Beteiligte

Klägerin und Revisionsbeklagte

Beklagter und Revisionskläger

 

Tatbestand

I

Das beklagte Land wendet sich mit der vom Landessozialgericht (LSG) zugelassenen Revision gegen die Feststellung einer Berufskrankheit (BK) bei der Klägerin.

Bei der Mutter der Klägerin ist eine chronisch-persistierende, Australia-Antigen positive Virushepatitis B als BK nach Nr. 37 der Anlage 1 zur Siebenten Berufskrankheiten-Verordnung (7. BKVO) vom 20. Juni 1968 (BGBl. I 721) anerkannt. Zeitpunkt des Versicherungsfalles ist der 25. Januar 1974. Der Beklagte gewährt deswegen der Mutter der Klägerin seit dem 17. April 1974 Rente (Bescheide vom 25. November 1974, 20. Mai 1976, 27. November 1979 und 27. Januar 1983).

Bei der am 25. Oktober 1975 geborenen Klägerin wurde, wie schon zuvor bei ihrer am 28. Oktober 1973 geborenen Schwester Barbara, eine Hepatitis B festgestellt. Durch Bescheid vom 24. Juli 1981 lehnte der Beklagte die Anerkennung der Erkrankung der Klägerin als BK ab, da die Klägerin erst nach der BK ihrer Mutter gezeugt und zudem auch nicht als Leibesfrucht geschädigt worden sei. Die Voraussetzungen für eine Entschädigung nach § 555a der Reichsversicherungsordnung (RVO) seien daher nicht gegeben.

Das Sozialgericht (SG) Mainz hat die auf Anerkennung der Hepatitis B der Klägerin als BK und auf Gewährung der gesetzlichen Leistungen gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 9. Dezember 1982). Auf die Berufung der Klägerin hat das LSG Rheinland-Pfalz den Beklagten verurteilt, bei der Klägerin als BK eine Hepatitis B anzuerkennen und bestimmungsgemäß zu entschädigen (Urteil vom 21. Mai 1984). Zur Begründung hat das LSG u.a. ausgeführt: Nach Wortlaut und Entstehungsgeschichte des § 555a RVO sei die Leibesfrucht nur geschützt, wenn sie durch einen Arbeitsunfall (AU) oder eine BK ihrer Mutter während der Schwangerschaft geschädigt worden sei. Aufgrund der gebotenen entsprechenden Anwendung dieser Vorschrift sei aber auch das erst nach dem Versicherungsfall der BK der Mutter gezeugte Kind dem Schutz nach § 555a RVO zu unterstellen, das sich später während der Schwangerschaft mit einer BK der Mutter infiziert habe. Zur Schwangerschaft gehöre auch der Geburtsvorgang. Die analoge Anwendung des § 555a RVO auf den vorliegenden Fall rechtfertige sich mit der Gleichheit der Gefahrenlage, die aus der natürlichen Einheit von Mutter und Kind entstehe, die den Gesetzgeber aufgrund des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 22. Juni 1977 - 1 BvL 2/74 - (BVerfGE 45, 376 = SozR 2200 § 539 Nr. 35) zur Regelung der Entschädigung für die Fälle veranlaßt habe, daß die Schädigung Mutter und Leibesfrucht zugleich treffe. Die naturgegebene Verbindung zwischen Mutter und Kind während der Schwangerschaft, die dazu führe, daß die berufliche Schädigung der Mutter auf die Leibesfrucht durchschlage, bestehe für das vor und nach dem Versicherungsfall der Mutter gezeugte Kind in gleichem Maße und rechtfertige damit nach Art. 3 des Grundgesetzes (GG) eine Gleichstellung. Da das BVerfG zudem in seinem Beschluß vom 22. Juni 1977 aus dem Sozialstaatsprinzip herleite, daß die gesetzliche Unfallversicherung die mit dem Arbeitsleben der Industriegesellschaft zwangsläufig verbundenen Risiken wegen der Gleichheit der Gefahrenlage auch hinsichtlich des noch ungeborenen Lebens abzudecken habe, so müsse dies ebenso für Schäden eines später gezeugten Kindes gelten. Letztlich rechtfertige sich die anloge Anwendung des § 555a RVO auch aus dem Gesichtspunkt der sogenannten Haftungsfreistellung. Denn die soziale Unfallversicherung sei nicht nur deshalb geschaffen worden, um den Verletzten zu schützen, sondern auch, um den bei AUen sonst schadensersatzpflichtigen Unternehmer von seiner Haftung freizustellen. Nach dem Gutachten des Prof. Dr. B. vom 9. Februar 1981 und seiner ergänzenden Stellungnahme vom 6. Juli 1981 sei die Hepatitis von der Mutter auf die Klägerin wahrscheinlich während der Geburt übertragen worden.

Das LSG hat die Revision zugelassen. Der Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Er und der Beigeladene tragen vor: Der Wortlaut des § 555a RVO sei eindeutig. Die Vorschrift sei eine exorbitante Ausnahme von den Regelungen der gesetzlichen Unfallversicherung, die grundsätzlich nur die arbeitenden oder sonst unter Versicherungsschutz tätigen Personen selbst, nicht aber Dritte schützen. Das Kind einer unfallversicherten Mutter werde durch § 555a Satz 1 RVO nicht etwa in den Kreis der versicherten Personen einbezogen, sondern lediglich in den Kreis der Leistungsberechtigten aufgenommen. Schon dies sei eine so außergewöhnliche Maßnahme, die keinerlei ausdehnender Auslegung fähig sei. Eine Gesetzeslücke liege nicht vor. Was der Gesetzgeber aufgrund der Entscheidung des BVerfG vom 22. Juni 1977 gewollt und bezweckt habe, sei eng begrenzt auf die Leistungsberechtigung des bei AU oder BK der Mutter bereits gezeugten Kindes gerichtet gewesen. Die Klägerin sei aber erst gezeugt worden, als ihre Mutter längst berufserkrankt gewesen und deswegen von dem Beklagten schon berentet worden sei. Die zum Recht der Kriegsopferversorgung ergangene Entscheidung BSGE 20, 41, auf die das LSG hingewiesen habe, gebe für den vorliegenden Fall nichts her. Ein schädigendes Ereignis i.S. des § 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) könne jedem zustoßen, so auch einem Kind, das von einer schädigungsbedingt an Lues erkrankten Mutter Jahre später geboren werde und ebenfalls an Lues erkrankt sei. Eine BK könne dagegen nur demjenigen zustoßen, der zum Kreis der versicherten Personen gehöre. Überdies habe bei der Entscheidung BSGE 20, 41, wie schon bei der ebenfalls zum Recht der Kriegsopfer ergangenen Entscheidung BSGE 18, 55, die Lückentheorie eine Rolle gespielt. Das Bundessozialgericht (BSG) habe in jenen beiden Fällen darauf hingewiesen, daß der Gesetzgeber des BVG offensichtlich die Kriegseinwirkungen auf die Leibesfrucht vergessen habe; er würde diese Fälle, hätte er an sie gedacht, so wie das BSG entschieden habe, geregelt haben. Zumindest bei der Einführung des § 555a RVO habe der Gesetzgeber der RVO, anders als in der Kriegsopferversorgung, an die Unfälle oder Berufserkrankungsschäden von Leibesfrüchten gedacht und sie durch § 555a RVO geregelt. Die Unfallversicherungsrechtsprechung habe deshalb keinen Anlaß, hier regelnd und rechtsneuschöpfend einzuwirken. Für die Feststellung des LSG, daß die Schädigung der Klägerin wahrscheinlich bereits beim Geburtsvorgang eingetreten sei, reiche das Gutachten des Prof. Dr. B. vom 6. Juli 1981 nicht aus. Ebenso wahrscheinlich sei, daß die Infektion erst Wochen nach der Geburt erfolgt sei. Das LSG hätte daher ein weiteres Gutachten einholen müssen.

Der Beklagte und der Beigeladene beantragen,

unter Aufhebung des Urteils des LSG Rheinland-Pfalz vom 21. Mai 1984 die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Mainz vom 9. Dezember 1982 zurückzuweisen,

hilfsweise das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 21. Mai 1984 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie trägt vor, daß nach den Ausführungen des LSG im angefochtenen Urteil der Gesetzgeber mit § 555 RVO nur diejenigen Fälle habe kodifizieren wollen, die von der Fassung des BVerfG "in denen das später geborene Kind schon vor dem Arbeitsunfall oder vor Eintritt der BK der Mutter gezeugt war" umfaßt würden. Da dem BVerfG keine Gesetzgebungsfunktion zukomme, sei in dem unmittelbaren Niederschlag der Entscheidung des BVerfG in der Kodifizierung des § 555a RVO durch den Bundesgesetzgeber noch nicht dessen alleiniger Wille zur schlichten Gesetzesformulierung der Entscheidung des BVerfG zu sehen. Die entstandene Vorschrift sei in ihrem Sinngehalt auszulegen. Es könne nicht angehen, daß sie - die Klägerin -, deren schicksalhafte Verbindung mit ihrer Mutter zu der vorliegenden Schädigung durch die BK ihrer Mutter geführt habe, aus dem Versicherungsschutz, den das Gesetz der Mutter angedeihen lasse, herausgenommen werde. Die Regelung durch das LSG sei korrekt und dem Fall angemessen. Dabei habe das LSG zutreffend auf Parallelentscheidungen aus der Kriegsopferversorgung hingewiesen. Genauso wie die Kriegseinwirkung (Lueserkrankung) fortwirke und das später gezeugte und mit der Erkrankung der Mutter infizierte Kind einen Entschädigungsanspruch habe, sei auch im vorliegenden Fall die Erkrankung an Hepatitis als eine fortwirkende Berufseinwirkung anzusehen. Eine Ablehnung ihres Entschädigungsanspruchs würde den verfassungsrechtlich gebotenen Gleichheitsgesichtspunkten zuwiderlaufen.

Wegen der Erkrankung der am 28. Oktober 1973 geborenen Schwester Barbara der Klägerin, deren Entschädigungsanspruch der Beklagte ebenfalls abgelehnt hat (Bescheid vom 24. Juli 1981) ist das Revisionsverfahren 2 RU 43/84 anhängig.

II

Die Revision des Beklagten ist begründet.

Die Klägerin hat wegen der bei ihr bestehenden Hepatitis B keinen Anspruch auf Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung.

Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung - ausgenommen die Fälle des § 555a RVO - setzen voraus, daß diese Leistungen beanspruchende Verletzten einen AU oder eine dem AU gleichstehende BK erlitten haben (§§ 537 Nr. 2, 547 und 551 Abs. 1 Satz 1 RVO).

Nach § 548 Abs. 1 Satz 1 RVO ist AU ein Unfall, den ein Versicherter bei einer versicherten Tätigkeit erleidet. Die Klägerin hat keine der in den §§ 539, 540 und 543 bis 545 RVO genannten - versicherten - Tätigkeit ausgeübt. Sie war, bevor sie an Hepatitis B erkrankte, niemals gegen AU versichert. Aus demselben Grund hat sie auch keine BK erlitten. Denn auch hierbei ist - wie beim AU bis auf die Fälle des § 555a RVO - Voraussetzung, daß die Krankheit bei einer der schon genannten Tätigkeiten erlitten worden ist. Die Klägerin hat sich jedoch nach ihrem Vorbringen und auch nach Auffassung des LSG wahrscheinlich während der Geburt an der Hepatitis B ihrer Mutter infiziert. Aufgrund der Vorschriften der §§ 548 und 551 RVO hat der noch nicht geborene Mensch - die Leibesfrucht - auch nach seiner Geburt keinen Anspruch auf Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung (vgl. Vorlagebeschluß des LSG Rheinland-Pfalz vom 16. Januar 1974 - L 3 U 37/73; Beschluß des BVerfG vom 22. Juni 1977, BVerfGE 45, 376, 385/386 = SozR 2200 § 539 Nr. 35 S. 102; so auch schon BSGE 10, 97).

Ein Entschädigungsanspruch der Klägerin ergibt sich aber auch nicht aus § 555a RVO, der durch Art. II § 4 Nr. 12 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren (SGB X) vom 18. August 1980 (BGBl. I 1469) - auch für Versicherungsfälle vor Inkrafttreten dieses Gesetzes (s. Art. 11 § 38) - in die RVO eingefügt worden ist. Nach dieser Vorschrift steht einem Versicherten gleich, wer als Leibesfrucht durch einen AU während der Schwangerschaft geschädigt worden ist. Anlaß für die Einfügung dieser Vorschrift war der bereits erwähnte Beschluß des BVerfG vom 22. Juni 1977 (a.a.O.), wonach die Regelung des Dritten Buches der RVO (i.d.F. des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes), mit Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG) insoweit unvereinbar war, als sie das als Leibesfrucht einer versicherten Mutter bei deren versicherter Tätigkeit geschädigte Kind nicht in den Unfallversicherungsschutz einbezog. § 555a RVO entspricht der Entscheidung des BVerfG und betrifft (nur) diejenigen Fälle, in denen das später geborene Kind schon vor dem AU oder vor Eintritt der einem AU gleichstehenden BK der Mutter gezeugt war (BVerfGE a.a.O. S. 285 = SozR 2200 § 539 Nr. 35 S. 101, 102; Lauterbach/Watermann, Gesetzliche Unfallversicherung, 3. Aufl., § 555a Anm. 3; Gitter, SGB-Sozialversicherung-Gesamtkommentar, 555a Anm. 3; Hamacher BG 1981, 150, 152; Schönberger/Friedel BG 1984, 708, 710/711; Podzun, Der Unfallsachbearbeiter, 3. Aufl., Kennzahl 300 S 3). Die Klägerin ist aber erst nach dem Eintritt der BK ihrer Mutter (Zeitpunkt des Versicherungsfalles: 25. Januar 1974) gezeugt worden (Empfängniszeit gem. § 1592 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches zwischen dem 27. Dezember 1974 und dem 27. April 1975).

Eine analoge Anwendung des § 555a RVO auf die Klägerin ist entgegen der Ansicht des LSG nicht möglich. Der Wortlaut dieser Vorschrift ist eindeutig. Aus der amtlichen Begründung (BT-Drucks. 8/4022 S. 93) geht gleichfalls hervor, daß der Gesetzgeber (nur) die als Leibesfrucht durch einen während der Schwangerschaft (s. dazu Urteil des Senats vom 30. April 1985 - 2 RU 43/84 -) eingetretenen AU (einschließlich BK) ihrer Mutter geschädigten Personen in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung einbeziehen wollte. Der ausdrückliche Hinweis in der amtlichen Begründung, daß die Regelung des § 555a RVO der Entscheidung des BVerfG vom 22. Juni 1977 (a.a.O.) entspricht, unterstreicht, daß nach dem Willen des Gesetzgebers eine noch weitergehende Regelung nicht beabsichtigt war. Unbeschadet der Aufgabe und Befugnis der Gerichte zu richterlicher Rechtsfortbildung sind die durch den Grundsatz der Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht durch Art. 20 Abs. 3 GG gesetzten Grenzen zu beachten (BVerfGE 65, 182, 190). Keinesfalls darf sich der Richter über das gesetzte Recht hinwegsetzen, weil es seinem Rechtsempfinden nicht entspricht. Es ist dem Richter verwehrt, in die Kompetenz des Gesetzgebers einzugreifen. Das gilt im vorliegenden Fall insbesondere deshalb, weil die Regelung des § 555a RVO für die gesetzliche Unfallversicherung atypisch ist. Anspruch auf Leistungen haben sonst nur diejenigen Personen, die einen AU oder eine BK bei einer versicherten Tätigkeit - nicht nur durch Gefahren des Arbeitslebens - erlitten haben. Damit ist für die gesetzliche Unfallversicherung konstitutiv, daß dem atypisch Bedürftigen Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung vorenthalten und nur dem zu einer typischen Gruppe gehörenden Leistungen bewilligt werden. Die Typisierung des bisher Atypischen, wie es durch § 555a RVO geschehen ist, hat die Bildung neuer Randgruppen und das Bedürfnis nach neuer Typisierung zur Folge, wie dies das vorliegende Verfahren zeigt (vgl. Zacher, Festschrift für Hans Peter Ipsen, 1977, S. 207, 253, 254 f.). Hier zu entscheiden kann nicht Aufgabe richterlicher Rechtsfortbildung sein, sondern muß der Entscheidung durch den Gesetzgeber vorbehalten bleiben.

Eine Nichteinbeziehung in die gesetzliche Unfallversicherung (auch) derjenigen Personen, die erst nach dem Eintritt eines AU (einschließlich BK) bei ihrer Mutter gezeugt und während der Schwangerschaft als Leibesfrucht durch die Folgen des AU (einschließlich BK) ihrer Mutter geschädigt worden sind, verstößt nach der Auffassung des Senats nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 GG). An dieser Entscheidung ist der Senat nicht durch den Beschluß des BVerfG vom 22. Juni 1977 (a.a.O.) gehindert, da dieser Beschluß ausdrücklich nur die Fälle erfaßt, in denen das Kind schon vor dem AU oder vor dem Eintritt der BK der Mutter gezeugt war (BVerfGE a.a.O. S. 385).

Kern der Entscheidung des BVerfG vom 22. Juni 1977 (a.a.O.) für die vornehmlich aus Art. 3 Abs. 1 GG i.V.m. dem Sozialstaatsprinzip abgeleiteten Verfassungswidrigkeit der Regelungen der RVO, das Kind einer versicherten Frau, das durch einen AU oder eine BK Während der Schwangerschaft als Leibesfrucht geschädigt worden ist, nicht in die gesetzliche Unfallversicherung einzubeziehen, war die Gleichheit der Gefahrenlage, die aus der natürlichen Verbundenheit von Mutter und Kind bei deren Beschäftigung entsteht (BVerfGE a.a.O. S. 388 = SozR 2200 § 539 Nr. 35 S. 104). Dem ist auch das LSG im angefochtenen Urteil gefolgt. Ohne auf die Kritik einzugehen, die insoweit an dem punktuellen Vergleich von Mutter und Leibesfrucht durch das BVerfG geäußert worden ist (vgl. Krause SGb 1978, 349, 350, Brackmann; Handbuch der Sozialversicherung, 9. Aufl., S. 4710), ist nach Auffassung des Senats im vorliegenden Fall nicht von der Gleichheit der Gefahrenlage auszugehen. Das BVerfG hat als maßgebende Gefahrenlage die angesehen, "der die Mutter bei ihrer Beschäftigung ausgesetzt ist" (BVerfGE a.a.O.). Dieses Merkmal hat auch der Gesetzgeber gewählt, an dem er Gleichheit und Ungleichheit seiner Regelung orientierte (BVerfGE 60, 113, 119). Ein Kind, das als Leibesfrucht während der Schwangerschaft seiner Mutter naturnotwendig an der versicherten Tätigkeit der Mutter teilnimmt und damit unmittelbar dem Risiko ausgesetzt ist, zusammen mit seiner Mutter einen AU oder eine BK zu erleiden, die zu Schäden bei ihm führen, befindet sich in einer anderen Gefahrenlage als ein erst nach dem AU (einschließlich BK) seiner Mutter gezeugtes Kind. Dieses Kind war als Leibesfrucht nicht naturnotwendig gezwungen an der versicherten Tätigkeit seiner Mutter teilzunehmen und hat dies auch nicht getan. Zwischen beiden Gruppen von Kindern bestehen Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht (BVerfGE 55, 72, 88; 60, 329, 346; 65, 377, 384), daß sie die unfallversicherungsrechtlich unterschiedliche Behandlung rechtfertigen. Das erst nach dem AU oder dem Eintritt der BK gezeugte Kind ist - hier - vergleichbar derjenigen Gefahr ausgesetzt, wie ein schon geborenes und von seiner Mutter gestilltes Kind, das auf diese Weise durch seine an einer BK leidenden Mutter infiziert worden ist. Daß im vorliegenden Fall die Klägerin sich auch erst Wochen nach ihrer Geburt beim Stillen infiziert haben könnte, ist von Prof. Dr. B. im Gutachten vom 9. Februar 1981 erörtert worden; erst in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 6. Juli 1981 hat er zum Ausdruck gebracht, daß im vorliegenden Fall die Hepatitis B der Klägerin mit allergrößter Wahrscheinlichkeit unter der Geburt, d.h. im Geburtskanal, übertragen worden ist.

Anders als der Versicherungsschutz des im Zeitpunkt der AU (einschließlich BK) bereits gezeugten Kindes würde die Einbeziehung auch nur derjenigen Personen in die gesetzliche Unfallversicherung, die - wie die Klägerin - nach dem AU (einschließlich BK) ihrer Mutter gezeugt und als Leibesfrucht während der Schwangerschaft ihrer Mutter durch die Folgen des AU (einschließlich BK) geschädigt worden sind, überdies eine neue Ungleichheit schaffen bzgl. der Kinder, die sich nach der Geburt bei ihrer an einer infektiösen BK leidenden Mutter infizieren. Es wäre dann nicht einzusehen, daß der bei einem Säugling oder Kleinkind naturnotwendige oder naturgegebene enge Kontakt mit seiner Mutter, z.B. beim Stillen oder bei der Wartung und Pflege, so atypisch gegenüber dem Kontakt der Leibesfrucht mit seiner Mutter ist, daß er unter Berücksichtigung des Art. 3 Abs. 1 GG zum Ausschluß von den Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung führen dürfte. Auch bei größeren behinderten Kindern oder bei alten behinderten Menschen kann ein für die Infektion maßgebender ähnlich enger Kontakt bei der Wartung und Pflege entstehen. Ebenso kann bei anderen Infektionserkrankungen eine Ansteckungsgefahr im größeren Umfang auch ohne so engen Kontakt allein durch die Verbundenheit in der Familie und ebenfalls ohne die Möglichkeit ausreichender medizinischer Gegenmaßnahmen - worauf es die Revision mit abstellt - bestehen, so daß die gleiche Gefahrenlage bei der Geburt und danach gegeben ist. Schon diese Beispiele zeigen, daß entgegen der Ansicht von Gitter (a.a.O.) die größeren Beweislastprobleme gerade bei einer Erstreckung des Versicherungsschutzes auch auf nach dem AU bzw. dem Eintritt der BK der Mutter gezeugten Kinder entstehen würden. Ob bei den beispielhaft erwähnten Fällen gleiche oder ungleiche Gefahrenlagen vorliegen und dadurch Gruppen zu bilden sind, die in die Unfallversicherung einzubeziehen sind oder außerhalb bleiben müssen, ist eine sozialpolitische Entscheidung, zumal da die Fälle nach Auffassung des Senats allesamt für die gesetzliche Unfallversicherung ebenso atypisch sind, wie der durch § 555a RVO geregelte Fall.

Aus diesen Gründen sind auch vom Sozialstaatsprinzip her keine durch den Richter vorzunehmenden neuen Typisierungen des Atypischen möglich (vgl. auch BVerfGE 65, 182, 191/192). Das Sozialstaatsprinzip zu verwirklichen ist in erster Linie Aufgabe des Gesetzgebers (BVerfGE a.a.O. S. 193). Des BVerfG hat zwar in seiner Entscheidung vom 22. Juni 1977 (BVerfGE 45, 376, 387 = SozR 2200 § 539 Nr. 35 S. 103) u.a. ausgeführt: "Die mit dem Arbeitsleben der Industriegesellschaft zwangsläufig verbundenen Risiken können nicht von dem einzelnen Arbeitnehmer getragen werden, sondern müssen durch umfassende Systeme der sozialen Sicherung, wie insbesondere durch die gesetzliche Unfallversicherung aufgefangen oder doch gemildert werden. Erst hierdurch ist es dem einzelnen möglich, seinen für die Allgemeinheit wichtigen Beitrag in der Arbeitswelt zu leisten". Das BVerfG hat "hiernach" die Einbeziehung des als Leibesfrucht einer versicherten Mutter geschädigten Kindes in die gesetzliche Unfallversicherung verfassungsrechtlich deshalb für geboten erachtet, weil wegen der natürlichen Einheit von Mutter und Kind die Gefahr, der die Mutter bei der Beschäftigung ausgesetzt ist, auch die Leibesfrucht bedrohen kann. Der Senat verneint jedoch, wie bereits dargelegt, bei nach dem AU oder dem Eintritt der BK gezeugten Kindern eine derartige Gleichheit der Gefahrenlage. Ebenso wurde schon dargelegt, daß das mit dem Arbeitsleben verbundene Risiko, andere Personen, die nicht im Arbeitsleben an der maßgebenden versicherten Tätigkeit teilgenommen haben, durch eine BK anzustecken, nicht vom Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung erfaßt ist.

Das Argument des LSG, daß eine Einbeziehung zumindest auch derjenigen Personen in die gesetzliche Unfallversicherung, die - wie die Klägerin - nach dem AU (einschließlich BK) ihrer Mutter gezeugt und als Leibesfrucht durch die Folgen des AU (einschließlich BK) ihrer Mutter geschädigt worden sind, sich aus dem Gesichtspunkt der sog. Haftungsfreistellung rechtfertige, vermag nicht zu begründen, daß die Einbeziehung dieser Personen verfassungsrechtlich geboten ist. Die zivilrechtliche Schadensersatzpflicht des Unternehmers und der ihm gleichgestellten Personen (§§ 636, 637 RVO) ist nur aus Unfällen von Personen abgelöst, die zum versicherungsrechtlich geschützten Personenkreis gehören. In dieser umfänglichen Beschränkung unterscheidet sich die gesetzliche Unfallversicherung wesentlich z.B. von der zivilrechtlichen Schadensersatzregelung bei unerlaubten Handlungen (BSGE 10, 97, 98 f., dort auch Auseinandersetzung mit BGHZ 8, 243). Die zivilrechtliche Haftung (s. Gitter a.a.O.) für den Schaden eines Kindes, den es als Leibesfrucht erlitten hat, weil seine Mutter vor der Empfängnis durch Verschulden eines Dritten sich mit Lues infiziert hat, ist daher nicht für die Entscheidung geeignet, ob derartige Kinder aus Gründen der Gleichheit (Art. 3 Abs. 1 GG) in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung einbezogen werden müssen, wenn die Infektion durch die jeweilige Mutter auf deren als BK anerkannten Krankheit beruht.

Solche Forderungen sind auch nicht aus dem vom LSG angeführten Urteil BSGE 20, 41 herzuleiten. Das BSG hat dort den Entschädigungsanspruch eines Kindes aus der Kriegsopferversorgung anerkannt, das sich während der Schwangerschaft seiner Mutter als Leibesfrucht an einer Lues infiziert hatte, an der die Mutter schädigungsbedingt litt. Hier, wie auch schon in dem Urteil BSGE 18, 55, ist der Entschädigungsanspruch aus der Kriegsopferversorgung zuerkannt worden, weil das BVG, insoweit als es solche Fälle nicht geregelt habe, eine Lücke im Gesetz vorliege, die vom BSG zu schließen sei (vgl. Äußerung des BSG auf Ersuchen des BVerfG vom 20. Dezember 1974 - 2 S 2/74). Eine vergleichbare Situation ist im vorliegenden Rechtsstreit nicht gegeben. Es ist auch vorauszusetzen, daß dem Gesetzgeber die Problematik bei der Einbeziehung der Leibesfrucht in die gesetzliche Unfallversicherung jedenfalls schon von der Zeit her bekannt ist, als ein im Ausschuß für Sozialpolitik des Bundestages gestellter Antrag, auch die Leibesfrucht gegen Schäden zu versichern, die ihm im Zusammenhang mit der beruflichen Tätigkeit der Mutter zugefügt werden, sowie Personen für genetische Schäden, die letztlich im Zusammenhang mit einem AU von Eltern oder Voreltern stehen, aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu entschädigen, abgelehnt wurde (Schriftlicher Bericht des Ausschusses BT-Drucks IV/938 - neu - S. 4 und 5); dem hat sich der Bundestag angeschlossen (Protokoll über die 62. Sitzung am 6. März 1963 S. 2821 ff.). Von einer Lücke in der RVO kann danach und seit der Einfügung des § 555a RVO nicht gesprochen werden.

Da der Senat die Nichteinbeziehung von Personen in die gesetzliche Unfallversicherung, die - wie die Klägerin - nach dem AU (einschließlich BK) ihrer Mutter gezeugt und als Leibesfrucht durch die Folgen des AU (einschließlich BK) ihrer Mutter geschädigt worden sind, nicht für verfassungswidrig hält, bedarf es keiner Aussetzung des Verfahrens und Einholung der Entscheidung des BVerfG über die Gültigkeit der Nichteinbeziehung (Art. 100 Abs. 1 GG).

Mangels eines Anspruchs der Klägerin auf Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung mußte das angefochtene Urteil des LSG aufgehoben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG vom 9. Dezember 1982 zurückgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.2 RU 44/84

Bundessozialgericht

Verkündet am

30. April 1985

 

Fundstellen

BSGE, 83

NJW 1986, 1569

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