Leitsatz (amtlich)

Anspruch auf Versorgung besteht auch für solche Gesundheitsstörung die auf Schädigungen vor der Geburt - unmittelbare Kriegseinwirkungen auf die Leibesfrucht - zurückzuführen sind.

 

Leitsatz (redaktionell)

Ein Kind kann vom Zeitpunkt seiner Geburt an nach BVG § 1 Ansprüche für solche Gesundheitsstörungen geltend machen, die durch schädigende Einwirkungen vor seiner Geburt verursacht worden sind .

Der Wortlaut dieser Vorschrift erfaßt zwar solche Gesundheitsstörungen nicht, es muß jedoch dem BVG zugrunde liegenden Entschädigungsgedanken entnommen werden, daß auch die Personen Ansprüche auf Versorgung erhalten sollten, bei denen nach der Geburt Gesundheitsstörungen vorhanden sind, die durch schädigende Einwirkungen iS des BVG vor ihrer Geburt verursacht worden sind. Da das BVG eine Regelung dieser Fälle nicht enthält, besteht insoweit eine Gesetzeslücke, die durch das Gericht den Zweck des Gesetzes entsprechend zu schließen ist. 2. Auch diejenigen Personen haben Anspruch auf Versorgung bei denen nach der Geburt Gesundheitsstörungen vorhanden sind, die durch schädigende Einwirkungen iS des BVG vor ihrer Geburt verursacht worden sind.

 

Normenkette

BVG § 5 Abs. 1 Buchst. d Fassung: 1953-08-07; BGB § 1 Fassung: 1896-08-18; BVG § 1 Abs. 1 Fassung: 1950-12-20, Abs. 2 Buchst. a Fassung: 1950-12-20

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts in München vom 12. Februar 1959 aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Gründe

Die Klägerin ist ... 1945 in D geboren. Sie stellte am 29. August 1952 einen Antrag auf Versorgung und machte darin geltend, daß ihre geistige und körperliche Unterentwicklung auf unmittelbare Kriegseinwirkungen zurückzuführen sei. Sie trug dazu vor, ihre Mutter sei nach der Besetzung von D durch russische Truppen in schwangerem Zustande von Polen gefangengenommen worden und habe in diesem Zustand schwere körperliche Arbeiten verrichten müssen. Während der Schwangerschaft sei die Mutter mehrfach vergewaltigt und schwer mißhandelt worden. Drei Tage nach der normal verlaufenen Geburt sei die Mutter an Typhus erkrankt und habe mit ihr zunächst in einem polnischen Lazarett gelegen. Hier seien sie zwar menschenwürdig behandelt worden, jedoch sei keine ausreichende Ernährung vorhanden gewesen. Nach der Entlassung aus dem Lazarett sei ihre Mutter bis zur Aussiedlung im Juni 1946 bei einem polnischen Arzt in Stellung gewesen, wo sie in einer Kellerwohnung hausen mußten. Der Mutter sei es nicht möglich gewesen, ihr Säuglingsnahrung zukommen zu lassen, insbesondere habe sie ihr nur zeitweilig etwas Milch, und diese auch nur in ganz geringen Mengen geben können. Sie sei stark unterernährt gewesen und infolgedessen in der Entwicklung zurückgeblieben.

Das Versorgungsamt ließ die Klägerin in der Universitätsklinik in E untersuchen und lehnte daraufhin den Versorgungsantrag mit Bescheid vom 20. November 1953 ab, weil die bei der Klägerin vorhandene körperliche und geistige Entwicklungsstörung nicht auf schädigende Einwirkungen i.S. der §§ 1,5 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zurückzuführen, sondern anlagebedingt sei.

Das Sozialgericht (SG) Bayreuth hat die Klage -- nachdem weitere Gutachten eingeholt worden waren -- mit Urteil vom 24. Januar 1957 abgewiesen. Das Bayerische Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 12. Februar 1959 die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Es hat ausgeführt, daß schädigende Einwirkungen, denen die Mutter der Klägerin vor der Niederkunft ausgesetzt war, nicht Versorgungsansprüche der Klägerin begründen konnten. Zwar gewähre das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) einer bereits erzeugten, aber noch nicht geborenen Person schon gewisse Rechte, dies ergebe sich aus den erbrechtlichen Vorschriften des BGB, insbesondere aus § 1923 BGB; jedoch kenne das BVG entsprechende Vorschriften nicht. Auch analog könnten die Vorschriften des BGB im Versorgungsrecht nicht angewendet werden, weil es sich bei der Frage, ob eine Leibesfrucht versorgungsrechtliche Ansprüche habe, um etwas wesentlich anderes handele als bei der durch § 1923 BGB geregelten Frage. Das Versorgungsrecht setze in jedem Fall eine Schädigung voraus und damit eine Person, die im Zeitpunkt der Schädigung bereits existent war. Daher könne eine noch nicht geborene Person versorgungsrechtlich nicht geschädigt werden und damit auch keine Versorgungsrechte erwerben. In diesem Zusammenhang sei auf eine Entscheidung des 12. Senats des Reichsversorgungsgerichts vom 24. März 1930 (RVG Bd. 9, 156 Nr. 37) hinzuweisen.

Als schädigende Vorgänge kämen demnach nur Ereignisse in Betracht, die nach der Geburt auf die Klägerin eingewirkt hätten. Die hierzu angeführten mangelhaften Ernährungsverhältnisse stellten aber keine mit der militärischen Besetzung D zusammenhängende besondere Gefahr i.S. des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG dar, weil nicht nur die Klägerin, sondern ganz allgemein -- wie gerichtsbekannt sei -- die Ernährungslage in D nach der Besetzung durch die russischen Truppen für alle dort lebenden Personen unzureichend gewesen sei. Die Auffassung, daß eine besondere Gefahr i.S. der erwähnten Vorschrift nicht bestanden hat, werde durch die besonderen Umstände, in denen die Klägerin und ihre Mutter gelebt haben, bestärkt. Im Krankenhaus seien sie gut behandelt worden und anschließend seien sie bei der ihnen von früher her bekannten polnischen Arztfamilie untergekommen. Hierdurch hätte ihre zweifellos beschwerliche Lage doch gewisse Erleichterungen erfahren. Da der Versorgungsanspruch schon aus rechtlichen Gründen verneint werden müsse, erübrige sich die Einholung eines weiteren Gutachtens. Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Klägerin hat gegen dieses am 5. Mai 1959 zugestellte Urteil mit einem beim Bundessozialgericht (BSG) am 19. Mai 1959 eingegangenen Schriftsatz Revision eingelegt; sie hat die Revision, nachdem die Begründungsfrist bis 5. August 1959 verlängert worden war, mit einem an diesem Tage beim BSG eingegangenen Schriftsatz vom 4. August 1959 begründet. Sie beantragt,

das angefochtene Urteil, das Urteil des SG Bayreuth vom 24. Januar 1957 sowie den Bescheid des Beklagten vom 20. November 1953 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, "geistige und körperliche Entwicklungsstörung" als Schädigungsfolge anzuerkennen und der Klägerin Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und Pflegezulage zu gewähren, hilfsweise, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, die Kosten in allen Rechtszügen dem Beklagten aufzuerlegen.

Die Klägerin rügt in ihrer Revisionsbegründung, auf die Bezug genommen wird, eine Verletzung der §§ 5 Abs. 1 Buchst. d und 5 Abs. 1 Buchst. e BVG sowie der §§ 103, 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).

Sie trägt dazu vor, das Berufungsgericht habe zu Unrecht angenommen, daß eine Person, die als nasciturus eine Schädigung i.S. des BVG erlitten hat, deswegen nicht Versorgung beanspruchen könne. Der Wortlaut des § 1 BVG stehe nicht unbedingt der Annahme entgegen, daß unter diesem "wer" hinsichtlich der erlittenen Gesundheitsschädigung nur eine natürliche, bereits existente, also rechtsfähige Person zu verstehen ist. Den Versorgungsanspruch als solchen mache nicht der nasciturus oder dessen gesetzlicher Vertreter für diesen in Wahrung dessen künftiger Rechte geltend, sondern die natürliche Person nach Eintritt ihrer Rechtsfähigkeit. Vom Wortlaut des BVG her stünden somit dem Anspruch Bedenken nicht entgegen, wenn die Gesundheitsschädigung zwar der noch nicht Geborene erlitten habe, Ansprüche daraus jedoch erst nach dem Eintritt der Rechtsfähigkeit hergeleitet würden. Eine derartige Auslegung entspreche auch dem Sinn des BVG, das einen umfassenden Schutz in allen Fällen gewähren wolle, in denen einer der Schädigungstatbestände des BVG gegeben ist. Es sei auch sozialpolitisch gerechtfertigt, Versorgung für Schädigungen zuzusprechen, die ein nasciturus erlitten hat. Wenn der Gesetzgeber für diesen Fall nicht an eine Versorgung gedacht haben sollte, so liege hier eine echte Gesetzeslücke vor, die vom Richter auszufüllen sei. Zwar habe der 2. Senat des BSG in seinem Urteil vom 23. Juni 1959 in einem ähnlich gelagerten Fall einen Anspruch aus der gesetzlichen Unfallversicherung verneint, jedoch ausdrücklich die Frage offen gelassen, ob die Rechtslage auf dem Gebiete des Versorgungsrechts wegen des dort erfaßten Personenkreises anders zu beurteilen sei. Die Gesichtspunkte, die für die Entscheidung des 2. Senats des BSG ausschlaggebend gewesen seien, könnten jedenfalls im vorliegenden Fall nicht zur Ablehnung des Anspruchs der Klägerin nach dem BVG führen.

Das LSG habe ferner den § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG auch insoweit verletzt, als es den Begriff der besonderen Gefahr verkannt habe. Es habe sich in Gegensatz zu dem Urteil des 9. Senats des BSG vom 6. Dezember 1955 (BSG 2, 99) gesetzt, wonach es sich um eine besondere Gefahr i.S. des § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG auch dann handelt, wenn innerhalb eines bestimmten Gebietes nicht nur einzelne Personen, sondern die gesamte Bevölkerung von einer Gefahr bedroht sind. Für diejenigen Deutschen, die im Winter 1945/46 und im Frühjahr 1946 in D zurückgeblieben seien, habe eine besondere Gefahr auch darin bestehen können, daß sie mit Lebensmitteln ungenügend oder gar nicht versorgt waren und daß diese Mangellage durch die der Besetzung eigentümlichen Maßnahmen verursacht war. Das LSG hätte insoweit noch den als Zeugen und Sachverständigen benannten Prof. Dr. H in F vernehmen müssen, der die damaligen Verhältnisse in D als Arzt miterlebt habe.

Gegen die Feststellung des LSG, daß sie und ihre Mutter in der Zeit des Krankenhausaufenthaltes und anschließend während der Aufnahme bei der Familie des polnischen Arztes gewisse Erleichterungen in ihrer zweifellos schweren Lage in D gehabt haben, seien ebenfalls verfahrensrechtliche Bedenken zu erheben. Sie hätte vorgetragen, daß sie nicht die genügende Ernährung zur Verhinderung einer Dystrophie erhalten habe. Insoweit habe das LSG seiner Amtsermittlungspflicht nicht genügt; es hätte diese Fragen durch persönliche Anhörung der Mutter aufklären müssen. Ferner habe das LSG sein Urteil nicht aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 128 SGG) gebildet, weil es die schriftlichen Erklärungen der Mutter und das ihm vorgelegte Gutachten von Prof. Dr. H vom 17. November 1957 nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt habe.

Die Klägerin macht weiter geltend, das LSG habe nicht ausreichend geprüft, inwieweit die Mangelzustände in D im Jahre 1945/46 nachträgliche Auswirkungen kriegerischer Vorgänge i.S. des § 5 Abs. 1 e BVG gewesen seien. Nach dem bereits erwähnten Urteil des 9. Senats (BSG 2, 99) könne durch die Zerstörung von Lebensmittelvorräten eine Hungergefahr für die Bevölkerung als kriegseigentümlicher Gefahrenbereich entstehen. Da im vorliegenden Fall das SG festgestellt habe, daß durch einen Luftangriff vom 24. März 1945 D schwer beschädigt gewesen und die Stadt am 27. März 1945 von den russischen Truppen besetzt worden sei, hätte das LSG der Ursache der Mangelzustände in D nachgehen müssen. Im übrigen habe bereits Prof. Dr. H in seiner Stellungnahme vom 17. November 1957 die Verhältnisse eingehend geschildert.

Der Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für richtig und ist der Auffassung, daß die von der Revision gerügten Verfahrensmängel nicht vorliegen.

Die durch die Zulassung statthafte Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und somit zulässig. Sie ist auch begründet.

Die Klägerin macht Versorgungsansprüche auf ihren Antrag vom 29. August 1952 hin geltend, also für eine Zeit nach ihrer Geburt, in der sie unzweifelhaft rechtsfähig gemäß § 1 BGB war. Insoweit kommt es für den Anspruch der Klägerin auf die Frage, ob und wieweit eine Leibesfrucht (nasciturus) rechtsfähig ist, nicht an. Diese Frage wird jedoch bedeutsam bei der Prüfung der Vorschrift des § 1 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. a i.V.m. § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG, auf welche die Klägerin ihren Versorgungsanspruch stützt; sie sieht den Tatbestand dieser Vorschrift als erfüllt an, und zwar durch Ereignisse, die vor ihrer Geburt liegen, insbesondere durch die Vergewaltigung und Mißhandlung ihrer Mutter vor der Niederkunft, wodurch auch sie als Leibesfrucht im Mutterleib geschädigt worden sei. Dem LSG ist zuzugeben, daß der Wortlaut des § 1 Abs. 1 BVG es nicht zuläßt, Versorgungsansprüche für die Folgen von Schädigungen zu gewähren, die jemand vor der Geburt als nasciturus erlitten hat. Nach dieser Vorschrift soll, "wer" durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung (§ 1 Abs. 2 Buchst. a BVG) -- hier durch schädigende Vorgänge, die infolge einer mit der militärischen Besetzung deutschen Gebietes zusammenhängenden besonderen Gefahr (§ 5 Abs. 1 Buchst. d BVG) eingetreten sind -- eine Gesundheitsschädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen der Schädigung auf Antrag Versorgung erhalten. Bei dem "wer" handelt es sich demnach stets um ein und denselben "Wer"; nur derjenigen Person, welche die Schädigung erlitten hat und bei welcher die Folgen der Schädigung eingetreten sind, steht auch der Versorgungsanspruch zu. Da den Versorgungsanspruch, also ein Recht, nur eine rechtsfähige Person erwerben kann -- was im übrigen auch aus § 7 BVG hervorgeht, wonach nur Personen mit einem bestimmten Staatsangehörigkeitsstatus versorgungsberechtigt sind --, muß derselbe "Wer", der die Schädigung erlitten hat, auch eine rechtsfähige Person gewesen sein. Rechtsfähig ist aber nach § 1 BGB eine Person erst mit Vollendung der Geburt, also nicht ein nasciturus. Der Senat hält alle anderen Meinungen, welche bereits der Leibesfrucht eine volle oder eine beschränkte Rechtsfähigkeit beimessen wollen (vgl. die eingehende Darstellung von Ernst Wolf/Hans Naujoks in "Anfang und Ende der Rechtsfähigkeit des Menschen", Frankfurter wissenschaftliche Beiträge, Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Reihe, Bd. 11, Frankfurt 1955; Deynet in "Die Rechtsstellung des nasciturus und der noch nicht erzeugten Person im deutschen, französischen, englischen und schottischen bürgerlichen Recht", Schriftenreihe der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Personenstandswesen, Frankfurt 1960), für unvereinbar mit dem klaren und eindeutigen Wortlaut des § 1 BGB, wonach die Rechtsfähigkeit des Menschen mit der Vollendung der Geburt beginnt. Den Zeitpunkt des Eintritts der Rechtsfähigkeit zu bestimmen, ist ebenso alleinige Angelegenheit der Rechtsordnung, wie den Zeitpunkt des Eintritts der Geschäftsfähigkeit, der Deliktfähigkeit, Volljährigkeit usw. beim Menschen zu bestimmen. Wenn die Rechtsordnung aber in § 1 BGB als Zeitpunkt für den Beginn der Rechtsfähigkeit einer Person die Vollendung der Geburt festgesetzt hat -- sie hätte dafür auch einen anderen Zeitpunkt bestimmen und dementsprechend das sonstige Recht gestalten können --, so muß sich jede Meinung mit dieser Rechtsordnung im Gegensatz befinden, die den Eintritt der Rechtsfähigkeit oder auch nur einer beschränkten Rechtsfähigkeit schon vor oder erst nach die Vollendung der Geburt legt. Mit Recht hat das LSG hervorgehoben, daß aus den Vorschriften des BGB, welche sich mit dem nasciturus befassen (§§ 331, 844, 1716, 1912, 1923, 1963, 2101 BGB, siehe auch § 38 JWG), nicht auf eine Durchbrechung dieses in § 1 BGB niedergelegten Grundsatzes geschlossen werden kann. Entweder handelt es sich bei diesen Vorschriften um die Sicherung von Rechten des künftigen Menschen, die diesem erst mit der Geburt und mit der Rechtsfähigkeit anfallen, oder es handelt sich um Rechte, die dritten Personen aus der Tatsache der Zeugung und des Bestehens einer Leibesfrucht erwachsen; keinesfalls handelt es sich dabei aber um Rechte, die dem nasciturus selbst und unmittelbar schon vor der Geburt zustehen. Von dem Grundsatz, daß der nasciturus nicht rechtsfähig ist, sind höchstrichterliche Entscheidungen bisher nicht abgegangen. Zwar hat der Bundesgerichtshof (BGH) im Urteil vom 20. Dezember 1952 (BGHZ 8, 243) einem Kinde Schadensersatzansprüche nach § 823 BGB zugebilligt für einen Schaden, den es dadurch erlitten hat, daß seine Mutter vor der Empfängnis mit einer Lues angesteckt worden war, jedoch ist in dieser Entscheidung die Frage der Rechtsfähigkeit des nasciturus überhaupt nicht angesprochen. Bei der Auslegung der Worte "ein anderer" in § 823 BGB -- bei welcher Gelegenheit vielleicht Anlaß gegeben gewesen wäre, die Frage zu erörtern, ob der dort erwähnte andere, widerrechtlich Verletzte eine rechtsfähige Person sein muß -- hat der BGH lediglich ausgeführt, der Schaden sei der Klägerin jedenfalls erst im Augenblick der Geburt entstanden, in einem Zeitpunkt also, als sie bereits eine rechtsfähige Person war. Es kann dahingestellt bleiben, ob der BGH, um seine Entscheidung auf § 823 BGB stützen zu können, sich mit der Frage der Rechtsfähigkeit des nasciturus hätte auseinandersetzen müssen, er hat es jedenfalls nicht getan; deshalb kann diese Entscheidung nicht für die Meinung derer angeführt werden, die dem nasciturus eine volle oder wenigstens eine beschränkte Rechtsfähigkeit beimessen. Allerdings scheint das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) eine andere Auffassung zu haben. Im Urteil vom 27. Februar 1962 (MdR 1962, 674 Nr. 87), in dem es einen vor der Vertreibung Erzeugten, aber erst nachher Geborenen als Vertriebenen i.S. des § 11 Lastenausgleichsgesetz ansieht, führt es aus, "Rechtsprechung und Schrifttum sind sich darüber einig, daß ein bereits Erzeugter eine beschränkte Rechtsfähigkeit jedenfalls insoweit besitzt, als es sich um den Erwerb von Rechten handelt". Abgesehen davon, daß das BVerwG a.a.O. für diese Ansicht nur Schrifttum und nicht auch Entscheidungen anführt, ist dabei übersehen, daß sowohl in der Rechtsprechung als auch im Schrifttum gegenteilige Ansichten vertreten worden sind (LG Stuttgart in NJW 1960, 1909, 1912, OLG Schleswig in NJW 1950, 388; RVA in EuM Bd. 24, 210; Weimar, Haftpflichtansprüche des Kindes im Mutterleib, MdR 1962, 780; vgl. auch Knoll in JR 1960, 403 und weitere in den o.a. Monographien von Wolf und Deynet angeführte Zitate). Die Entscheidung des BVerwG soll offenbar auch nicht von der erwähnten Begründung getragen werden, denn das BVerwG fährt dann weiter fort, es komme "bei der Frage, ob der Kläger Vertriebener sein kann, zunächst nicht auf seinen Rechtserwerb, sondern auf sein Schicksal an; dieses Schicksal ist an keine Rechtsfähigkeitsnorm gebunden". Die beiläufige und selbständig nicht näher begründete Bemerkung des BVerwG vermochte den Senat nicht in seiner Ansicht zu beeinflussen, daß ein nasciturus keine Rechtsfähigkeit besitzt.

Dieser Auffassung steht nicht entgegen, daß der nasciturus von der Rechtsordnung in mancherlei Beziehung und aus verschiedenen Erwägungen heraus geschützt ist (vgl. § 218 StGB, § 453 Abs. 2 StPO aF, § 5 Abs. 1 Nr. 2 JWG und die Vorschriften des MuSchG). Dahingestellt bleiben kann ferner, ob und Inwieweit der nasciturus auch gegen Eingriffe in "sein Leben" durch die Vorschriften des Grundgesetzes (GG) geschützt ist (vgl. Rohwer-Kahlmann, Die Rechtsstellung des nasciturus in der Unfallversicherung in JuS 1961, 285). Aus dem Umstand, daß der nasciturus Objekt der Rechtsordnung geworden ist, kann nicht der Schluß gezogen werden, daß er auch Subjekt eines Rechts (rechtsfähig) sein müsse.

Ist aber der nasciturus nicht rechtsfähig, dann kann nach dem Wortlaut des § 1 BVG die Klägerin keine Versorgung erhalten; denn, wenngleich die Gesundheitsstörung (Schaden) bei ihr nach der Geburt eingetreten ist, so war sie zur Zeit der Schädigung noch nicht der "Wer", unter dem der Anspruchsberechtigte, also eine lebende und rechtsfähige Person zu verstehen ist.

Bei Erlaß des BVG ist überhaupt nicht an den Fall gedacht worden, daß jemand einen Gesundheitsschaden durch eine kriegsbedingte Schädigung vor seiner Geburt erlitten haben könnte, sondern immer nur an den Fall, daß jemand als lebende (rechtsfähige) Person eine kriegsbedingte Schädigung erlitten hat. Dies geht aus der Vorgeschichte des Gesetzes hervor. Als nämlich bei den Verhandlungen des (26.) Ausschusses für Kriegsopfer- und Kriegsgefangenenfragen ein redaktioneller Vorschlag beraten wurde, wonach das Wort "wer" durch die Worte "Personen, die" ersetzt werden sollte, beließ man es bei dem "wer" in der Auffassung, daß mit der vorgeschlagenen Änderung inhaltlich nichts geändert würde und rein sprachlich zu einer solchen Änderung kein Anlaß bestände (Verhandlungen des 26. Ausschusses für Kriegsopfer- und Kriegsgefangenenfragen des Deutschen Bundestages über das Bundesversorgungsgesetz, Deutscher Bundestag, 1. Wahlperiode 1949, 1 C). Hätte man bei dem geschädigten "Wer" auch an den nasciturus gedacht, dann hätte der Änderungsvorschlag eine Inhaltsänderung gebracht, indem nunmehr von den Worten "Personen, die" unzweifelhaft nicht mehr der nasciturus miterfaßt sein konnte; der Änderungsvorschlag hätte also nicht mit der erwähnten Begründung abgelehnt werden können. Daß im BVG nur an die Schädigung einer lebenden Person gedacht ist, läßt sich weiterhin aus § 1 entnehmen, denn die dort angeführten Schädigungstatbestände, der militärische oder militärähnliche Dienst, die Kriegsgefangenschaft und die Internierung, können nur bei einer lebenden Person in Frage kommen. Das geht schließlich auch aus § 5 BVG hervor, denn die dort aufgeführten Einwirkungen können begrifflich "unmittelbar" immer nur eine lebende Person treffen. Deshalb ist es kein Zufall, wenn der Wortlaut des § 1 BVG so gefaßt ist, daß wegen Schädigungen, die auf eine Leibesfrucht eingewirkt haben, dem später Geborenen und mit Gesundheitsstörungen Behafteten Versorgungsansprüche nicht zustehen; dies ist vielmehr dem Umstand zuzuschreiben, daß der Gesetzgeber an diesen Fall nicht gedacht hat.

Wenngleich sich die Versorgungsansprüche der Klägerin -- soweit sie diese auf die als Leibesfrucht erlittenen Schädigungen zurückführt -- auch nicht auf den Wortlaut des § 1 Abs. 1 und Abs. 2 Buchst. a i.V.m. § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG stützen lassen, so sind sie dennoch aus anderen Erwägungen heraus grundsätzlich gerechtfertigt. Sie lassen sich zwar nicht mit der Erwägung begründen, daß die Mutter der Klägerin mit ihrer Leibesfrucht als eine Person anzusehen ist, so daß also die Mutter, eine lebende und rechtsfähige Person, geschädigt und damit auch dem Wortlaut des Gesetzes genügt wäre, wonach der geschädigte "Wer" eine lebende Person sein muß. Diese Begründung des Versorgungsanspruchs muß schon deshalb scheitern, weil in diesem Falle die Identität der geschädigten und der in ihrer Gesundheit gestörten und anspruchsberechtigten Person nicht mehr gewahrt wäre, die das Gesetz -- wie oben erörtert -- fordert. Schädigungen (Gesundheitsstörungen), die bei anderen als den unmittelbar geschädigten Personen auftreten, begründen keinen Versorgungsanspruch (BSG 11, 234).

Der Senat hält jedoch die Ansprüche der Klägerin dem Grunde nach für gerechtfertigt, weil hier im Wege der Rechtsfindung eine Lücke im BVG zu schließen ist und nach der vorzunehmenden Rechtsergänzung Versorgungsansprüche der Klägerin begründet sind. Der Wortlaut des § 1 BVG läßt es lediglich deshalb nicht zu, einer Person Versorgung zu gewähren, die Schädigungen i.S. des § 1 BVG vor ihrer Geburt als Leibesfrucht ausgesetzt war, weil an diesen Fall nicht gedacht worden ist. Wäre an diesen Fall aber gedacht worden, so hätte ihn das Gesetz so geregelt, wie er jetzt von der Rechtsprechung zu regeln ist. Das BVG will, wie schon seine vollständige Bezeichnung "Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges" besagt, die Opfer des Krieges versorgen. Als Opfer des Krieges muß aber auch eine solche Person angesehen werden, die durch kriegsbedingte und im übrigen als rechtserheblich anerkannte Schädigungstatbestände als Leibesfrucht so betroffen worden ist, daß sich bei ihr nach der Geburt Gesundheitsstörungen als Folgen der Schädigung zeigen. Daß dabei der zeitliche Eintritt der Gesundheitsstörungen längere Zeit nach der Schädigung der Entstehung des Versorgungsanspruchs nicht entgegensteht, bedarf keiner Erörterung.

Auch aus der Amtlichen Begründung zum Entwurf des BVG (Bundestagsdrucksache Nr. 1333, Deutscher Bundestag 1. Wahlperiode 1949, besonderer Teil zu § 1) geht hervor, daß durch das BVG Versorgung gewährt werden soll, wenn einer der erwähnten wehrdienst- oder kriegsbedingten Schädigungstatbestände zu Gesundheitsstörungen geführt hat. Sind daher durch eine unmittelbare Kriegseinwirkung i.S. des § 1 BVG i.V.m. § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG bei der Klägerin Gesundheitsstörungen eingetreten, so hat die Klägerin nach den mit dem BVG verfolgten Zielen Versorgung zu erhalten. In solchen Fällen muß das Gericht die Lücke im Gesetz ausfüllen (vgl. Enneccerus/Nipperdey, Allg. Teil des Bürgerlichen Rechts, 15. Aufl. 1959, § 58, 336, 342; Palandt, BGB, 17. Aufl., Einleitung V, 3, 7; Bartholomeyczik, Die Kunst der Gesetzesauslegung, Verlag Kommentator, Frankfurt 1951, 119 ff; Bender in JZ 1957, 594, 599; RGZ 115, 16; 162, 247; BVerfG 9, 111, 112; BVerwG 11, 263; BSG 2, 164; 5, 289; 6, 204; 14, 238). Im vorliegenden Falle ergänzt daher der Senat um das Recht des BVG in einem notwendigen und zulässigen Umfang, wenn er den Versorgungsanspruch der Klägerin dem Grunde nach für gegeben erachtet, obwohl die Gesundheitsstörung der Klägerin auf eine Schädigung vor ihrer Geburt zurückgeführt wird, als sie noch eine Leibesfrucht war.

Mit dieser Rechtsauffassung stellt sich der Senat nicht etwa in einen Gegensatz zu der im Urteil des 2. Senats vom 23. Juni 1959 (BSG 10, 97) vertretenen Rechtsauffassung, wonach Ansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung nicht für die Folgen von Schädigungen zu gewähren sind, die jemand erlitten hat, als er sich als Leibesfrucht im Mutterleib befand. Der 2. Senat hat seine Entscheidung auf Erwägungen aus dem Recht der gesetzlichen Unfallversicherung begründet, die für die Beurteilung des Versorgungsanspruchs nach dem BVG keine rechtliche Bedeutung haben.

Das LSG hat somit den Versorgungsanspruch der Klägerin, soweit er auf Schädigungen vor ihrer Geburt gestützt wird, rechtlich nicht zutreffend beurteilt. Das Urteil war schon aus diesem Grunde aufzuheben, da der Versorgungsanspruch allein schon wegen dieser Schädigung in vollem Umfang begründet sein kann, falls festgestellt wird, daß die bestehenden Gesundheitsstörungen der Klägerin wahrscheinlich auf diese Schädigungen vor ihrer Geburt zurückzuführen sind.

Aber auch soweit das LSG den Versorgungsanspruch der Klägerin abgelehnt hat, als er von der Klägerin auf mangelhafte Ernährung nach ihrer Geburt gestützt wird, ist das LSG von einer Rechtsauffassung ausgegangen, die nicht gebilligt werden kann. Wie die Klägerin zutreffend unter Hinweis auf BSG 2, 99 hervorhebt, können auch Mangelzustände, von denen die gesamte Bevölkerung einer Stadt betroffen ist, eine besondere Gefahr i.S. des § 1 Abs. 1 Buchst. d BVG darstellen, vorausgesetzt, daß diese Zustände durch die militärische Besetzung herbeigeführt und nicht die Folge einer allgemeinen kriegsbedingten Mangellage sind. Das LSG hätte sich daher nicht mit der Feststellung begnügen dürfen, daß in Danzig allgemein eine Versorgungsnotlage bestand und daß die Klägerin davon nicht schwerer betroffen worden sei als die übrige Bevölkerung D. Das LSG hätte vielmehr auch prüfen müssen, ob durch die Besetzung D eine Ernährungsnotlage eingetreten ist, die sonst nicht oder nicht in dem Umfange eingetreten wäre, und ob diese besondere Gefahr zu einer Schädigung und weiterhin zu einer Entwicklungsstörung der Klägerin geführt hat. In dieser Hinsicht hätte auch, selbst wenn durch die Besetzung nur die Milchversorgung D beeinträchtigt worden wäre, für die Klägerin als Kleinkind eine besondere Gefahr eintreten können.

Schließlich weist die Klägerin mit Recht darauf hin, daß das LSG ihren Anspruch auch unter dem Gesichtspunkt des § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG hätte prüfen müssen. Die Klägerin beruft sich auch in dieser Beziehung auf das Urteil in BSG 2, 99, in welchem ausgeführt ist, daß Kampfhandlungen, durch die Lebensmittel vernichtet oder verknappt worden sind, für die Bewohner eines "Sperrgebietes" -- die Entscheidung behandelt den Fall der belagerten Festung Königsberg -- einen kriegseigentümlichen Gefahrenbereich hinterlassen können. Das BSG wollte offenbar zum Ausdruck bringen, daß durch Kampfhandlungen herbeigeführte Mangelzustände, die allgemein keine "unmittelbaren" Einwirkungen kriegerischer Vorgänge darstellen, in einer belagerten Stadt für deren Einwohner zu einer unmittelbaren Einwirkung führen können, wenn jegliche Möglichkeit der Zufuhr abgeschnitten und eine sonst gegebene Möglichkeit des Ausgleichs der -- wenn auch allgemein im Kriege erschwerten -- Versorgung ausgeschlossen ist; die durch die Vernichtung von Lebensmitteln herbeigeführte Mangellage kann sich unter solchen Umständen als eine unmittelbare Einwirkung eines kriegseigentümlichen Gefahrenbereichs darstellen.

Das Urteil des LSG, das demnach auf einer Verkennung des § 1 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. a i.V.m. § 5 Abs. 1 Buchst. d BVG und auf der Nichtanwendung des § 5 Abs. 1 Buchst. e BVG beruht, war daher aufzuheben. In der Sache selbst konnte der Senat nicht entscheiden, da vom LSG Feststellungen zu den tatsächlichen Voraussetzungen für die Anwendung dieser Vorschriften nicht getroffen sind. Die Sache mußte daher an das LSG zurückverwiesen werden.

 

Fundstellen

BSGE, 55

NJW 1963, 1078

NJW 1963, 1894

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Deutsches Anwalt Office Premium. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge