Rz. 856

Ob und in welchem Maße Gesundheitsbeeinträchtigungen, die keine Schwerbehinderung darstellen, berücksichtigt werden können, ist fraglich. Rechtsprechung zur aktuellen Rechtslage fehlt, in der Literatur ist die Frage umstritten. Unterschieden wird ganz allgemein zwischen betrieblich und außerbetrieblich verursachten Gesundheitsbeeinträchtigungen. Die Berücksichtigung des Gesundheitszustands des Arbeitnehmers im Rahmen der Sozialauswahl wurdedabei vereinzelt unabhängig von der gängigen Differenzierung befürwortet. Zur Begründung wurde dabei auf die Rechtsprechung des BAG (BAG, Urteil v. 18.1.1990, 2 AZR 35/89[1]) zur Rechtslage vor der Reform des Kündigungsschutzgesetzes verwiesen.[2] Häufiger finden sich jedoch Stimmen, die an die Unterscheidung nach dem Ursprung der Gesundheitsbeeinträchtigung anknüpfen.[3] Demnach kann der allgemeine Gesundheitszustand des Arbeitnehmers, der in keinem Zusammenhang zu seiner Tätigkeit im Unternehmen oder Betrieb steht, bei der Sozialauswahl nicht berücksichtigt werden. Gesundheitliche Beeinträchtigungen sind zwar eng mit der Person des Arbeitnehmers verknüpft, nicht aber mit dessen Berufsausübung. Es fehlt mithin an einem betrieblichen Zusammenhang, der eine Berücksichtigung bei der Sozialauswahl rechtfertigt.[4] Umgekehrt können Gesundheitsbeeinträchtigungen betrieblichen Ursprungs, z. B. die Folgen eines Arbeitsunfalls i. S. d. § 8 Abs. 1 SGB VII oder eine durch die betriebliche Tätigkeit verursachte Berufskrankheit i. S. d. § 9 SGB VII, berücksichtigt werden.[5] Dabei ist jedoch – wie auch bei den übrigen Zusatzkriterien – zu beachten, dass den 4 gesetzlichen Hauptkriterien bei der Sozialauswahl weiterhin ein angemessenes Gewicht verbleibt. In welchem Maße die Gesundheitsbeeinträchtigung im Einzelfall zu berücksichtigen ist, kann nicht pauschalisiert werden. Zahlreiche Faktoren fließen in die Bewertung mit ein, z. B. die Schwere der Gesundheitsbeeinträchtigung, ein etwaiges Mitverschulden des Arbeitnehmers, die Gefahrgeneigtheit der Tätigkeit etc.[6]

 

Rz. 857

Erkrankungen und gesundheitliche Beeinträchtigungen von Familienangehörigen sind bei der Sozialauswahl nicht zu berücksichtigen. Sie haben keinen Bezug zu dem zu kündigenden Arbeitsverhältnis, sondern fallen ausschließlich in den Bereich der privaten Lebensführung. Sofern Familienangehörige des Arbeitnehmers aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustands pflegebedürftig sind, wird dieser Umstand allenfalls dann im Rahmen der Sozialauswahl berücksichtigt, wenn dem Arbeitnehmer aufgrund der Pflegebedürftigkeit Kosten entstehen, die ihm als gesetzliche Unterhaltspflichten zur Last fallen.[7] Dann bedarf es allerdings nicht des Rückgriffs auf zusätzliche Sozialkriterien, denn die Unterhaltspflichten sind als gesetzliches Auswahlkriterium in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG normiert.[8]

 
Hinweis

Sofern andere als die in § 1 Abs. 3 Satz 1 KSchG genannten Kriterien im Rahmen der Sozialauswahl Berücksichtigung finden, ist darauf zu achten, dass die 4 gesetzlich vorgeschriebenen Sozialdaten im Auswahlprozess nichtsdestotrotz angemessen berücksichtigt werden. Ansonsten besteht die Gefahr, dass die Sozialauswahl (grob) fehlerhaft ausfällt, mit der Konsequenz, dass die ausgesprochene Kündigung sozial ungerechtfertigt ist und vom Gericht deshalb für unwirksam erklärt wird.

[1] EzA Nr. 28 zu § 1 KSchG, Soziale Auswahl.
[2] So noch ausdrücklich: KR/Griebeling, 10. Aufl. 2013, § 1 KSchG, Rz. 678n.
[3] SPV/Preis, 11. Aufl. 2015, Rz. 1092 ff.; Willemsen/Annuß, NJW 2004, S. 177.
[4] I. d. S. auch SPV/Preis, 11. Aufl. 2015, Rz. 1093.
[5] Begr. FraktE, BT-Drucks. 15/1204, S. 11; KR/Rachor, 13. Aufl. 2022, § 1 KSchG, Rz. 752; Willemsen/Annuß, NJW 2004, S. 177.
[6] So auch SPV/Preis, 11. Aufl. 2015, Rz. 1092.
[7] KR/Rachor, 13. Aufl. 2022, § 1 KSchG, Rz. 739 m. w. N.
[8] Vgl. hierzu Rz. 844 ff.

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