Leitsatz (amtlich)

1. Ob jemand seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat, läßt sich nur im Wege einer vorausschauenden Betrachtung (Prognose) entscheiden.

2. Die Prognose ist verfahrensfehlerhaft, wenn die Vorinstanz die zugrunde zu legenden Fakten rechtsfehlerhaft festgestellt oder nicht alle wesentlichen Umstände (zB Rechtshindernisse für eine Abschiebung) hinreichend gewürdigt hat bzw die Prognose auf rechtlich falschen oder unsachlichen Erwägungen beruht.

3. Im Hinblick auf Art 6 GG besteht kein Rechtshindernis für die Abschiebung einer verheirateten Ausländerin, wenn beide Ehepartner keine Aufenthaltserlaubnis für das Bundesgebiet haben und die Abschiebung zwar nicht in das Herkunftsland, aber in ein aufnahmebereites Drittland möglich ist.

4. Umstände, die zum Zeitpunkt der Prognoseentscheidung noch nicht erkennbar waren, dürfen bei der späteren gerichtlichen Überprüfung nur für die Zeiten nach Bekanntwerden berücksichtigt werden.

 

Normenkette

BKGG § 1 Nr 1; SGB 1 § 30 Abs 3 S 1; SGB 1 § 30 Abs 3 S 2; SGG § 128 Abs 1, § 103 S 1; GG Art 6 Abs 1; GG Art 3 Abs 1

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 03.05.1988; Aktenzeichen L 9 Kg 1446/86)

SG Stuttgart (Entscheidung vom 18.06.1984; Aktenzeichen S 13 Kg 4422/84)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten nur noch darüber, ob der Klägerin für die Zeit von Juli 1980 bis April 1985 Kindergeld zusteht.

Die Klägerin ist polnische Staatsangehörige und hält sich seit Februar 1980 in der Bundesrepublik Deutschland auf. Sie ist mit einem Angehörigen des Staates Bangladesch verheiratet. Die Asylanträge der Klägerin und ihres Ehemannes hatten keinen Erfolg (bestandskräftige Entscheidungen vom 10. April 1985 bzw 3. November 1983). Die Vollstreckung der die Klägerin betreffenden Ausreiseanordnung wurde am 31. Mai 1985 zunächst bis zum 30. Mai 1986 ausgesetzt. Am 20. August 1986 erhielt die Klägerin eine bis zum 31. Januar 1987 befristete Aufenthaltserlaubnis, die am 28. Januar 1987 bis zum 27. Januar 1989 verlängert wurde.

Die Klägerin ist Mutter der Kinder Raphael (geboren 1978) und Gabriel (geboren 1980). Der erste von ihr gestellte Kindergeldantrag wurde durch Bescheid vom 20. August 1981 und Widerspruchsbescheid vom 25. Februar 1982 bindend abgelehnt. Auch einen weiteren Kindergeldantrag der Klägerin vom 27. März 1984 lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 18. Juni 1984 und Widerspruchsbescheid vom 30. November 1984).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen. Während des Berufungsverfahrens ist der Klägerin - nach Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vom 20. August 1986 - Kindergeld für die Zeit ab August 1986 bewilligt worden. Das Landessozialgericht (LSG) hat die erstinstanzliche Entscheidung und die angefochtenen Bescheide vom 18. Juni und 30. November 1984 geändert und die Beklagte verurteilt, der Klägerin Kindergeld auch für die Zeit vom 1. Mai 1985 bis 31. Juli 1986 zu gewähren. Die Berufung sei zulässig, obwohl sie im Zeitpunkt der Entscheidung über das Rechtsmittel nur noch einen Anspruch auf Kindergeld für bereits abgelaufene Zeiträume betroffen habe. § 27 Abs 2 des Bundeskindergeldgesetzes (BKGG) schließe das Rechtsmittel nicht aus, weil im Zeitpunkt der Berufungseinlegung auch Kindergeld für die Zukunft begehrt worden sei. Der Klägerin stehe das Kindergeld für die Zeit ab 1. Mai 1985 zu, da sie bereits von diesem Zeitpunkt an ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BKGG gehabt habe und damit die Voraussetzungen des § 1 Abs 1 Nr 1 BKGG erfüllt seien. Für die Zeit davor müsse dies jedoch verneint werden. Denn es sei davon auszugehen, daß die Behörden den Aufenthalt der Klägerin im Bundesgebiet nach dem rechtskräftigen Abschluß ihres Asylverfahrens nicht weiter geduldet hätten. Zwar wäre eine Abschiebung in einen Ostblockstaat aufgrund des Beschlusses der ständigen Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder vom 26. August 1966 nicht in Betracht gekommen. Die zuständige Ausländerbehörde habe aber die Abschiebung nach Bangladesch für zulässig angesehen. Zu einer weiteren Duldung des Aufenthalts der Klägerin sei es nur deshalb gekommen, weil das T P   -L      -K           am 15. April 1985 - Eingang bei der Behörde am 2. Mai 1985 - ihre Tropenuntauglichkeit bescheinigt habe. Für die zu stellende Prognose bezüglich des Verbleibens im Geltungsbereich des BKGG könne auch aus Art 6 Abs 1 des Grundgesetzes (GG) nichts zugunsten der Klägerin hergeleitet werden. Jedenfalls dann, wenn beide Eheleute Ausländer seien, stehe diese Verfassungsnorm aufenthaltsbeendenden Maßnahmen nicht entgegen.

Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 1 Abs 1 Nr 1 BKGG und des § 30 Abs 3 Satz 2 des Sozialgesetzbuchs - Allgemeiner Teil - (SGB I) sowie des Art 6 Abs 1 iVm Art 3 Abs 1 GG und macht ua geltend, das Berufungsgericht habe verkannt, daß ihm bei der im Rahmen des § 30 SGB I zu treffenden Prognoseentscheidung eine eigene Prüfungspflicht zukomme. Es habe seine Entscheidung darauf gestützt, daß die Rechtsauffassung der Ausländerbehörde der Annahme eines gewöhnlichen Aufenthaltes entgegenstehe. Soweit das LSG die Rechtsauffassung der Ausländerbehörde im Wege einer eigenen Subsumtion übernommen und als richtig bestätigt habe, sei diese Subsumtion rechts- und verfassungswidrig. Denn entgegen der in der vorinstanzlichen Entscheidung vertretenen Ansicht hätte die Ausländerbehörde ihre Berechtigung zum weiteren Aufenthalt in der Bundesrepublik wegen des Innenministerbeschlusses von 1966 nicht verneinen dürfen. Daß ihr Ehemann nicht Angehöriger eines Ostblockstaates sei, dürfe ihr nicht zum Nachteil gereichen. Dies folge schon aus Art 6 GG iVm Art 3 GG. Wäre sie nicht verheiratet gewesen, so hätte die Ausländerbehörde nie auf den Gedanken kommen können, ihren Aufenthalt im Bundesgebiet zu beenden. Ihre Ehe mit einem Staatsangehörigen aus Bangladesch vermöge zwar Schutzfunktionen des Art 6 GG auszulösen, nicht aber irgendwelche Nachteile. Eine auf die Rechtsauffassung der Ausländerbehörde gestützte aufenthaltsbeendende Maßnahme hätte einer verwaltungsgerichtlichen Prüfung nicht standhalten können. Das Berufungsgericht habe daher auch unter Verkennung von Bundes- und Verfassungsrecht das Vorliegen eines gewöhnlichen Aufenthaltes im Bundesgebiet vor Mai 1985 zu Unrecht verneint. Im übrigen müsse bei dieser Frage auch auf den Zeitablauf abgestellt werden. Denn bei einem längeren Verweilen könne von einem vorübergehenden Aufenthalt keine Rede mehr sein. Das gelte ua für Asylbewerber, deren Anerkennungsverfahren teilweise mehrere Jahre dauerten.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 3. Mai 1988 zu ändern sowie das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 18. April 1986 und den Bescheid der Beklagten vom 18. Juni 1984 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. November 1984 in vollem Umfang aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin auch für die Zeit von Juli 1980 bis April 1985 für ihre Kinder Raphael und Gabriel Kindergeld zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und macht ergänzend geltend, Grundlage für die Prognose, ob es sich nur um einen vorübergehenden oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BKGG handele, sei bei einer Duldung von Ausländern die Handhabung der ausländerrechtlichen Ermessensvorschriften durch die zuständige Behörde. Dies sei eine reine Tatsachenfeststellung. Die Frage der Recht- und Zweckmäßigkeit der Ermessensausübung könne für die Prognose allenfalls dann eine Rolle spielen, wenn die Ausländerbehörde den ihr eingeräumten weiten Ermessensspielraum so offensichtlich überschreite, daß ihre Entscheidung im Einzelfall mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Verwaltungsrechtsweg aufgehoben werden würde. Das LSG habe sich im vorliegenden Falle zu Recht auf die Frage beschränkt, ob die bis Mai 1985 vorgesehene Abschiebung der Klägerin nach Bangladesch mit Art 6 GG vereinbar gewesen wäre. Dies habe das Gericht mit überzeugender Begründung bejaht.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat konnte ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem die Beteiligten sich hiermit einverstanden erklärt haben (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

Die Revision ist unbegründet. Der Klägerin steht für die Zeit von Juli 1980 bis April 1985 Kindergeld nicht zu, weil sie im streitigen Zeitraum weder ihren Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland hatte.

Daß die materiell-rechtliche Prüfung nicht an der Berufungsausschlußnorm des § 27 Abs 2 BKGG scheitert, hat das LSG zu Recht angenommen. Zwar betraf die Berufung im Zeitpunkt der Entscheidung des Berufungsgerichts nur Kindergeld für bereits abgelaufene Zeiträume. Das steht der Statthaftigkeit der Berufung jedoch nicht entgegen. Es kommt auf die Verhältnisse an, die zur Zeit der Rechtsmitteleinlegung vorliegen und nicht zum Zeitpunkt der Entscheidung des Rechtsmittelgerichts (BSGE 16, 134, 135; BSG SozR § 146 SGG Nrn 6, 8, 9 und 12 sowie SozR 1500 § 144 Nr 24 mwN). Zum Zeitpunkt der Berufungseinlegung begehrte die Klägerin auch noch Kindergeld für die Zukunft. Daß der Anspruch während des Berufungsverfahrens auf Kindergeld für bereits abgelaufene Zeiträume beschränkt worden ist, hat das Rechtsmittel nicht unstatthaft gemacht. Denn die Klägerin hat den Anspruch auf Leistungen für die Zukunft nicht willkürlich (vgl dazu BSG SozR § 146 SGG Nrn 6 und 8 sowie SozR 1500 § 144 Nr 24) fallen gelassen, sondern deshalb, weil ihr während des Berufungsverfahrens von der Beklagten Kindergeld für die Zeit ab August 1986 bewilligt worden ist.

Die Klage ist nicht deshalb ganz oder teilweise unzulässig, weil die Beklagte durch die Bescheide vom 20. August 1981 und 25. Februar 1982 bereits bindend einen Kindergeldantrag der Klägerin abgelehnt hatte (vgl dazu BSG, Urteil vom 2. März 1971 - 2 RU 81/86 - Breithaupt 1971, 954). Wie sich aus dem Vorbringen der Klägerin im Widerspruchsverfahren ergibt, begehrt sie unter Hinweis auf die Urteile des LSG Rheinland-Pfalz vom 5. Dezember 1983 - L 1 Kg 17/82 - und des Bundessozialgerichts (BSG) vom 28. Juni 1984 - 3 RK 27/83 - eine Überprüfung der bindenden Bescheide. Dies hat die Beklagte zwar verkannt. In dem angefochtenen Bescheid vom 18. Juni 1984 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 30. November 1984 behandelt sie das Begehren der Klägerin lediglich als Neuantrag. Dadurch ist der Senat aber nicht gehindert, die Bestimmungen des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB X) anzuwenden und darüber zu entscheiden, ob die Beklagte der Klägerin unter Rücknahme der Bescheide von 1981 und 1982 für den gesamten streitigen Zeitraum Kindergeld zu gewähren hat. Selbst wenn man davon ausginge, daß die angefochtene Verwaltungsentscheidung, soweit sie den Anspruch auf Kindergeld für die Vergangenheit betrifft, unvollständig ist, ist die Anfechtungs- und Leistungsklage zulässig. Die Klägerin kann in einem solchen Falle nicht darauf verwiesen werden, gemäß § 88 SGG eine Untätigkeitsklage zu erheben. Denn ihr Antrag ist sachlich beschieden worden. Daß die Behörde ihn rechtlich unzutreffend erfaßt hat, verpflichtet den Antragsteller nicht, seinen Anspruch zunächst im Wege der Untätigkeitsklage weiter zu verfolgen.

Die bindenden Bescheide sind rechtmäßig. Sie können nicht nach den Vorschriften des SGB X aufgehoben werden. Die Beklagte hat den ersten Kindergeldantrag zu Recht abgelehnt; denn die Voraussetzungen für die Gewährung des Kindesgeldes (§ 1 Nr 1 BKGG in der hier anwendbaren Fassung vor Änderung durch das 11. Gesetz zur Änderung des BKGG vom 27. Juni 1985 - BGBl I, 1251) waren in dem streitigen Zeitpunkt nicht erfüllt. Ob jemand - wie dies § 1 Nr 1 BKGG aF voraussetzt - seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BKGG hat, läßt sich in Anwendung des § 30 Abs 3 SGB I nur im Wege einer vorausschauenden Betrachtung entscheiden (BSGE 63, 47, 48 f). Ist nach der Prognose davon auszugehen, daß der Antragsteller für unabsehbare Zeit im Geltungsbereich des BKGG bleiben wird, so hat er hier seinen gewöhnlichen Aufenthalt oder - unter den Voraussetzungen des § 30 Abs 3 Satz 1 SGB I - seinen Wohnsitz. Das gleiche ist anzunehmen, und zwar vom Zeitpunkt der Änderung an, wenn die maßgeblichen Umstände nicht bei Beginn des Leistungsbegehrens, aber zu einem späteren Zeitpunkt hierfür sprechen (so mit Recht Bley in RVO- Gesamtkommentar, I § 30 Anm 5c ff). Hiervon ist das LSG bei seiner Entscheidung zu Recht ausgegangen und hat angenommen, daß bei vorausschauender Betrachtungsweise im streitigen Zeitraum nicht damit gerechnet werden konnte, daß die Klägerin im Geltungsbereich des BKGG auf Dauer bleiben könne.

Wie der erkennende Senat bereits in seinem Urteil vom 23. Februar 1988 (BSGE 63, 47, 49) dargelegt hat, sind die Prognose und die Feststellung der dafür erheblichen Anhaltspunkte dem Revisionsgericht verschlossen. Es ist Aufgabe der Tatsachengerichte, die notwendigen Ermittlungen durchzuführen und daraus für die künftige Entwicklung Schlüsse zu ziehen. Die Prognose gehört nicht zur Rechtsanwendung; sie ist vielmehr Feststellung einer hypothetischen Tatsache. Deshalb können Prognosen im Revisionsverfahren nur mit Verfahrensrügen angegriffen werden.

Die Klägerin wendet sich zu Unrecht gegen die vom LSG getroffene Prognose. Sie macht geltend, das Berufungsgericht habe nicht beachtet, daß aufenthaltsbeendende Maßnahmen im Widerspruch zu Art 3 und 6 GG gestanden hätten. Mit diesen Angriffen ist die Klägerin allerdings nicht von vornherein ausgeschlossen. Zwar entscheidet das Gericht bei einer Prognose - wie bei einer sonstigen Tatsachenfeststellung - nach freier Überzeugung. Es hat aber alle Umstände des Einzelfalles zu würdigen. Die Prognose ist rechtsfehlerhaft, wenn das Gericht - unter Überschreitung der Grenzen der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 SGG) oder unter Verletzung der ihm obliegenden Amtsermittlungspflicht (§ 103 Satz 1 SGG) - die zugrunde zu legenden Fakten nicht richtig festgestellt oder nicht alle wesentlichen in Betracht kommenden Umstände hinreichend gewürdigt hat bzw wenn die Prognose auf rechtlich falschen oder unsachlichen Erwägungen beruht (vgl in diesem Zusammenhang BSGE 62, 5, 8 zur Schätzung). Zu den Fakten, die bei der Prognose im Rahmen des § 30 Abs 3 SGB I zu berücksichtigen sind, gehören auch Rechtshindernisse, die einer Abschiebung eines Ausländers aus dem Geltungsbereich des BKGG entgegenstehen. Dies hat das LSG nicht verkannt und sich insbesondere mit der Frage auseinandergesetzt, ob die Ausländerbehörde durch Art 6 GG gehindert gewesen wäre, die Klägerin - wie beabsichtigt - abzuschieben.

Entgegen der Auffassung der Revision hat das LSG die damit zusammenhängenden verfassungsrechtlichen Fragen nicht unrichtig beurteilt. Nach den Tatsachenfeststellungen der Vorinstanz, an die der Senat gebunden ist (§ 163 SGG), hat die Klägerin erst im Jahre 1986 eine Aufenthaltserlaubnis in der Bundesrepublik Deutschland erhalten. In der Zeit davor hatte sie bis zur bestandskräftigen Entscheidung über ihren Asylantrag im April 1985 den rechtlichen Status einer Asylbewerberin (vgl dazu BSG SozR 2200 § 205 Nr 56 S 155). Dies allein kann nicht zur Annahme eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts führen. Allerdings kann - wie der Senat in seiner Entscheidung vom 23. Februar 1988 angenommen hat (aaO, S 50) - auch schon vor Abschluß des Asylverfahrens ein gewöhnlicher Aufenthalt begründet werden, wenn nämlich feststeht, daß auch nach Ablehnung des Asylantrags wegen der besonderen Umstände eine Abschiebung für unbestimmte Zeit nicht in Betracht kommt, insbesondere, wenn der Asylbewerber zu einer Gruppe von Personen gehört, die von den Ausländerbehörden auch nach Ablehnung eines Asylantrags weiter im Bundesgebiet geduldet werden. Entscheidend hierfür ist die Handhabung der ausländerrechtlichen Ermessensvorschriften durch die Behörden. Angehörige der Ostblockstaaten gehören im allgemeinen zu diesen Personengruppen. Da die Klägerin jedoch schon in der hier fraglichen Zeit mit einem Angehörigen des Staates Bangladesch verheiratet war, ist für sie die Frage des gewöhnlichen Aufenthalts oder Wohnsitzes im Geltungsbereich des BKGG anders zu beantworten als bei den sonstigen abgelehnten Asylbewerbern aus den Ostblockstaaten.

Wie das LSG - für den Senat ebenfalls bindend - weiter festgestellt hat, beabsichtigte die zuständige Ausländerbehörde, die Klägerin aus dem Bundesgebiet abzuschieben - wenn auch nicht in einen Ostblockstaat -. Da Bangladesch bereit war, sie als Ehefrau eines eigenen Staatsangehörigen aufzunehmen, hätte die Abschiebung in dieses Land erfolgen können (vgl dazu OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19. Mai 1983 - 17 A 692/81 -, InfAuslR 7/8 1984, S 227, 229, und OVG Berlin, Beschluß vom 28. November 1985 - OVG 3 S 359/85 -, InfAuslR 6 1986, S 176; §§ 13 und 14 Ausländergesetz). Es sind auch keine Gesichtspunkte erkennbar, daß die Abschiebung in dieses Land aus sonstigen Gründen unzulässig gewesen wäre.

Soweit die Klägerin ihre Revision auf Art 6 GG stützt, verkennt sie den Inhalt dieser Verfassungsnorm. Zwar umfaßt der Schutzbereich des Art 6 Abs 1 GG auch das Recht auf ein eheliches und familiäres Zusammenleben (BVerfGE 76, 1, 42). Dieses Recht wird - auch bei ausländischen Ehepaaren - berührt, wenn einer der Ehepartner sich berechtigt im Bundesgebiet aufhält und der andere entweder auf Dauer daran gehindert wird, in das Bundesgebiet einzureisen und die Ehegemeinschaft zu verwirklichen oder - wenn beide ausländischen Ehepartner im Bundesgebiet leben - einer von ihnen mit Maßnahmen des staatlichen Zwanges aus dem Bundesgebiet entfernt wird (vgl dazu BVerfGE 76, 1,43 ff). Anders liegt der Fall jedoch, wenn beide ausländischen Ehepartner nicht zum Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland berechtigt sind, sondern ihr Aufenthalt nur (zeitweise) geduldet wird. In einem solchen Falle kann aus Art 6 Abs 1 GG nicht der Anspruch auf ein Verbleiben im Bundesgebiet hergeleitet werden. Denn es ist allein Sache der gesetzgebenden und der vollziehenden Gewalt zu entscheiden, in welcher Zahl und unter welchen Voraussetzungen Fremden der Zugang zum Bundesgebiet ermöglicht wird (BVerfGE 76, 1, 47 f). Zwar müssen der Gesetzgeber und die Behörden beim Erlaß allgemeiner Regeln über die Erteilung von Aufenthaltserlaubnissen bestehende eheliche und familiäre Beziehungen berücksichtigen, sie haben dabei die gegenläufigen öffentlichen und privaten Belange mit dem Ziel eines schonenden Ausgleichs gegeneinander abzuwägen (BVerfGE 76, 1, 50). Soweit es um die Duldung von Ausländern im Bundesgebiet geht, ist im Streitfalle zu überprüfen, ob eine solche Abwägung stattgefunden hat und ob Grundlage und Abwägungsergebnis dem sich aus Art 6 Abs 1 und 2 Satz 1 GG ergebenden Gebot gerecht werden, die ehelichen und familiären Bindungen zu berücksichtigen. Dabei sind auch die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Übermaßverbots zu beachten. Auch bei Berücksichtigung dieser Grundsätze hätte die zuständige Ausländerbehörde den Aufenthalt der Klägerin und ihres Ehegatten durch Abschiebung nach Bangladesch beenden können. Denn diese Maßnahme hätte die Klägerin nicht gehindert, die eheliche Gemeinschaft fortzusetzen.

Ferner wäre die Ausländerbehörde - entgegen der Auffassung der Revision - auch nicht aufgrund des Gleichheitssatzes des Art 3 Abs 1 GG gehindert gewesen, den Aufenthalt der Klägerin nach Ablehnung des Asylantrages zu beenden. Für die unterschiedliche Behandlung von deutsch-ausländischen Ehen sowie ausländischen Ehen, bei denen ein Ehepartner eine Aufenthaltserlaubnis hat, einerseits und andererseits ausländischen Eheleuten, die sich beide - ohne dazu berechtigt zu sein - im Bundesgebiet aufhalten, bestehen gravierende Unterschiede, die eine Ungleichbehandlung rechtfertigen. Das gleiche gilt aber auch im Verhältnis der Klägerin und ihres Ehemannes zu Angehörigen von Ostblockstaaten, die nicht mit Angehörigen von Staaten außerhalb der Gruppe der Ostblockstaaten verheiratet sind. Während die Klägerin in das Heimatland ihres Ehemannes - ohne daß dagegen humanitäre Gründe sprechen - abgeschoben werden könnte, ist dies bei Personen aus Ostblockstaaten, die nicht mit Angehörigen anderer Staaten verheiratet sind, nicht der Fall.

Daß die Klägerin tropenuntauglich ist und daß dieser Hinderungsgrund für die Abschiebung nach Bangladesch möglicherweise auch schon während des hier streitigen Zeitraums vorgelegen hat, ist rechtlich ohne Belang. Für die Prognose, ob sich jemand für eine unabsehbare Zeit im Geltungsbereich des BKGG aufhalten wird, kommt es nur auf die Umstände an, die zu dem Zeitpunkt erkennbar waren, in dem die Frage des Aufenthalts vorausschauend beurteilt werden mußte (vgl BSGE 63, 47, 49). Umstände, die - wie hier - erst im Zeitpunkt der gerichtlichen Überprüfung der Verwaltungsentscheidungen bekannt sind oder bekannt werden, darf das Gericht erst für die Zukunft berücksichtigen. Denn es gehört zum Wesen der Prognose, daß aufgrund feststehender Fakten Schlußfolgerungen für eine künftige, ungewisse Entwicklung gezogen werden. Dem würde es widersprechen, wollte man bei der späteren Überprüfung der Prognoseentscheidung auch zwischenzeitlich bekannt gewordene Fakten für die Vergangenheit zugrunde legen.

Die Revision der Klägerin war nach alledem zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1660159

BSGE, 84

NJW 1990, 270

NVwZ-RR 1989, 651

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