Rz. 707

Auf der gestalterischen Ebene der unternehmerischen Entscheidung prüft das Gericht im Rahmen einer Missbrauchskontrolle nur, ob die Unternehmerentscheidung offensichtlich unsachlich, willkürlich oder unvernünftig ist (BAG, Urteil v. 22.10.2015, 2 AZR 650/14[1]; BAG, Urteil v. 29.8.2013, 2 AZR 809/12[2]). Diese Missbrauchskontrolle orientiert sich daran, dass durch die Wertung der Willkür und des Missbrauchs der Bestandsschutz der Arbeitnehmer nicht unangemessen zurückgedrängt wird.[3] Die Kündigung soll durch betriebliche Gründe bedingt sein und nicht die Betriebsänderung durch den Wunsch, sich von missliebigen Arbeitnehmern zu trennen.[4]

 

Rz. 708

Offenbar unsachlich sind nach der Rechtsprechung des BAG z. B. Entscheidungen, die unmittelbar oder mittelbar gegen Gesetze oder Tarifverträge verstoßen, ihrer Umgehung dienen oder sich nur unter Verstoß gegen Gesetze, Tarifverträge, betriebsverfassungsrechtliche Vorgaben oder Gesellschaftsverträge und Satzungen realisieren lassen, sofern der Schutzzweck der verletzten Norm das betroffene Arbeitsverhältnis unmittelbar erfasst (BAG, Urteil v. 27.1.2011, 2 AZR 9/10[5]). Die Missbrauchskontrolle ist insoweit häufig eine Rechtskontrolle (BAG, Urteil v. 18.12.1997, 2 AZR 709/96[6]). Dogmatisch sind die gegen eine Rechtsnorm verstoßenden Entscheidungen daher nicht als unsachlich, sondern als unwirksam zu qualifizieren. Ein Gesetzesverstoß ist z. B. anzunehmen, wenn die Unternehmerentscheidung gegen das Verbot der Diskriminierung von Teilzeitbeschäftigten (§ 4 TzBfG) verstößt (BAG, Urteil v. 24.4.1997, 2 AZR 352/96[7]).

 

Rz. 709

In der Praxis ist teilweise eine Tendenz zu beobachten, durch unternehmerische Entscheidungen und Gestaltungen den Verpflichtungen des deutschen Sozial- und Arbeitsrechts zu entfliehen oder Kündigungsschutzrecht zu umgehen; sind unternehmerische Konzepte allein von diesem Ziel getragen, sind sie unsachlich. Missbräuchlich sind z. B. die Bildung separater betrieblicher Organisationsstrukturen, um Arbeitnehmer bei fortbestehendem Beschäftigungsbedarf aus dem Betrieb zu drängen (BAG, Urteil v. 26.9.2002, 2 AZR 636/01[8]), oder abstrakte Änderungen von Organisationsstrukturen ohne Änderung der tatsächlichen Abläufe, um den Inhalt von Arbeitsverhältnissen zum Nachteil der Arbeitnehmer zu verändern (BAG, Urteil v. 23.4.2008, 2 AZR 1110/06[9]). Der bloße Verstoß gegen Mitbestimmungsanforderungen nach der Betriebsverfassung (§ 111 BetrVG) führt jedoch nicht zu einer unsachlichen Unternehmerentscheidung. Ebenso kann nicht aus der Vergabe der Aufgaben eines einzelnen Arbeitnehmers an ein Drittunternehmen per se geschlossen werden, dass es sich um eine rechtsmissbräuchliche Maßnahme handelt (BAG, Urteil v. 18.6.2015, 2 AZR 480/14[10]).

 
Praxis-Beispiel

(Nach BAG, Urteil v. 26.9.1996, 2 AZR 200/96[11])

Arbeitgeber S möchte den durch Tariflohnerhöhungen und ungewöhnlich hohe krankheitsbedingte Arbeitsausfälle verursachten Kostensteigerungen dadurch entgegenwirken, dass er sämtliche Arbeitnehmer entlässt und nur noch mit – kostengünstigeren – Leiharbeitnehmern zusammenarbeitet. Eine Fremdvergabe der Arbeiten an ein Drittunternehmen kommt nicht in Betracht, da er sich das Direktionsrecht im Betrieb vorbehalten will. Vor diesem Hintergrund kündigt er allen bisher Beschäftigten. Diese Kündigungen sind unsachlich, denn sie dienen – unter Beibehalten der Arbeitsplätze und Arbeitskapazitäten – der Umgehung der Tarifbindung und den arbeitsrechtlichen Schutzvorschriften und damit nur dem unzulässigen Austausch von Arbeitnehmern durch Leiharbeitnehmer.[12]

 

Rz. 710

Offenbar unvernünftig sind Unternehmerentscheidungen, die für den Betrieb keinen erkennbaren wirtschaftlichen oder unternehmensstrategischen Sinn aufweisen.[13] Eine unvernünftige Entscheidung ist in der Praxis eher selten. Bei Konzernstrukturen ist zudem zu berücksichtigen, dass ein hinreichender Grund für eine unternehmerische Umgestaltung auf übergeordneter konzernrechtlicher Ebene liegen kann.

 

Rz. 711

Auch offenbar willkürliche Entscheidungen liegen selten vor. Sie sind anzunehmen, wenn ihnen keine anerkennenswerte sachliche Erwägung zugrunde liegt. Den Entscheidungen des BAG, in denen Willkür bejaht wurde, lag i. d. R. eine Fallgestaltung zugrunde, die bereits als unsachlich eingestuft werden konnte. Hierzu zählen insbesondere Umgehungsfälle, in denen die Umgestaltung nur dazu diente, die Geltung des Kündigungsschutzes zu unterlaufen (BAG, Urteil v. 19.5.1993, 2 AZR 584/92[14]) oder ohne anerkennenswerte sachliche Erwägungen bei gleichbleibendem Arbeitsbedarf Arbeitnehmer auszutauschen (BAG, Urteil v. 21.9.2000, 2 AZR 440/99[15]; BAG, Urteil v. 26.9.1996, 2 AZR 200/96[16]). Eine unternehmerische Entscheidung ist auch dann nicht willkürlich, wenn sie – nur – der Gewinnmaximierung dient. Sie darf nur umgekehrt nicht lediglich eine Schädigung des Arbeitnehmers zur Folge haben, sondern muss durch ein schützenswertes Eigeninteresse gedeckt sein.[17]

[1] NZA 2016 S. 630.
[2] NZA 2014 S. 730.
[3] Rost, JbArbR Bd. 3...

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