Entscheidungsstichwort (Thema)

Kindergeld. Rückwirkung. Asylbewerber. Asylberechtigter. Verjährung. Antrag. Rückwirkungsfrist

 

Leitsatz (amtlich)

  • Die Anerkennung als Asylberechtigter begründet keinen rückwirkenden Anspruch auf Kindergeld (Fortführung von BSGE 65, 84 = SozR 1200 § 30 Nr 17; Abgrenzung zu Erziehungsgeld- und Rentenrecht: BSGE 65, 261 = SozR 7833 § 1 Nr 7; BSG SozR 3-2600 § 56 Nr 3). Dies gilt jedenfalls für eine Rückwirkung über die 4-Jahres-Frist des § 44 Abs 4 SGB X hinaus und unabhängig davon, ob während des Asylverfahrens Kindergeldanträge mangels gewöhnlichen Aufenthalts bindend abgelehnt wurden.
  • Die Frist nach § 44 Abs 4 SGB X berechnet sich ausschließlich nach dem Zeitpunkt des Rücknahmebescheides bzw des hierzu führenden Antrags und nicht nach früheren erledigten Zugunstenverfahren.
 

Normenkette

BKGG § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, Abs. 3, § 20 Abs. 5; SGB X § 44 Abs. 4

 

Verfahrensgang

Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 27.09.1991; Aktenzeichen L 5 Kg 18/90)

SG Kiel (Urteil vom 21.08.1990; Aktenzeichen S 4 Kg 54/89)

 

Tenor

  • Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 27. September 1991 wird zurückgewiesen.
  • Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
 

Tatbestand

I

Nach seiner Anerkennung als Asylberechtigter begehrt der Kläger rückwirkend Kindergeld auch über eine 4-Jahres-Frist hinaus.

Der Kläger, ein Kurde türkischer Staatsangehörigkeit, ist seit 1978 in der Bundesrepublik Deutschland. Das ihm gewährte Kindergeld entzog die Beklagte mit Wirkung ab Januar 1981, nachdem sie erfahren hatte, daß der Kläger Asylbewerber war. Weitere Anträge auf Kindergeld der Jahre 1982 und 1987 lehnte sie jeweils mit der Begründung ab, daß der Kläger keinen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland habe. Im Januar 1989 beantragte der Kläger erneut – auch rückwirkend – die Gewährung von Kindergeld. Im Jahre 1989 wurde das Asylverfahren zugunsten des Klägers abgeschlossen (Rücknahme der Berufung durch den Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten nach Zurückverweisung durch das Bundesverwaltungsgericht ≪BVerwG≫; Anerkennungsbescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom Juni 1989). Mit Bescheid vom 3. Juli 1989 und Widerspruchsbescheid vom 11. Oktober 1989 bewilligte die Beklagte dem Kläger Kindergeld mit Wirkung ab Januar 1985 und berief sich im übrigen auf die Verjährungsfrist nach § 45 Abs 1 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil – (SGB I); das Kindergeld wurde auf einen von der beigeladenen Stadt geltend gemachten Erstattungsanspruch nach § 104 Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch – (SGB X) an diese ausgezahlt.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger unter Rücknahme der Bescheide von 1980 und 1981 sowie 1983 Kindergeld auch für die Zeit vom 1. Januar 1981 bis zum 31. Dezember 1984 zu gewähren. Es vertrat die Auffassung, der Kläger habe mit seinem Kindergeldantrag von 1987 zugleich einen Antrag nach § 44 SGB X gestellt, so daß die Beklagte im Rahmen des damaligen Verfahrens auch die Richtigkeit ihres ablehnenden Bescheides von 1983 hätte überprüfen müssen. Dieser sei aber, ebenso wie der Entziehungsbescheid von 1980/1981, rechtswidrig ergangen, da der Kläger bereits 1983 durch Urteil des Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgerichts (rechtskräftig seit der Berufungsrücknahme im Jahre 1989) als Asylberechtigter anerkannt worden sei. Im Rahmen des § 20 Abs 5 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) habe eine Ermessensreduzierung auf Null vorgelegen.

Auf die vom SG zugelassene Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es könne offenbleiben, ob eine Anerkennung als Asylberechtigter auf den Zeitpunkt der entsprechenden Antragstellung zurückwirke oder ob insoweit auf die Prognose im Zeitpunkt der Verwaltungsentscheidung abzustellen sei. Jedenfalls sei ein Kindergeldanspruch des Klägers für die Jahre 1981 bis 1984 nach § 20 Abs 5 BKGG iVm § 44 Abs 4 SGB X verjährt. Diese Verjährung sei auch nicht durch rechtzeitige Stellung eines Antrags oder Einlegung eines Widerspruchs unterbrochen worden (§ 45 Abs 3 SGB I). Im Jahre 1987 habe der Kläger keinen Antrag nach § 20 Abs 5 BKGG gestellt, sondern lediglich einen aktuellen Kindergeldanspruch geltend gemacht.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger einen Verstoß gegen den auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben (§ 242 Bürgerliches Gesetzbuch ≪BGB≫) sowie eine Verletzung des § 44 Abs 4 SGB X. Diese Vorschrift regele nicht die Verjährung, sondern beinhalte eine materielle Begrenzung des Anspruchs. Die Beklagte habe im Bescheid von 1983 mitgeteilt, dem Kläger müsse das Kindergeld versagt werden, da er als Asylbewerber während der Dauer des Asylverfahrens im Bundesgebiet nur einen vorübergehenden Aufenthalt habe; gleichzeitig sei er jedoch darauf aufmerksam gemacht worden, daß das Kindergeld im Falle einer Zuerkennung des Asylrechts erneut zu beantragen sei. Zweifelhaft sei, ob sein Anspruch verjähren könne, wenn er in dieser Form darauf hingewiesen worden sei, einen erneuten Kindergeldantrag erst nach positiver Asylentscheidung zu stellen.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 27. September 1991 das Urteil des Sozialgerichts Kiel vom 21. August 1990 wiederherzustellen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Der Entscheidung des LSG sei im Ergebnis zuzustimmen. Selbst wenn die früheren Bescheide durch die Feststellung der Asylberechtigung des Klägers rückwirkend rechtswidrig geworden seien, könnte die Rücknahme der Bescheide nicht zu einer Nachzahlung für die Zeit vor dem 1. Januar 1985 führen. Die absolute Ausschlußfrist des § 44 Abs 4 SGB X lasse eine rückwirkende Zahlung über die Vierjahresfrist hinaus nicht zu. Im übrigen habe die Beklagte zu Recht die Verjährung der Kindergeldansprüche des Klägers für die Zeit bis Dezember 1984 gemäß § 45 SGB I iVm § 222 BGB geltend gemacht. Sie habe den Kläger nicht durch aktives Tun von der Einleitung verjährungsunterbrechender Schritte abgehalten. Dies gelte auch für den Hinweis, daß das Kindergeld nach Zuerkennung des Asylrechts neu beantragt werden könne.

Die Beigeladene trägt vor, es sei geboten, Kindergeldanträge von Asylbewerbern ausnahmslos bis zur endgültigen Entscheidung über ihre Asylanträge “offenzuhalten”. Gegen den Eintritt der Verjährung nach § 45 SGB I spreche auch § 202 Abs 1 BGB (Hemmung der Verjährung, solange der Verpflichtete vorübergehend zur Verweigerung der Leistung berechtigt ist).

 

Entscheidungsgründe

II

Der Senat hat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

Die Revision des Klägers ist zurückzuweisen. Er hat keinen Anspruch auf eine weiter ausgedehnte rückwirkende Bewilligung von Kindergeld für den streitigen Zeitraum von 1981 bis 1984. Auf der Grundlage der Rechtsprechung des Senats zum Kindergeldanspruch von Asylbewerbern (hierzu im folgenden unter 1) hat die Beklagte dem Kläger diese Leistung bereits mit längstmöglicher Rückwirkung gewährt (hierzu im folgenden unter 2). Nichts anderes folgt aus der Rechtsprechung des 4. Senats des BSG zur Rückwirkung des Anspruchs auf Erziehungsgeld bei Anerkennung als Asylberechtigter (hierzu im folgenden unter 3), aus dem Grundrecht auf Asyl (hierzu im folgenden unter 4) oder aus dem Hinweis der Beklagten, der Kläger möge bei Zuerkennung des Asylrechts erneut Kindergeld beantragen (hierzu im folgenden unter 5).

(1) Die Gewährung von Kindergeld war gemäß der im streitigen Zeitraum geltenden Regelung des § 1 Abs 1 BKGG aF (bis zur Neuregelung in § 1 Abs 3 BKGG mit Wirkung ab 8. Juli 1989) nach dessen Nr 1 nur möglich, wenn der Betroffene den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BKGG hatte. Nach der auch für das Kindergeldrecht geltenden Legaldefinition des § 30 Abs 3 SGB I hat jemand seinen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen läßt, daß er die Wohnung beibehalten und benutzen wird und den gewöhnlichen Aufenthalt dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Entsprechend hat das BSG schon immer angenommen, daß dem Begriff des “gewöhnlichen Aufenthaltes” das Moment der Dauer eigen ist (vgl zB BSG vom 25. Juni 1987, BSGE 62, 67, 69 = SozR 7833 § 1 Nr 1 zum Bundeserziehungsgeldgesetz ≪BErzGG≫), was erst recht auch für den “Wohnsitz” gelten muß (BSG vom 27. September 1990, SozR 3-7833 § 1 Nr 2 S 11 f). Das BSG hat folgerichtig und übereinstimmend entschieden, daß Asylbewerber während der Dauer eines verwaltungsgerichtlichen Verfahrens, in welchem über ihre Asylberechtigung entschieden wird, im Regelfall keinen gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BKGG haben (BSGE 62, 67, 69 sowie zum BKGG die Entscheidung des Senats vom 23. Februar 1988, BSGE 63, 47, 51 = SozR 5870 § 1 Nr 14). Asylbewerber können im Normalfall nicht von vornherein damit rechnen, daß die von ihnen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren angestrebte Asylberechtigung anerkannt wird und deshalb zu einem dauerhaften Aufenthalt führt.

Der Senat hat für das Kindergeldrecht die Voraussetzungen, unter denen ein Asylbewerber ausnahmsweise seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet hat, bereits mehrfach festgelegt und beschrieben. Hiernach wird der tatsächliche Aufenthalt eines Ausländers im Bundesgebiet erst dann zum gewöhnlichen Aufenthalt iS von § 30 Abs 3 Satz 2 SGB I, wenn nach dem Ausländerrecht und der Handhabung der einschlägigen Ermessensvorschriften durch die deutschen Behörden davon auszugehen ist, daß der Ausländer nicht nur vorübergehend, sondern auf Dauer im Bundesgebiet bleiben kann. Dabei kommt es auf die voraussehbare Zukunft an (BSG vom 20. Mai 1987, SozR 5870 § 1 Nr 12). In anderen Entscheidungen ist diese Voraussetzung durch andere Wendungen umschrieben worden, etwa dadurch, daß davon auszugehen sein müsse oder damit gerechnet werden könne, daß der Asylbewerber auf Dauer im Geltungsbereich des BKGG bleiben werde (BSG vom 23. Februar 1988, BSGE 63, 47, 49 = SozR 5870 § 1 Nr 14; BSG vom 17. Mai 1989, BSGE 65, 84, 86 = SozR 1200 § 30 Nr 17). Nur wenn eine derartige Prognose gestellt werden kann, sind nach der Überzeugung des erkennenden Senats die tatsächlichen Voraussetzungen für die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthaltes erfüllt. Diese Auslegung des § 30 Abs 3 Satz 2 SGB I entspricht auch dem Zweck des BKGG. Danach kommt es bei der Begrenzung des Kindergeldanspruchs durch § 1 Abs 1 Nr 1 BKGG aF darauf an, diejenigen Personen zu begünstigen, welche im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ein Kind aufziehen und dadurch einen Beitrag zur künftigen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Existenz der Gesellschaft in diesem Staat leisten.

Der Senat sieht sich in der geschilderten Auffassung zu § 1 Abs 1 Nr 1 BKGG im übrigen auch durch die Neufassung des § 1 Abs 3 BKGG mit Geltung ab 8. Juli 1989 bestätigt, mit der der Gesetzgeber weitgehend auf die dargestellte Rechtsprechung Bezug genommen hat (hierzu BSG vom 12. Februar 1992 – 10 RKg 26/90 –).

Es besteht auch kein Anlaß, für den bisher im Kindergeldrecht noch nicht entschiedenen Fall einer Anerkennung als Asylbewerber von der geschilderten Rechtsprechung abzuweichen. Es liegt im Wesen einer Prognose, daß ihre Richtigkeit zu einem bestimmten Zeitpunkt durch spätere Entwicklungen – etwa die Ablehnung des Asylantrags mit abschließender Abschiebung einerseits oder die Anerkennung der Asylberechtigung andererseits – nicht rückschauend widerlegt werden kann (BSG vom 23. Februar 1988, BSGE 63, 47, 49 = SozR 5870 § 1 Nr 14 mwN). In der Stellung der Prognose liegt auch kein Eingriff in die Entscheidungskompetenz des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge oder ein Verstoß gegen § 18 Satz 1 Asylverfahrensgesetz (idF der Bekanntmachung vom 9. April 1991, BGBl I 689 ≪AsylVfG≫); hiernach ist die Entscheidung dieses Bundesamtes im Asylverfahren in allen Angelegenheiten verbindlich, in denen die Anerkennung rechtserheblich ist. Daß allein das Bundesamt für die verbindliche Statusentscheidung zuständig ist, hindert nicht daran, im Wege der im wesentlichen aufgrund tatsächlicher Verhältnisse zu treffenden Prognoseentscheidung abzuschätzen, ob ein Asylbewerber – ggf trotz Ablehnung des Asylantrages – für absehbare Zeit in Deutschland bleiben darf oder nicht. Richtig ist in diesem Zusammenhang auch, daß im Rahmen der Prognoseentscheidung unterschiedliche Handhabungen zB der Abschiebungsregelungen darüber entscheiden können, ob dem Betreffenden ein bundesrechtlich geregelter (Kindergeld-)Anspruch zusteht oder nicht. Dies ist aber darauf zurückzuführen, daß der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts in § 30 Abs 3 SGB I auf die tatsächlichen Verhältnisse abstellt (BSG vom 23. Februar 1988, BSGE 63, 47, 48 = SozR 5870 § 1 Nr 14 mwN). Daß diese beim Vollzug des Ausländerrechts örtlich unterschiedlich sein können, ist Folge der durch das Grundgesetz (GG) vorgegebenen Zuständigkeiten (vgl Art 83 ff GG) und begründet daher weder Bedenken gegen die Rechtsprechung des Senats noch gar einen Verstoß gegen den Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 GG).

(2) Nach Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter hat ihm die Beklagte mit dem angefochtenen Bescheid bereits Kindergeld rückwirkend ab Januar 1985 gewährt. Auf der Grundlage der geschilderten Rechtsprechung aber kann dem Kläger ein weitergehender Anspruch nicht zustehen. Ungeprüft kann dabei bleiben, ob die Entziehungs- bzw Ablehnungsbescheide der Jahre 1980 bis 1987 wegen einer bereits damals für das Bleiberecht des Klägers günstigen Prognose rechtswidrig waren. Denn selbst dann würde hieraus kein weitergehender Leistungsanspruch folgen. Dem steht die Vorschrift des § 44 Abs 4 SGB X entgegen; diese Regelung setzt der – ansonsten im Ermessen der Beklagten stehenden (§ 20 Abs 5 BKGG schränkt den Anspruch nach § 44 Abs 1 SGB X ein) – rückwirkenden Bewilligung von Kindergeld bei entgegenstehenden früheren rechtswidrigen Leistungsablehnungen eine absolute Grenze. Hiernach werden Sozialleistungen längstens für einen Zeitpunkt bis zu vier Jahren vor der Rücknahme, gerechnet vom Beginn des Rücknahme- oder Antragsjahres, erbracht, wenn ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen wurde. Es handelt sich hierbei um eine von Amts wegen zu beachtende Ausschlußregelung, die selbst dann gilt, wenn dem Sozialleistungsträger an der Rechtswidrigkeit des zurückgenommenen Bescheides ein Verschulden treffen sollte (BSG vom 11. April 1985, SozR 1300 § 44 Nr 17).

Für den Umfang der Rückwirkung kommt es – entgegen der Auffassung der Vorinstanzen – nicht darauf an, ob der Kläger bereits vor 1989 einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X gestellt hatte, wie vom SG hinsichtlich des Antrags 1987 angenommen, vom LSG jedoch verneint. Denn auch dann könnte die Rückwirkung nach § 44 Abs 4 SGB X nicht an einen früheren Antrag als an jenen anknüpfen, der in der Tat zum Rücknahmebescheid nach § 44 Abs 1 (bzw Abs 2) SGB X geführt hat (ebenso bereits BSG vom 6. März 1991, BSGE 68, 180, 182 = SozR 3-1300 § 44 Nr 1). Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des Gesetzes, stellt doch § 44 Abs 4 Satz 2 SGB X für die Berechnung jener Vierjahresfrist auf den Zeitpunkt des Rücknahmebescheides ab (“von Beginn des Jahres an …, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird”) bzw, wenn die Rücknahme auf Antrag erfolgt, auf den Zeitpunkt “des” Antrages, also desjenigen, aufgrund dessen dann der Rücknahmebescheid ergeht. Hiermit steht in Einklang, daß nach den Materialien zu § 44 Abs 4 SGB X diese Vorfrist generell bezweckt, sicherzustellen, daß nach Zugunstenentscheidungen Leistungen nicht über vier Jahre hinaus rückwirkend gewährt werden (Amtl. Begründung des Regierungsentwurfs zu § 42 Abs 4 SGB X, BR-Drucks 170/78 S 34; hierzu bereits BSG vom 11. April 1985, SozR 1300 § 44 Nr 17 S 36 f). Diesem Zweck würde zuwiderlaufen, wenn durch mehrfache Wiederholung von Zugunstenanträgen die Rückwirkung ausgedehnt werden könnte. Ebenso ist die Möglichkeit nicht ganz auszuschließen, daß ein Betroffener, der sich durch einen zeitlich begrenzt wirkenden Bescheid ungerecht behandelt fühlt, stets erneut Zugunstenanträge stellt, in der Hoffnung, vielleicht in späterer Zukunft doch noch einmal Recht zu bekommen, auch wenn seit dem streitigen Zeitraum mehr als vier Jahre verstrichen sind. Eine Belastung der Verwaltung durch derartige unsinnige Anträge muß vermieden werden. Auch durch die Vorschrift des § 44 Abs 4 SGB X hat der Gesetzgeber deutlich gemacht, daß er mit der Regelung über den Zugunstenbescheid keine umfassende Wiedereinsetzung in den vor dem Eintritt der Bindungswirkung des nichtbegünstigenden Verwaltungsaktes bestehenden Verfahrensstand bezweckt (so bereits – in anderem Zusammenhang – der Senat in der Entscheidung vom 10. Dezember 1985, SozR 5870 § 2 Nr 44 S 149). Kann aber eine rückwirkende Zahlung nicht mehr erreicht werden, so besteht auch kein Anspruch auf die Rücknahme früherer nicht begünstigender Verwaltungsakte (BSG vom 6. März 1991, BSGE 68, 180, 181 f = SozR 3-1300 § 44 Nr 1).

Auf dieser Grundlage sind aber die Hinweise sowohl der Vorinstanzen wie auch der Beigeladenen auf bei der Frage der Verjährung (§ 45 SGB I) zu beachtende Rechtsgrundsätze – etwa die Bezugnahme auf § 45 Abs 3 SGB I durch das LSG bzw auf § 202 BGB durch die Beklagte – unbehelflich: Diese Gesichtspunkte können im Rahmen der Ausschlußfrist des § 44 Abs 4 SGB X gerade keine Rolle spielen.

Auch legt die vorliegende Fallkonstellation in keinerlei Hinsicht nahe, von der Anwendbarkeit der Vierjahresfrist des § 44 Abs 4 SGB X – ausnahmsweise – abzusehen. Der Kläger befand sich auch während des Laufes seines Asylverfahrens in keiner anderen Lage als sämtliche anderen Betroffenen, die mit ihrem gegenüber der Verwaltung geltend gemachten Anspruch zunächst nicht durchdringen und später, im Rahmen eines Zugunstenantrages nach § 44 SGB X, die Rechtswidrigkeit früherer Bescheide geltend machen. Denn auch er hatte die Möglichkeit, durch Ausschöpfung der ihm gegen den Entziehungs- oder Ablehnungsbescheid zustehenden Rechtsbehelfe eine richtige Entscheidung über seinen Antrag und damit ggfs auch Kindergeld bereits ab 1981 zu erlangen, falls die damaligen Bescheide rechtswidrig gewesen sein sollten, da für ihn eine positive Prognoseentscheidung zu treffen gewesen wäre.

(3) Etwas anderes folgt auch nicht aus der Rechtsprechung des 4. Senats des BSG zur Rückwirkung einer Anerkennung als Asylbewerber im Recht des Erziehungsgeldes (BSG vom 14. September 1989, BSGE 65, 261, 264 = SozR 7833 § 1 Nr 7; entsprechend für die Kindererziehungszeit im Rentenrecht inzwischen auch BSG vom 28. Juli 1992 – 5 RJ 4/92 –). Wäre unter Anwendung dieser, inzwischen durch Neufassung des § 1 Abs 1 BErzGG für diesen Bereich überholten Rechtsprechung (s dazu BSG vom 24. März 1992 – 14b/4 REg 23/91 –) zu folgern, daß für den Kläger vor seiner Anerkennung als Asylberechtigter überhaupt keine Möglichkeit bestand, einen erst aufgrund dieser Anerkennung feststellbaren Kindergeldanspruch durchzusetzen, könnte man an eine Rückwirkung über die 4-Jahres-Frist des § 44 Abs 4 SGB X hinaus denken (vgl die Regelung des § 9 Abs 3 BKGG über die Rückwirkung des Kindergeldanspruchs bei Anerkennung oder rechtskräftiger Feststellung der Vaterschaft für ein nichteheliches Kind).

Dem widerspricht jedoch die Rechtslage beim Kindergeld.

Die Auffassung des 4. Senats zum BErzGG kann auf das Kindergeldrecht nicht übertragen werden. Durch die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter ist für ihn nicht ein bereits zuvor bestehender Kindergeldanspruch bestätigt worden. Im Rahmen der “Prognose”-Rechtsprechung des Senats kann die Anerkennung den gewöhnlichen Aufenthalt des Klägers lediglich ab diesem Zeitpunkt begründen.

Daß in den einzelnen Rechtsgebieten des Sozialgesetzbuches unterschiedliche konkrete normative Bedeutungen der Begriffe des Wohnsitzes und des gewöhnlichen Aufenthalts iS des § 30 Abs 3 SGB I gelten können, ist in der Rechtsprechung des BSG anerkannt (vgl BSG vom 9. Oktober 1984 = SozR 5750 Art 2 § 51a Nr 58; BSG vom 27. September 1990, BSGE 67, 243, 246 = SozR 3-7833 § 1 Nr 2; zweifelnd nunmehr BSG vom 24. März 1992 – 14b/4 REg 12/90 – mit Hinweisen auf kritische Literaturstimmen; allerdings unter Herleitung des zusätzlichen Erfordernisses eines berechtigten, nicht nur vorübergehend erlaubten Aufenthalts aus “dem Zusammenhang des BErzGG”). Deshalb kann auch das Vorliegen eines gewöhnlichen Aufenthalts oder eines Wohnsitzes im Kindergeldrecht anders beurteilt werden als im Erziehungsgeldrecht bzw für die Kindererziehungszeiten im Rentenrecht und können unterschiedliche Auffassungen der hierfür zuständigen Senate nicht zu einer Anrufung des Großen Senats iS des § 41 Abs 2 SGG führen.

Die Rechtsprechung zur Rückwirkung einer anerkannten Asylberechtigung ist mit der im Kindergeld maßgebenden und vom Gesetzgeber bestätigten “Prognose”-Rechtsprechung nicht vereinbar. Denn die Auffassung, der Anerkennung als Asylberechtigter komme Rückwirkung auch für staatliche Leistungen zu, die einen gewöhnlichen Aufenthalt oder Wohnsitz voraussetzen, hat zur Folge, daß Anträge von Asylsuchenden so lange nicht endgültig bearbeitet werden können, wie über die Asylberechtigung nicht bindend entschieden ist (so in der Tat unter Anwendung des § 1 Abs 1 Nr 1 BErzGG aF: BSG, 4. Senat, Beschlüsse vom 21. Mai 1991, Streit 1992, 22 sowie vom 7. Oktober 1991, SozR 3-1500 § 114 Nr 2). Dagegen geht die “Prognose”-Rechtsprechung des Senats für das Kindergeldrecht davon aus, daß über einen Leistungsantrag sofort entschieden werden kann und muß. Dies dient nicht nur der Verwaltungsvereinfachung, sondern geschieht auch im Interesse der Verwirklichung der Zwecke des Kindergeldes, das den gegenwärtigen Unterhaltsbedarf der Kinder – teilweise – abdecken soll. Deshalb mag zB für die Kindererziehungszeiten im Recht der gesetzlichen Rentenversicherung, wo in der Regel über einen bereits lange abgeschlossenen Zeitraum zu urteilen ist, eine andere Betrachtungsweise angemessen sein (vgl BSG vom 28. Juli 1992 – 5 RJ 4/92 –).

(4) Ebensowenig begründen das Grundrecht des Art 16 Abs 2 Satz 2 GG oder weitere Vorschriften einen Anspruch anerkannter Asylberechtigter, für die Dauer ihres Asylverfahrens Kindergeld nachgezahlt zu erhalten. Auch dann, wenn das Recht auf Asyl im Asylverfahren nur deklaratorisch, nicht konstitutiv festgestellt wird, schließt es nicht das Recht ein, bereits für die Zeit vor der Anerkennung hinsichtlich der in der Bundesrepublik gewährten Sozialleistungen ebenso gestellt zu werden wie ein deutscher Staatsangehöriger (vgl Maunz/Dürig/Randelzhofer, GG, Art 16 RdNr 118). Aus Art 16 Abs 2 Satz 2 GG können keine weitergehenden Leistungsansprüche abgeleitet werden als aus § 3 AsylVfG iVm den entsprechenden Vorschriften des Abkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 – Genfer Konvention – (BGBl 1953 II 559 – FlüAbk –). Denn dieses Grundrecht knüpft inhaltlich an das völkerrechtliche Institut des Asylrechts an. Es ist damit, wenn keine besonderen Anhaltspunkte vorliegen, jedenfalls nicht großzügiger auszulegen als das Flüchtlingsvölkerrecht nach der Genfer Konvention (BVerfG vom 10. Juli 1989, BVerfGE 80, 315, 343 mwN).

Hiermit stimmt überein, daß nach § 3 Abs 1 Asylverfahrensgesetz Asylberechtigte die Rechtstellung nach dem FlüAbk genießen. Hiervon sind aber nur Flüchtlinge betroffen, die dem Flüchtlingsbegriff in Art 1 FlüAbk unterfallen und die sich rechtmäßig im Gebiet des jeweiligen Konventionsstaates befinden. Das ist bei einem in das Bundesgebiet eingereisten Asylbewerber in aller Regel erst dann der Fall, wenn er als politisch Verfolgter unanfechtbar anerkannt worden ist (BVerfG vom 20. April 1982, BVerfGE 60, 253, 190); zuvor kann er sich lediglich auf “das mit dem Antrag auf Asyl gesetzlich eintretende vorläufige Bleiberecht” (BVerfG vom 2. Mai 1984, BVerfGE 67, 43, 59) berufen, das ihm zwar Sicherheit vor dem befürchteten Zugriff des angeblichen Verfolgerstaates gewährt, aber keine Freizügigkeit begründet (BVerfG vom 6. Juni 1989, BVerfGE 80, 182, 187 f) und auch keine sonstigen Rechte nach dem FlüAbk auslöst.

Im übrigen wird der Anspruch auf Kindergeld durch das FlüAbk nicht gewährleistet. Art 24 Abs 1 Buchst a FlüAbk betrifft nur diejenigen Familienbeihilfen, die als Teil des Arbeitslohnes gezahlt werden. Ob das Kindergeld zur Sozialen Sicherheit (insbesondere zum “Familienunterhalt”) iS von Art 24 Abs 1 Buchst b FlüAbk gehört, kann offenbleiben, denn diese Regelung läßt besondere Bestimmungen unberührt, die nach dem im Aufenthaltsland geltenden Recht vorgeschrieben sind und die Leistungen betreffen, die ausschließlich aus öffentlichen Mitteln bestritten werden (aaO unter ii), wie das beim Kindergeld der Fall ist (vgl für das Erziehungsgeld BSG vom 24. März 1992 – 14b/4 REg 23/91 – mwN).

Unerheblich ist schließlich auch die Frage, ob der Kläger als türkischer Staatsangehöriger nach dem Beschluß 1/80 des Assoziationsrates EG-Türkei einen Anspruch auf eine Aufenthaltserlaubnis hatte (vgl hierzu EuGH vom 20. September 1990 – C-192/89, Slg 1990, 1-3461, 3497 ff). Denn ein solcher Anspruch könnte nur gemäß der Tatbestandswirkung einer entsprechenden Entscheidung der Ausländerbehörde berücksichtigt werden.

(5) Schließlich kann der Kläger auch keine Rechte aus dem von ihm zur Begründung seiner Revision herangezogenen Hinweis im Bescheid von 1983 herleiten. Denn hierin hat ihm die Beklagte in keinerlei Hinsicht eine Zusicherung (§ 34 SGB X) rückwirkender Gewährung von Kindergeld – etwa ab Einreise – für den Fall der Anerkennung als Asylberechtigter erteilt; sie hat vielmehr durchaus sachgerecht lediglich darauf hingewiesen, daß er bei Anerkennung erneut Kindergeld beantragen könne.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 913290

BSGE, 8

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