Rz. 101

Nur in Ausnahmefällen kann die Berufung auf den Mangel der gesetzlichen Schriftform für Kündigungen und Auflösungsvereinbarungen gegen Treu und Glauben verstoßen und der Formmangel nach § 242 BGB unbeachtlich sein. Denn die gesetzlichen Formvorschriften dürfen nicht über § 242 BGB ausgehöhlt werden.[1] Ein derartiger Ausnahmefall kann unter dem Gesichtspunkt des Verbots widersprüchlichen Verhaltens (venire contra factum proprium) vorliegen, wenn der Erklärungsgegner einen besonderen Grund hatte, auf die Gültigkeit der Erklärung trotz Formmangels zu vertrauen und der Erklärende sich mit der Berufung auf den Formmangel zu eigenem vorhergehenden Verhalten in Widerspruch setzt. So ist die Berufung auf die Schriftform z. B. treuwidrig, wenn der Arbeitnehmer seiner Beendigungsabsicht mit ganz besonderer Verbindlichkeit und Endgültigkeit mehrfach Ausdruck verliehen und damit einen besonderen Vertrauenstatbestand geschaffen hatte.[2]

 

Beispiel

Nach formwidriger Beendigung des Arbeitsverhältnisses sucht sich der Arbeitnehmer mit Wissen des Arbeitgebers eine neue Stelle, und der Arbeitgeber stellt einen neuen Arbeitnehmer ein. Die Berufung des Arbeitnehmers auf die Formunwirksamkeit der Kündigung oder der Auflösungsvereinbarung verstößt gegen § 242 BGB.[3]

 

Rz. 102

Das Recht, sich auf die Formunwirksamkeit zu berufen, kann also verwirken. Dies erfordert, dass keine Partei eine längere Zeit die Formnichtigkeit geltend gemacht hat (Zeitmoment) und bei der jeweils anderen Seite ein berechtigtes Vertrauen begründet wurde, dass sich niemand mehr auf die Formunwirksamkeit beruft (Umstandsmoment).[4] Im Übrigen ist auf die von der Rechtsprechung entwickelten Fallgruppen zu verweisen.[5] Die für das Zeitmoment relevante Frist ist relativ kurz zu bemessen, da die Beendigung von Arbeitsverhältnissen Rechtsklarheit und eine zügige Abwicklung erfordert. Je nach Gewicht des Umstandsmoments und des bei der anderen Vertragspartei gebildeten Vertrauens kann ein Zeitraum von 2 bis 3 Monaten schon die zeitliche Obergrenze bilden, bis zu welcher der Kündigungsempfänger oder die Partei des Auflösungsvertrags Klage im Hinblick auf die behauptete Formunwirksamkeit der Kündigung bzw. des Auflösungsvertrags erheben kann, insbesondere wenn das Arbeitsverhältnis nach Ablauf der Kündigungsfrist nicht mehr vollzogen wird.[6] Verwirkung wurde in der Rechtsprechung z. B. angenommen 7 Monate nach Kündigung bei 3 Monate zuvor erfolgter Rücknahme einer rechtzeitig erhobenen Klage[7] oder bei einem Zeitablauf von mehr als 8 Monaten zwischen fristloser Kündigung durch den Arbeitgeber und Klageerhebung[8].

 
Hinweis

Da die Rechtsprechung zur Anwendung von § 242 BGB bei formunwirksamen Kündigungen bzw. Auflösungsverträgen sehr restriktiv ist, sollte in der Praxis größte Sorgfalt auf die Einhaltung der Schriftform gelegt werden. Dies gilt insbesondere auch, wenn Arbeitnehmer in einer oder mehreren Gesellschaften einer Unternehmensgruppe gleichzeitig oder hintereinander tätig werden. Es ist immer wieder zu beobachten, dass "nicht mehr gelebte" Arbeitsverträge nie ordnungsgemäß aufgehoben wurden. Hier droht dem Arbeitgeber, dass sich der Arbeitnehmer bei Ausspruch einer Kündigung hinsichtlich des zuletzt durchgeführten Arbeitsverhältnisses auf den Standpunkt stellt, es bestünde noch ein weiteres Arbeitsverhältnis zu einer anderen Gesellschaft, das bislang ruhte, nie formgerecht aufgelöst wurde und nunmehr wieder auflebt.

[3] Vgl. Lembke, BAG Report 2005, 289, 292.
[4] Caspers, RdA 2001, 28 f.
[5] Dazu etwa ErfK/Preis, §§ 125-127 BGB Rz. 49 ff.; APS/Greiner, § 623 BGB Rz. 41 ff.
[6] Caspers, RdA 2001, 28, 29.
[7] LAG Berlin, Urteil v. 13.5.1985, 9 Sa 5/85, LAGE Nr. 1 zu § 242 BGB Prozessverwirkung.
[8] LAG Nürnberg, Beschluss v. 13.4.1995, 7 Ta 90/95, BeckRS 1995, 125098; Vorinstanz: ArbG Weiden, Beschluss v. 29.3.1995, 5 Ca 1697/94 S, NZA-RR 1996 S. 9.

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