berücksichtigung arbeitsmarktpolitischer Erwägungen teilweise ausdrücklich im Kündigungsschutzgesetz verankert, z. B. in §§ 17 f. KSchG. Eine entsprechende Regelung, die auf den Willen des Gesetzgebers, die Chancen eines Arbeitnehmers auf dem Arbeitsmarkt in die Sozialauswahl mit einfließen zu lassen, schließen ließe, fehlt in § 1 Abs. 3 KSchG. Zudem werden die Wiedereinstellungschancen des Arbeitnehmers über die Merkmale des Lebensalters und der Dauer der Betriebszugehörigkeit indirekt mit berücksichtigt.[1]

 
Hinweis

Die Wiedereinstellungschancen des Arbeitnehmers können im Rahmen der Sozialauswahl grds. berücksichtigt werden. Allerdings müssen die Erwägungen des Arbeitgebers nachvollziehbar un...

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Haufe Personal Office Platin. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge