Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 23.09.1957)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 23. September 1957 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

I

Die Klägerin ist am 19. November 1937 geboren; ihre Eltern betreiben eine Landwirtschaft. Zweieinhalb Monate vor der Geburt der Klägerin fiel ihre Mutter bei der Grummeternte von einem vier Meter hoch beladenen Wagen. Nach wenigen Tagen konnte sie ihrer Arbeit ohne bleibende Schäden wieder nachgehen.

Bei der Klägerin traten mit der Zeit Gesundheitsstörungen auf, die sich in den Entwicklungsjahren verstärkten. Im Jahre 1953 ergab eine klinische Untersuchung, daß die Klägerin an Muskelzucken leidet; die Wirbelsäule ist verkrümmt, das rechte Bein verkürzt. Nach der Meinung der Klinik liegt eine frühkindliche Hirnschädigung vor, die mit Wahrscheinlichkeit auf den Unfall der Mutter zurückzuführen ist.

Nachdem das klinische Untersuchungsergebnis feststand, erhob die Klägerin durch ihren Vater als gesetzlichen Vertreter Ansprüche aus der landwirtschaftlichen Unfallversicherung. Die Beklagte lehnte sie, ohne den Sachverhalt in medizinischer Hinsicht näher aufgeklärt zu haben, durch Bescheid vom 23. Februar 1955 aus Rechtsgründen ab. Sie vertrat die Auffassung, eine Schädigung der Leibesfrucht begründe keine Ansprüche nach dem Dritten Buche der Reichsversicherungsordnung (RVO), weil das werdende Kind – ebenso wie ein Kleinstkind unter vier Jahren – keine versicherte Tätigkeit ausübe und deshalb ein Arbeitsunfall bei ihm nicht vorliegen könne.

Das Sozialgericht (SG.) hat die hiergegen gerichtete Klage abgewiesen. Es hat zur Begründung seines Urteils vom 29. September 1955 ausgeführt: Der Arbeitsunfall vom August 1937 habe die Mutter der Klägerin getroffen; die Schädigung der Leibesfrucht sei eine Schädigung eines Teiles der Mutter gewesen, ohne jedoch in ihr in Erscheinung zu treten. Endgültig geschädigt sei nur die Klägerin. Ihre Schädigung sei aber nicht die Folge eines Arbeitsunfalls, denn sie gehöre nicht dem versicherten Personenkreis an. Es sei auch begrifflich nicht möglich, einen Unfall, der eine Person treffe, zugleich einer zweiten Person zuzurechnen, die zu jenem Zeitpunkt noch nicht vorhanden gewesen sei. Der klare Wortlaut und die Systematik des Gesetzes ließen die Gewährung einer Entschädigung nicht zu. Es sei nicht möglich, im Wege der Auslegung und Ergänzung neues Recht zu schaffen.

Mit der Berufung zum Bayerischen Landessozialgericht (LSG.) hat die Klägerin vor allem vorgebracht: Das SG. habe verkannt, daß die Klägerin als Teil ihrer Mutter geschädigt worden sei und deshalb auch als Teil ihrer Mutter einen Arbeitsunfall erlitten habe. Der Arbeitsunfall, entfalle nicht dadurch, daß die Frucht sich später zu einer selbständigen Person entwickelt habe. Das SG. sei bei dem Wortlaut des Gesetzes stehen geblieben, anstatt durch Auslegung zu seinem sozialen Zweck und Geist vorzustoßen.

Das LSG. hat die Berufung durch Urteil vom 23. September 1957 im wesentlichen mit folgender Begründung zurückgewiesen: Die Klägerin habe dem nach § 544 RVO – in der zur Zeit des Unfalls geltenden Fassung (a.F.) – versicherten Personenkreis nicht angehört. Der Unfall sei deshalb für sie kein Arbeitsunfall im Sinne der RVO gewesen. Nur die Mutter der Klägerin sei versichert gewesen; sie habe aber durch den Unfall keinen bleibenden gesundheitlichen Schaden erlitten, vielmehr nur einen ideellen und – im Hinblick auf ihre Unterhaltspflicht gegenüber der Klägerin – einen wirtschaftlichen Schaden. Diese beiden Schadensarten seien jedoch nicht entschädigungsfähig. Eine Entschädigungspflicht der Beklagten lasse sich auch nicht damit begründen, daß die Klägerin vor der Geburt als Teil ihrer Mutter versichert gewesen sei und als solche einen Arbeitsunfall erlitten habe, denn Voraussetzung eines Entschädigungsanspruchs sei die Existenz einer selbständigen natürlichen Person. Das ungeborene Kind sei auch in anderen Rechtsbereichen als der gesetzlichen Unfallversicherung nur da geschützt, wo der Gesetzgeber dies ausdrücklich bestimmt habe. – Das LSG. hat die Revision zugelassen.

Das Urteil ist der Klägerin am 8. November 1957 zugestellt worden. Sie hat hiergegen am 3. Dezember 1957 Revision eingelegt und das Rechtsmittel mit zwei Schriftsätzen begründet, die am 3. und 24. Dezember 1957 beim Bundessozialgericht (BSG.) eingegangen sind. Die Revision rügt Verletzung der §§ 537, 544, 555 in Verbindung mit §§ 915, 922, 930 RVO. Im einzelnen führt sie hierzu aus: Die Begründung des angefochtenen Urteils sei unzulänglich. Es sei nicht richtig, daß die Leibesfrucht im geltenden Recht nur dort geschützt sei, wo das Gesetz dies ausdrücklich bestimme. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH.) sei der nach § 823 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) verantwortliche Schädiger, wenn die Schädigungshandlung zugleich eine Leibesfrucht getroffen habe, auch dem Kinde gegenüber zum Schadensersatz verpflichtet. Dies gelte sogar, wenn das Kind erst nach der Schädigungshandlung erzeugt worden sei (BGHZ. 8 S. 243). Das LSG. habe § 544 RVO a.F. insofern unrichtig ausgelegt, als nicht nur der dort aufgeführte Personenkreis Versicherungsschutz genieße. Werde die Leibesfrucht geschädigt, so sei bis zur Geburt die Mutter einschließlich der Leibesfrucht geschädigt und geschützt. Nach der Geburt bleibe der Schutz der nunmehr selbständig gewordenen Leibesfrucht bestehen; denn ihr versicherungsrechtlicher Status könne durch die Geburt nicht zum Nachteil des Kindes verändert werden. Dasselbe gelte, wenn eine Schädigung der Leibesfrucht erst nach der Geburt erkennbar werde. Zu diesem Ergebnis komme man auch nach den allgemein anerkannten Grundsätzen für die Auslegung von Rechtsvorschriften. Selbst bei anscheinend unzweideutigem Wortlaut müsse jede Vorschrift nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes ausgelegt werden. Wenn man den Wortlaut des § 544 RVO a.F. zum Beweise dafür heranziehen wolle, daß in der gesetzlichen Unfallversicherung – im Unterschied zu §§ 844, 845 BGB – Dritte nicht geschützt seien, so sei zu beachten, daß die Leibesfrucht im Augenblick der Schädigung kein Dritter, sondern Bestandteil der Mutter gewesen sei. Sinn und Zweck der Unfallgesetzgebung verlangten den Schutz der Leibesfrucht. Dies folge einmal aus den Auswirkungen der §§ 898, 901 RVO. Wenn man dem als Leibesfrucht geschädigten Kinde den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung versage, könne es für den Fall, daß ein Unternehmer für die Schädigung verantwortlich sei, zu widersprechenden Entscheidungen hinsichtlich der Ansprüche der Mutter einerseits und des Kindes andererseits kommen, weil über jene Ansprüche die ordentlichen Gerichte unter teilweiser Bindung an gewisse Entscheidungen der Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit, über diese Ansprüche aber die ordentlichen Gerichte unbeschränkt zu entscheiden hätten. Außerdem bezwecke die Sozialversicherung den Schutz der wirtschaftlich Schwachen gegen Schädigungen bei der Arbeit. Dies sei im sozialen Rechtsstaat besonders zu beachten (Art. 20 GG). Komme man nicht schon mit diesen Begründungen zur Bejahung des Versicherungsschutzes für die Leibesfrucht, so bestehe eine echte Gesetzeslücke; diese müsse im Sinne des von der Klägerin erstrebten Ergebnisses ausgefüllt werden, damit eine offensichtliche Ungerechtigkeit vermieden werde. Bejahe man somit den Versicherungsschutz für die Leibesfrucht, so sei es rechtlich unbedenklich, in Abweichung von der Regel, daß der Anspruch aus der Unfallversicherung dem versicherten Beschäftigten zustehe, der Klägerin selbst einen Anspruch auf ärztliche Behandlung und Krankenpflege zuzubilligen. Stimme man dem nicht zu, so sei die Mutter zugunsten der Klägerin anspruchsberechtigt. Ähnliche Regelungen, nach denen nicht der Begünstigte, sondern ein Dritter Anspruchsträger sei, fänden sich z. B. in §§ 1940, 525 und 527 Abs. 2 BGB. Gegebenenfalls hätte das LSG. darauf hinwirken müssen, daß ein Antrag auf Leistung an die Mutter gestellt worden wäre. Zur Geltendmachung eines Anspruchs der Mutter sei deren Ehemann, der gesetzliche Vertreter der Klägerin, nach § 1380 BGB auch im Verfahren der Sozialgerichtsbarkeit befugt.

Die Klägerin beantragt,

unter Aufhebung der Urteile der Vorinstanzen und des Bescheides der Beklagten vom 23. Februar 1955 die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das LSG, oder das SG. zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie führt aus: § 544 RVO a.F. sehe einen Versicherungsschutz nur für Personen vor, die in einem Arbeitsverhältnis zu einem Betrieb stehen. Dies sei bei einer Leibesfrucht nicht der Fall. Das angeführte Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH.) sei hier nicht verwertbar, weil Anspruchsberechtigter nach § 823 BGB jedermann sein könne, auf dem Gebiet der gesetzlichen Unfallversicherung aber nur derjenige Verletzte, der einer versicherten Tätigkeit nachgehe und zwischen dessen Tätigkeit und dem Unfallereignis ein ursächlicher Zusammenhang bestehe. Die Leibesfrucht sei jedoch nicht tätig. Wenn schon ein Kleinkind, das von seiner Mutter aus Gründen der Beaufsichtigung zur Arbeit mitgenommen werde und mit der Mutter verunglücke, keinen Anspruch aus der gesetzlichen Unfallversicherung habe, so müsse dies erst recht für die Leibesfrucht gelten. Das von der Klägerin erstrebte Ergebnis könne auch nicht durch entsprechende Anwendung von Sondervorschriften des bürgerlichen Rechts erreicht werden, durch welche die Leibesfrucht bereits in das Rechtsleben einbezogen werde (§ 844 Abs. 2, §§ 1912, 1923 Abs. 2 BGB, § 38 JWG). Vorschriften dieser Art kenne das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung nicht. Ebensowenig bestehe ein Anlaß zur Lückenausfüllung. Das Gesetz habe bewußt einen weiteren als den in § 544 RVO a.F. aufgeführten Personenkreis von der Versicherung ausgeschlossen. Das aus §§ 898, 901 RVO hergeleitete Argument der Revision sei nicht überzeugend. Bin und dasselbe Unfallereignis, das zwei Personen geschädigt habe, könne in seiner versicherungsrechtlichen Bedeutung für die beiden Verletzten durchaus verschieden beurteilt werden. Schließlich hält die Beklagte die Zubilligung des geltend gemachten Entschädigungsanspruchs an die Klägerin insofern für systemwidrig, als es an einer Reihe von Merkmalen fehle, die für die abstrakt zu berechnende Entschädigung notwendig seien, z. B. dem Unfallzeitpunkt, dem Beginn der Entschädigung und dem Jahresarbeitsverdienst.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist zulässig, aber nicht begründet.

Selbst wenn die bei der Klägerin festgestellten gesundheitlichen Schädigungen – die Vorinstanzen haben dies als richtig unterstellt – auf den Arbeitsunfall zurückzuführen sind, den die Mutter der Klägerin während ihrer Schwangerschaft erlitten hat, ist die Beklagte der Klägerin nicht zur Entschädigung verpflichtet.

Das LSG. hat die Frage, ob der Klägerin der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung zugute kommt, mit Recht nach § 544 RVO in der vor dem Inkrafttreten des Sechsten Gesetzes über Änderungen in der Unfallversicherung vom 9. Februar 1942 (6. ÄndG) geltenden Fassung (a.F.) beurteilt. Diese den Kreis der versicherten Personen umschreibende Vorschrift, die für die hier in Betracht kommende landwirtschaftliche Unfallversicherung entsprechend galt (§ 922 RVO a.F.), bringt eindeutig zum Ausdruck, daß die gesetzliche Unfallversicherung sich nicht auf alle Schäden erstreckt, die von versicherten Betrieben und Tätigkeiten ihren Ausgang nehmen und als Auswirkung von Unfällen in Erscheinung treten: geschützt ist vielmehr nur ein bestimmter Personenkreis und dieser auch nur bei bestimmten – versicherten – Tätigkeiten, für die allein Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung entrichtet werden. Dementsprechend ist auch die zivilrechtliche Schadensersatzpflicht des Unternehmers und ihm Gleichgestellter (§§ 898, 899 RVO) nur aus Unfällen von Personen abgelöst, die zum versicherungsrechtlich geschützten Personenkreis gehören. In dieser umfänglichen Beschränkung unterscheidet sich die gesetzliche Unfallversicherung wesentlich z. B. von der zivilrechtlichen Schadensersatzregelung bei unerlaubten Handlungen (§§ 823 ff. BGB).

Auf dem Gebiet der unerlaubten Handlungen ist jedermann, der durch ein bestimmtes Ereignis Schaden erlitten hat, entschädigungsberechtigt. Deshalb genügte in dem von der Revision angeführten Falle (BGHZ. 8 S. 243) für die Anerkennung des Schadensersatzanspruchs des mit angeborener Lues behafteten Kindes, daß die Mutter infolge des Verschuldens einer Person, für welche das beklagte Krankenhaus einzustehen hatte, mit Lues angesteckt worden war. Billigt jedoch das Gesetz einen Entschädigungsanspruch nur einem näher bestimmten Personenkreis zu, wie dies für die gesetzliche Unfallversicherung zutrifft, so setzt die Zuerkennung des Anspruchs voraus, daß der Geschädigte diesem Personenkreis angehört. Daß die Klägerin weder im Zeitpunkt des Unfalls noch im Zeitpunkt ihrer Geburt in einem versicherten betrieb oder einer versicherten Tätigkeit beschäftigt war, steht außer Zweifel. Sie gehört deshalb nicht zu dem Kreis der nach § 544 RVO a.F. versicherten Personen. Auch aus den ergänzenden Vorschriften der §§ 544 a, 545, 545 a bis 554 c RVO a.F. ergibt sich für sie eine solche Rechtsstellung nicht. Die Auffassung der Revision, der Kreis der versicherten Personen sei im Gesetz nicht erschöpfend aufgeführt und deshalb einer Ausdehnung fähig, hält der Senat für unrichtig. Ebenso wie in §§ 537 bis 543, 553 a RVO a.F. die versicherten Betriebe und Tätigkeiten abschließend aufgeführt sind, gilt das auch für die Bezeichnung des versicherten Personenkreises in § 544 RVO a.F. und den oben angeführten ergänzenden Vorschriften.

Der Senat vermochte auch der Ansicht der Revision nicht beizupflichten, aus der anfänglichen Schädigung der Leibesfrucht als eines Teiles der Mutter sei ein durch die Geburt nicht mehr nachteilig veränderbarer sozialversicherungsrechtlicher Status des Kindes herzuleiten. Daraus, daß die Mutter zur Zeit des Unfalls versichert und die Leibesfrucht damals ein Teil der Mutter war, ergibt sich nicht, daß auch die Leibesfrucht als solche oder nach ihrer Geburt das Kind versichert sei. Die Leibesfrucht ist nicht versichert, weil sie weder beschäftigt sein kann noch Rechtssubjekt ist. Allerdings gibt es Rechtsvorschriften, die praktisch zu einer beschränkten Rechtsfähigkeit der Leibesfrucht führen (z. B. §§ 1923 Abs. 2 und 1912 BGB, § 38 JWG), diese gelten jedoch nur für die Rechtsgebiete, für die sie geschaffen sind. War die Leibesfrucht somit nicht versichert, so konnte sie auch keinen versicherungsrechtlichen Status haben, und es konnten von ihr mit der Geburt keine Rechte oder Anwartschaften auf die Klägerin übergehen.

Auch außerhalb des § 544 RVO a.F. finden sich im Gesetz keine Anhaltspunkte für die Auffassung, daß sich der Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung auf das werdende Kind einer von einem Arbeitsunfall betroffenen Mutter erstrecke. Der Revision ist zwar zuzugeben, daß im Falle einer gerichtlichen Inanspruchnahme eines Unternehmers im Hinblick auf §§ 898, 901 RVO unterschiedliche Entscheidungen ergehen können, wenn man mit den Vorinstanzen die Meinung vertritt, daß nur in der Person der Mutter, nicht aber auch in der Person des nachgeborenen Kindes ein Arbeitsunfall vorliegen könne. Daraus folgt aber nicht, daß die Schädigung des Kindes ebenso wie eine solche der Mutter als Arbeitsunfall gewertet werden müsse. Weder vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit noch vor den ordentlichen Gerichten läßt sich – auch nicht durch die Regelung des § 901 RVO – ausschließen, daß die Ansprüche mehrerer, durch dasselbe Ereignis verletzter Personen unterschiedlich beurteilt worden. Dem kann hier nicht entgegengehalten werden, daß die Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls nicht eine von ihrer Mutter verschiedene Person, sondern ein Teil derselben gewesen sei; denn Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits ist nicht der Schaden einer Leibesfrucht, sondern der Schaden, den die Klägerin dadurch erlitten hat, daß sie als Mensch mit einer Gehirnschädigung oder mit der Anlage zu einer solchen geboren worden ist (vgl. BGHZ. 8 S. 243 [248, 249]).

Das Ergebnis, zu dem das LSG. gelangt ist, verstoßt auch nicht gegen den Sinn und Zweck des Gesetzes oder gegen den verfassungsrechtlich festgelegten Grundsatz der Sozialstaatlichkeit (Art. 20 Abs. 1, Art. 28 Abs. 1 GG). Die gesetzliche Unfallversicherung verfolgt allerdings den Zweck, die wirtschaftlich Schwachen, insbesondere die in abhängiger Stellung beschäftigten Personen, weitgehend gegen die Auswirkung von Schädigungen bei der Arbeit zu sichern. Schon in dieser Zwecksetzung des Dritten Buches der RVO hat der später in das Grundgesetz übernommene Grundsatz der Sozialstaatlichkeit, unter dem man herkömmlicherweise ein Schutzprinzip zugunsten der wirtschaftlich Schwächeren versteht (vgl. Dersch in Sozialreform und Sozialrecht, Festschrift für Bogs, S. 59 [63] weiteren Nachweisen; BGH. in NJW. 1954 S. 891), Ausdruck gefunden. Aus dem Zweck des Gesetzes und dem Grundsatz der Sozialstaatlichkeit können jedoch keine bestimmten positiven Anspruchsfolgerungen gezogen werden (vgl. Dersch a.a.O. S. 65; Müller, Der Betriebsberater 1955 S. 577 [579]). Deshalb läßt sich aus dem Zweck des Gesetzes und dem Grundsatz der Sozialstaatlichkeit kein Entschädigungsanspruch für eine Person herleiten, die nicht beschäftigt und deshalb auch nicht versichert gewesen ist.

Schließlich besteht auch keine Möglichkeit, auf dem Wege der Ausfüllung einer Lücke im Gesetz oder durch Fortbildung des Rechts zum Versicherungsschutz für die Leibesfrucht zu gelangen. Eine Lücke im Gesetz ist nicht erkennbar. Der Anspruch, den die Klägerin aus einem Unfall ihrer Mutter während der Schwangerschaft herleitet, kann nicht schon deshalb als vom Gesetzgeber versehentlich übergangen angesehen werden, weil er sich bei einer versicherten Tätigkeit – der Mutter – ereignet hat. Soweit die Klägerin von diesem Unfall betroffen wurde, wird dessen Auswirkung vom Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung nicht erfaßt. Fälle dieser Art gibt es nicht nur bei einem Kind, das als Leibesfrucht einem Unfall der Mutter ausgesetzt war, sondern auch bei einem Kind, daß infolge einer vor der Empfängnis aufgetretenen Berufskrankheit oder einer unfallbedingten Schädigung der Mutter krank zur Welt kommt. Ähnliches gilt für ein Kind, das auf der Arbeitsstätte spielt oder von der arbeitenden Mutter auf dem Arm gehalten wird und dabei mit dieser verunglückt oder als Augenzeuge eines Unfalls der Mutter von einer Schockwirkung betroffen wird. In allen diesen – hier nicht zu entscheidenden – Fällen liegt es vom sozialen Schutzprinzip her gesehen, nahe, den betroffenen Kindern eine Entschädigung zu gewähren; gleichwohl bestehen, wie auch die Revision einräumt, solche Ansprüche nicht gegen den Träger der gesetzlichen Unfallversicherung. Im Hinblick auf das Ergebnis in diesen Fällen ist es entgegen der Auffassung der Revision keine offensichtliche Ungerechtigkeit, wenn auch der Klägerin ein Entschädigungsanspruch aus der gesetzlichen Unfallversicherung versagt wird. Für die Annahme, daß der Gesetzgeber alle diese Fälle der auf einen Arbeitsunfall zurückzuführenden Schädigung einer dritten Person, also mittelbarer Schäden, übersehen hätte und das Gesetz deshalb lückenhaft wäre, besteht kein Anhaltspunkt.

Zur Fortbildung des Rechts in der Auslegung des § 544 RVO a.F. wäre der erkennende Senat berechtigt und verpflichtet, wenn in der Frage, ob die Leibesfrucht zum versicherten Personenkreis gehört, die bisherige Anwendung des Gesetzes auf überholten Rechtsanschauungen beruhte und mit den neueren Rechtsgrundsätzen nicht mehr zu vereinbaren wäre (vgl. BGHZ. 1 S. 90, 315 und 2 S. 132; BAG. in AP Nr. 4 zu § 11 KSchG; BSG. 2 S. 164 [168–170]). An diesen Voraussetzungen fehlt es jedoch. Zwar ist der Kreis der in der gesetzlichen Unfallversicherung versicherten Personen mehrmals, insbesondere durch das 6. Änderungsgesetz, erweitert worden, es wird aber von der Revision weder behauptet noch ist ersichtlich, daß im Laufe der Zeit eine Wandlung der Rechtsanschauung in dem Sinne eingetreten sei, daß die Leibesfrucht einer Versicherten ebenfalls als versichert zu gelten habe. Die gesetzliche Unfallversicherung ist auch nach neuerem Recht nicht eine allgemeine Volksunfallversicherung oder auch nur eine Unfallversicherung der wirtschaftlich Schwächeren, sondern eine Versicherung Beschäftigter gegen Arbeitsunfälle. Diesen Grundgedanken läßt auch noch diejenige Gesetzesvorschrift klar erkennen, die nach Art einer Generalklausel den Umfang des – schwerpunktmäßig durch Beschäftigung in einem Arbeits-Dienst- oder Lehrverhältnis gekennzeichneten – versicherten Personenkreises am stärksten ausweitet: 537 Nr. 10 RVO in der Fassung des 6. Änderungsgesetzes, der häufig auf Personen anwendbar ist, die vor dem Unfall in keinerlei versicherungsrechtlicher Beziehung zum entschädigungspflichtigen Träger der Unfallversicherung standen, setzt doch voraus, daß diese Personen den Unfall bei einem Tätigwerden „wie ein Versicherter” erlitten, d. h. nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (BSG. 5 S. 168; SozR. RVO § 537 Bl. Aa 13 Nr. 12) in der Regel bei einer ernstlichen, dem Unternehmen dienenden Arbeitsleistung. Für die von der Revision erstrebte Ausdehnung des Versicherungsschutzes auf die Leibesfrucht im Wege der Fortbildung des Rechts, wozu der erkennende Senat ebensowohl wie der Große Senat berufen gewesen wäre (BSG. 2 S. 164) war daher kein Raum. Bei dieser Rechtslage sah sich der Senat nicht veranlaßt, der Anregung der Klägerin entsprechend eine Entscheidung des Großen Senats herbeizuführen (§ 43 SGG).

Die Auffassung, daß die Klägerin keinen Versicherungsschutz genießt, weil es bei ihr an der Voraussetzung des Beschäftigtseins fehlt, findet eine Stütze in der Behandlung ähnlicher Fälle auf dem Rechtsgebiet des Bundesgesetzes zur Entschädigung für Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung (BundesentschädigungsgesetzBEG –) in der Fassung vom 29. Juni 1956 (BGBl. I S. 562). Nach diesem Gesetz hat Anspruch auf Entschädigung, wer aus bestimmten Gründen verfolgt war und geschädigt wurde. Auch hier gibt es Fälle, in denen die durch eine Verfolgungshandlung bewirkte Schädigung der Mutter sich auf werdende Kinder ausgewirkt hat. Ihnen wird nur dann Entschädigung gewährt, wenn alle Anspruchsvoraussetzungen – Schädigung und Verfolgtsein – in der Person des Kindes erfüllt sind (LG. Hamburg, NJW.-RzW. 1957 S. 402 Nr. 22; Küster, NJW.-RzW. 1957 S. 249 mit ablehnender Besprechung einer Entscheidung des LG. München – NJW.-RzW. 1957 S. 276 –, durch die einem nach der Schädigungshandlung geborenen Kinde der unmittelbar geschädigten Mutter die Entschädigung versagt wurde, weil es nur mittelbar geschädigt sei).

Da im vorliegenden Rechtsstreit nur das – im Revisionsverfahren nicht mehr durch seinen Vater gesetzlich vertretene (vgl. BSG. SozR. SGG § 71 Bl. Da 1 Nr. 2) – Kind als Klägerin beteiligt ist, hatte der Senat nicht zu prüfen, ob etwa der Mutter der Klägerin Ansprüche aus der gesetzlichen Unfallversicherung zustehen. Ihr Eintritt in das Verfahren neben oder anstelle der Klägerin wäre nach feststehender Rechtsprechung und der fast einhelligen Lehre im Schrifttum, die in einem Parteiwechsel eine Klageänderung sehen (RGZ. 108 S. 350 und 141 S. 277 [283]; BGH., Lindenmaier-Möhring, Nachschlagewerk des BGH., § 264 ZPO Nr. 8; Stein-Jonas, Zivilprozeßordnung, 18. Auflage, § 268 Anm. II; Baumbach-Lauterbach, Zivilprozeßordnung, § 264 Anm. 2 C; neuerdings auch Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 7. Auflage, S. 469), schon nach § 168 SGG unzulässig. Im übrigen wäre der Parteiwechsel jedenfalls in der Revisionsinstanz, weil er dem Wesen der Revision als einer reinen Rechtskontrolle widerspräche, nicht möglich (vgl. RGZ. 160 S. 212; Rosenberg a.a.O. S. 169). Das LSG. hat auch nicht gegen Vorschriften des Verfahrensrechts verstoßen, indem es unterlassen hat, darauf hinzuwirken, daß die Klägerin auf Leistung an ihre Mutter klagte oder die Mutter als Klägerin in den Rechtsstreit eintrat. Hierzu hatte das LSG. keine Veranlassung, weil nach seinem sachlich-rechtlichen Standpunkt keine der nach der Meinung der Revision in Betracht kommenden Personen wegen des Unfalls vom August 1937 einen Anspruch gegen den Träger der gesetzlichen Unfallversicherung hat (vgl. BSG. 2 S. 84). Es bleibt der Mutter der Klägerin überlassen, vermeintliche eigene Ansprüche in einem neuen Verfahren geltend zu machen.

Die Revision der Klägerin war somit als unbegründet zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Unterschriften

Brackmann, Dr. Baresel, Schmitt

 

Fundstellen

Haufe-Index 926323

BSGE, 97

NJW 1959, 2135

MDR 1959, 1045

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