Verfahrensgang

Hessisches LSG (Urteil vom 27.11.1991)

 

Tenor

1) Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 27. November 1991 wird zurückgewiesen.

2) Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der Kläger begehrt – nach Rücknahme seines Asylantrags und Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis – Kindergeld für einen zurückliegenden Zeitraum.

Der Kläger, ein Kurde türkischer Staatsangehörigkeit, ist seit 1979 in der Bundesrepublik und betrieb zunächst seine Anerkennung als Asylberechtigter. Seit 1979 ist er im Besitz einer Arbeitserlaubnis. Seine – gleichfalls türkische – Ehefrau kam 1985 in die Bundesrepublik Deutschland, drei in den Jahren 1976 bis 1980 geborene gemeinsame Kinder kamen im Jahre 1988 nach, ein weiteres Kind wurde 1986 in Deutschland geboren und lebt seitdem hier. Das Verwaltungsgericht Wiesbaden hatte mit Urteil von 1984 der Klage gegen den Ablehnungsbescheid von 1980 stattgegeben. Noch während des Laufs des Berufungsverfahrens nahm der Kläger im Juli 1989 seinen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter zurück, nachdem ihm die Ausländerbehörde im Gegenzug die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis für sich und seine Familie zugesichert hatte; laut Ausländerakte „nach Würdigung des Sachverhaltes, des einwandfreien Verhaltens der Familien S … und der Bereitschaft des türkischen Konsulats in Frankfurt, einen neuen Nationalpaß auszustellen”. Die Aufenthaltserlaubnis wurde dem Kläger am 13. Juli 1989 erteilt.

Mehrere Kindergeldanträge des Klägers aus den Jahren 1984 bis 1988 lehnte die Beklagte jeweils unter Hinweis auf das noch nicht abgeschlossene Asylverfahren ab; sie stellte ihm jeweils anheim, im Falle einer bindenden Zuerkennung des Asylrechts erneut Kindergeld zu beantragen.

Dem Kindergeldantrag vom Juli 1989 entsprach die Beklagte mit Bescheid vom 30. August 1989 für die Zeit ab Januar 1989. Widerspruch und Klage auf eine weitergehende Rückwirkung blieben ohne Erfolg. Auf die vom Sozialgericht (SG) zugelassene Berufung des Klägers hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 27. November 1991 die Beklagte verurteilt, unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide über seinen Antrag vom Juli 1988 hinsichtlich der Zeit von August 1988 bis Dezember 1988 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden; im übrigen wurde die Berufung zurückgewiesen. Das LSG vertrat die Auffassung, daß dem Kläger bis Juli 1988 kein Anspruch auf Kindergeld zugestanden habe. Auf die lediglich deklaratorische und nicht konstitutive Wirkung einer Anerkennung als Asylberechtigter und die hieraus zu ziehenden Folgerungen auf die Begründung eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes (Hinweis auf Bundessozialgericht ≪BSG≫ vom 14. September 1989, BSGE 65, 261 = SozR 7833 § 1 Nr 7) könne sich der Kläger nicht berufen, da das Asylrecht nur aufgrund eines förmlichen Feststellungsaktes wahrgenommen werden könne. Diesem möglichen Formalakt sei jedoch durch die Antragsrücknahme die Grundlage entzogen worden; das Urteil des Verwaltungsgerichts von 1984 sei hierdurch wirkungslos geworden. Der Kläger habe aber ab August 1988 seinen Wohnsitz bzw gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland begründet. Denn er habe jedenfalls ab jenem Zeitpunkt nicht mehr mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen rechnen müssen (Hinweis auf BSG vom 23. Februar 1988 = SozR 5870 § 1 Nr 14 und BSG vom 17. Mai 1989 = SozR 1200 § 30 Nr 17 mwN). Demgegenüber beständen für die Zeit vor August 1988 keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, daß aufenthaltsbeendende Maßnahmen im Falle einer rechtskräftigen Ablehnung des Asylantrags zu einem solchen Zeitpunkt rechtswidrig gewesen wären. Für diesen Zeitraum könne im Rahmen der zu überprüfenden Prognoseentscheidung auch davon ausgegangen werden, daß die dem LSG erteilte Auskunft des Oberbürgermeisters der Stadt Darmstadt vom 9. Oktober 1991 in ihrer Einschätzung zutreffe.

Mit seiner vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung von § 1 Abs 3, § 20 Abs 5 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) sowie § 30 Abs 3 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I). Wenn es richtig sei, daß die Asylanerkennung nur deklaratorische, nicht konstitutive Wirkung habe (Hinweis auf BSG vom 14. September 1989, BSGE 65, 261 = SozR 7833 § 1 Nr 7), könne auch nicht aus einer letztlich fehlenden Asylanerkennung geschlossen werden, daß ein im Verlauf eines wegen Asylantrags geduldeten Aufenthalts auf eine andere rechtliche Grundlage gestelltes Aufenthaltsrecht nicht schon zuvor – hier seit Juli 1979 – gegeben gewesen sei. Der Asylanspruch sei nicht von vornherein offensichtlich unbegründet gewesen, vielmehr bereits gerichtlich, wenn auch nicht rechtskräftig, festgestellt worden. Die sich aus der konstitutiven Kraft der politischen Verfolgung im Hinblick auf ein dauerndes Aufenthaltsrecht ergebende Rückwirkung für sonstige Vergünstigungen, die an den dauernden Aufenthalt anknüpften, habe auch in den Fällen zu gelten, in denen der sich aus politischer Verfolgung ergebende Aufenthalt vom „normalen” rechtmäßigen Aufenthalt „überholt” werde.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts Darmstadt vom 27. November 1991 sowie den Bescheid der Beklagten vom 30. August 1989 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 9. Februar 1990 abzuändern und die Beklagte unter Aufhebung der Bescheide vom 8. Oktober 1984, 20. Oktober 1986, 25. März 1987 und 6. Oktober 1988 zu verurteilen, an den Kläger Kindergeld in der gesetzlichen Höhe von April 1984 bis September 1988 zu gewähren;

hilfsweise, das Urteil aufzuheben und die Sache zu erneuter Entscheidung an das Hessische Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 27. November 1991 zurückzuweisen.

Soweit der Kläger durch die Entscheidung des LSG beschwert sei, entspreche sie dem geltenden Recht. In diesem Umfang seien die bindenden ablehnenden Bescheide nicht rechtswidrig. Die dem Kläger im Juli 1989 erteilte Aufenthaltserlaubnis habe keine deklaratorische, sondern eine konstitutive Wirkung. Nach den Feststellungen des LSG habe der Kläger vor August 1988 bei einer bindenden Ablehnung seines Asylantrags mit aufenthaltsbeendenden Maßnahmen rechnen müssen.

 

Entscheidungsgründe

II

Der Senat hat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 SozialgerichtsgesetzSGG –).

Die zulässige Berufung ist nicht begründet.

Der Kläger hat unter keinem denkbaren Gesichtspunkt einen Anspruch auf Rücknahme der bindenden Ablehnungen seiner Kindergeldanträge für die Zeit vor August 1988 nach § 20 Abs 5 BKGG iVm § 44 Abs 1 Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch – (SGB X). Denn nach den für das BSG bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) stand dem Kläger für den noch streitigen Zeitraum kein Anspruch auf Kindergeld zu.

Die Gewährung von Kindergeld war gemäß der im streitigen Zeitraum geltenden Regelung des § 1 Abs 1 BKGG aF (bis zur Neuregelung in § 1 Abs 3 BKGG mit Wirkung ab 8. Juli 1989) nach dessen Nr 1 nur möglich, wenn der Betroffene den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BKGG hatte. Nach der auch für das Kindergeldrecht geltenden Legaldefinition des § 30 Abs 3 SGB I hat jemand seinen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen läßt, daß er die Wohnung beibehalten und benutzen wird und den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Entsprechend hat das BSG schon immer angenommen, daß dem Begriff des „gewöhnlichen Aufenthaltes” das Moment der Dauer eigen ist (vgl zB BSG vom 25. Juni 1987, BSGE 62, 67, 69 = SozR 7833 § 1 Nr 1 zum Bundeserziehungsgeldgesetz ≪BErzGG≫), was erst recht auch für den „Wohnsitz” gelten muß (BSG vom 27. September 1990, SozR 3-7833 § 1 Nr 2 S 11 f). Das BSG hat folgerichtig und übereinstimmend entschieden, daß Asylbewerber während der Dauer eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, in welchem über ihre Asylberechtigung entschieden wird, im Regelfall keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BKGG haben (BSGE 62, 67, 69 sowie zum BKGG die Entscheidung des Senats vom 23. Februar 1988, BSGE 63, 47, 51 = SozR 5870 § 1 Nr 14). Asylbewerber können im Normalfall nicht von vornherein damit rechnen, daß die von ihnen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren angestrebte Asylberechtigung anerkannt wird und deshalb zu einem dauerhaften Aufenthalt führt.

Der Senat hat für das Kindergeldrecht die Voraussetzungen, unter denen ein Asylbewerber ausnahmsweise seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat, bereits mehrfach festgelegt und beschrieben. Hiernach wird der tatsächliche Aufenthalt eines Ausländers im Bundesgebiet erst dann zum gewöhnlichen Aufenthalt iS von § 30 Abs 3 Satz 2 SGB I, wenn nach dem Ausländerrecht und der Handhabung der einschlägigen Ermessensvorschriften durch die deutschen Behörden davon auszugehen ist, daß der Ausländer nicht nur vorübergehend, sondern auf Dauer im Bundesgebiet bleiben kann. Dabei kommt es auf die voraussehbare Zukunft an (BSG vom 20. Mai 1987, SozR 5870 § 1 Nr 12). In anderen Entscheidungen ist diese Voraussetzung durch andere Wendungen umschrieben worden, etwa dadurch, daß davon auszugehen sein müsse oder damit gerechnet werden könne, daß der Asylbewerber auf Dauer im Geltungsbereich des BKGG bleiben werde (BSG vom 23. Februar 1988, BSGE 63, 47, 49 = SozR 5870 § 1 Nr 4; BSG vom 17. Mai 1989, BSGE 65, 84, 86 = SozR 1200 § 30 Nr 17). Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt werden, ist nach der Überzeugung des erkennenden Senats die Prognose gerechtfertigt, der Asylbewerber werde sich auf Dauer im Bundesgebeit aufhalten. Diese Auslegung des § 30 Abs 3 Satz 2 SGB I entspricht nach der Überzeugung des Senats, wie sie in der zuvor zitierten Entscheidung eingehend dargelegt ist, auch dem Zweck des BKGG. Danach kommt es bei der Begrenzung des Kindergeldanspruchs durch § 1 Abs 1 Nr 1 BKGG aF darauf an, diejenigen Personen zu begünstigen, welche im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein Kind aufziehen und dadurch einen Beitrag zur künftigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Existenz der Gesellschaft in diesem Staat leisten.

Der Senat sieht sich in der geschilderten Auffassung zu § 1 Abs 1 Nr 1 BKGG im übrigen auch durch die Neufassung des § 1 Abs 3 BKGG mit Geltung ab 8. Juli 1989 bestätigt, mit der der Gesetzgeber weitgehend auf die dargestellte Rechtsprechung Bezug genommen hat (hierzu BSG vom 12. Februar 1992 – 10 RKg 26/90 –).

Die auf Grundlage der geschilderten Rechtsprechung getroffene – nachträgliche -negative Prognoseentscheidung des Berufungsgerichts für die Zeit vor August 1988 gründet sich auf tatsächliche Feststellungen, die den Anforderungen dieser Rechtsprechung genügen. Diese sind für das BSG bindend (§ 163 SGG), da sie der Kläger nicht angegriffen hat. Die Auffassung des LSG begegnet auch keinen rechtlichen Bedenken. Wenn der Kläger meint, er müsse hinsichtlich seines Anspruchs auf Kindergeld so gestellt werden, als wäre seinem Asylbegehren rechtskräftig stattgegeben worden, so entbehrt dies jeder Grundlage.

Selbst wenn auch im Kindergeldrecht die vom 4. Senat des BSG im Rahmen des BErzGG begründete Rechtsauffassung zuträfe (vgl hierzu allerdings die Entscheidung des Senats vom heutigen Tage im Rechtsstreit 10 RKg 11/92), so wäre sie im Falle des Klägers nicht anwendbar. Denn jene Rechtsprechung setzt gerade voraus, daß der Anspruchsinhaber durch die zuständigen Behörden als Asylberechtigter anerkannt ist. Unter Hinweis auf Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG vom 20. April 1982, BVerfGE 60, 253, 295) führt das BSG insoweit (BSGE 65, 261, 264 f) ausdrücklich aus, daß die geltende Gesetzeslage das Asylrecht erst zufolge eines von dem Asylsuchenden zu erwirkenden und notfalls auch zu erstreitenden förmlichen Feststellungsaktes anerkenne. Das Asylrecht sei unter einen Verfahrensvorbehalt gestellt; von der Antragstellung abgesehen könne es als Status grundsätzlich erst nach Erwirkung des Anerkennungsaktes geltend gemacht werden. Dies begegne auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Das vom Kläger bereits betriebene Verfahren zur förmlichen Anerkennung seines Asylrechts ist jedoch durch die Rücknahme des Asylantrags im Juli 1989 gegenstandslos geworden.

Unerheblich ist insoweit, daß die Rücknahme zur Erlangung der ihm in Aussicht gestellten Aufenthaltserlaubnis erfolgte. Ebenso kann offenbleiben, ob dem Kläger im Zeitpunkt der Rücknahme seines Asylantrags bewußt war, welche kindergeldrechtlichen Folgen diese Erklärung haben würde. Ob der Kläger vom Ausländeramt hierüber hätte aufgeklärt werden müssen und welche Folgen eine unterlassene Beratung haben könnte, kann im vorliegenden Verfahren keine Rolle spielen. Ein sozialrechtlicher Herstellungsanspruch ergibt sich hieraus jedenfalls nicht. Denn ein solcher kann nur auf Erfüllung eines materiell dem Gesetz entsprechenden Kindergeldanspruchs gerichtet sein, der aber für den streitigen Zeitraum jedenfalls nicht besteht.

Auch die ihm am 13. Juli 1989 erteilte Aufenthaltserlaubnis schließlich hat einen gewöhnlichen Aufenthalt oder Wohnsitz des Klägers in der Bundesrepublik Deutschland nicht rückwirkend begründet (vgl BSG vom 20. Dezember 1990, SozR 3-7833 § 1 Nr 3).

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1172664

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