Entscheidungsstichwort (Thema)

Übergangsgeld aus der gesetzlichen Rentenversicherung für einen Bezieher von Arbeitslosengeld I, der aufstockend Arbeitslosengeld II erhält

 

Leitsatz (amtlich)

Der zur Leistung von Übergangsgeld verpflichtete Rentenversicherungsträger hat dem Jobcenter während einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme als Vorschuss auf das Übergangsgeld erbrachtes aufstockendes Arbeitslosengeld II zu erstatten.

 

Orientierungssatz

Soweit aus der Formulierung "zuvor" in § 20 Nr 3 Buchst b SGB 6 die Forderung abgeleitet wird, dass ein nahtloser Übergang zwischen vorheriger Beitragsleistung zur Rentenversicherung aus Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen und dem Bezug von Arbeitslosengeld II, an dem sich die Rehabilitationsmaßnahme anschließt, bestehen müsse (so LSG Berlin-Potsdam vom 16.2.2011 - L 16 R 1366/07 = juris RdNr 16), folgt der Senat dieser Ansicht nicht.

 

Normenkette

SGB 2 § 25 S. 1 Fassung: 2011-05-13, § 40 Abs. 2 Nr. 5 Fassung: 2011-05-13; SGB 3 § 335 Abs. 2, 5; SGB 6 § 11 Abs. 2 S. 1 Nr. 1, S. 3; SGB 6 § 20 Nr. 3 Buchst. b Fassung: 2006-04-24; SGB 6 § 21 Abs. 4 S. 1 Hs. 2 Fassung: 2005-03-21; SGB 10 § 102 Abs. 1-2

 

Verfahrensgang

Bayerisches LSG (Urteil vom 04.05.2016; Aktenzeichen L 19 R 817/14)

SG Bayreuth (Gerichtsbescheid vom 09.09.2014; Aktenzeichen S 7 R 8/14)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 4. Mai 2016 aufgehoben und die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 9. September 2014 zurückgewiesen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits in allen Rechtszügen.

Der Streitwert für das Revisionsverfahren wird auf 221,59 Euro festgesetzt.

 

Tatbestand

Der klagende Grundsicherungsträger begehrt von dem beklagten Rentenversicherungsträger die Erstattung von "aufstockenden" Leistungen nach dem SGB II, die er während einer zu Lasten der Beklagten durchgeführten medizinischen Rehabilitationsmaßnahme erbracht hat.

Die Beklagte bewilligte der bei ihr versicherten M. T. (V) auf ihren Antrag vom 28.10.2011 Leistungen zur medizinischen Rehabilitation. V bezog neben Arbeitslosengeld (Alg) seit 1.12.2011 vom Kläger "aufstockende" Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II. Während der medizinischen Rehabilitationsmaßnahme vom 29.12.2011 bis 19.1.2012 gewährte die Beklagte V Übergangsgeld (Übg) iHv täglich 13,80 Euro. Dies entsprach der Höhe des zuvor täglich gezahlten Alg.

Mit Schreiben vom 6.3. und 22.3.2012 machte der Kläger gegenüber der Beklagten die Erstattung von 221,59 Euro geltend. Er habe in dieser Höhe an V während der medizinischen Rehabilitationsmaßnahme "aufstockende" Leistungen nach dem SGB II (Leistungen für Unterkunft und Heizung: 196,88 Euro, Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung ≪KV≫: 21,32 Euro, Beiträge zur sozialen Pflegeversicherung ≪PV≫: 3,39 Euro) gezahlt. Hierfür sei die Beklagte erstattungspflichtig, weil V Anspruch auf Übg gehabt habe. Die Beklagte weigerte sich, diese Erstattungsforderung zu erfüllen.

Das SG hat mit Gerichtsbescheid vom 9.9.2014 der Klage stattgegeben und die Beklagte verurteilt, an den Kläger 221,59 Euro zu zahlen. Auf die vom SG zugelassene Berufung der Beklagten hat das LSG den Gerichtsbescheid mit Urteil vom 4.5.2016 aufgehoben und die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe keinen Erstattungsanspruch gegen die Beklagte nach § 102 SGB X iVm § 25 SGB II, weil diese nicht verpflichtet gewesen sei, Übg auch in Höhe des "aufstockend" gezahlten Arbeitslosengelds II (Alg II) an V zu leisten. Diese habe hierauf schon dem Grunde nach keinen Anspruch. Denn § 20 Nr 3 Buchst b SGB VI setze - ebenso wie § 21 Abs 4 S 1 Halbs 2 SGB VI - voraus, dass "zuvor" aus Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen Beiträge zur Rentenversicherung (RV) gezahlt worden seien. Damit werde eine "deutliche Anknüpfung an frühere Beitragszahlungen zur RV" vorgenommen. Es reiche aber nicht aus, dass "irgendwann, irgendwelche Beiträge" gezahlt worden seien. Vielmehr werde auf das der Sozialleistung zugrunde liegende Arbeitsentgelt abgestellt, und zwar im Fall des Bezugs von Alg II auf Arbeitsentgelt, aus dem zuvor Beiträge gezahlt worden seien. "Aufstockungsleistungen" nach dem SGB II stünden aber nicht in einem Bezug zu früheren Beitragsleistungen.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung materiellen Rechts. Das Berufungsgericht habe den Regelungsgehalt der Bestimmungen (§ 25 S 3 SGB II, § 102 Abs 2 SGB X, § 20 Nr 3 Buchst b SGB VI, § 21 Abs 4 S 1 Halbs 2 SGB VI), die dem geltend gemachten Erstattungsanspruch zugrunde lägen, verkannt. Es genüge sowohl nach § 20 Nr 3 Buchst b SGB VI als auch nach § 21 Abs 4 S 1 Halbs 2 SGB VI, dass vor dem Bezug von Alg II ("zuvor") Beiträge zur RV gezahlt worden seien. Auf einen bestimmten Zeitrahmen werde dabei nicht abgestellt.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 4. Mai 2016 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Bayreuth vom 9. September 2014 zurückzuweisen.

Die Beklagte, die dem Berufungsurteil weitgehend beipflichtet, beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist begründet.

Das SG hat die Beklagte im Ergebnis zu Recht verurteilt, an den Kläger 221,59 Euro zu zahlen. Diese Entscheidung war daher unter Aufhebung des angefochtenen LSG-Urteils wiederherzustellen.

Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Erstattungsanspruch nach § 102 SGB X iVm § 25 SGB II in Höhe des an V während der zu Lasten der RV durchgeführten medizinischen Rehabilitationsmaßnahme "aufstockend" erbrachten Alg II von 196,88 Euro (dazu unter II). Die darüber hinaus für diese Zeit zugleich geltend gemachten Beiträge zur KV und PV iHv 24,71 Euro kann der Kläger von der Beklagten gemäß § 40 Abs 2 Nr 5 SGB II iVm § 335 Abs 2 und 5 SGB III ersetzt verlangen (dazu unter III).

I. Im Revisionsverfahren fortwirkende Umstände, die einer Sachentscheidung des Senats entgegenstehen, liegen nicht vor.

Einer notwendigen Beiladung der V nach § 75 Abs 2 SGG bedurfte es nicht, weil V Sozialleistungen in der hier zwischen den Leistungsträgern streitigen Höhe von dem Kläger bereits erhalten hat und sie diese Leistungen in dieser Höhe - unabhängig vom Ausgang des vorliegenden Erstattungsrechtsstreits - nicht nochmals von der Beklagten beanspruchen könnte. V muss dem Kläger deren Wert auch nicht erstatten (§ 107 SGB X; vgl BSG Urteil vom 18.11.2014 - B 1 KR 12/14 R - SozR 4-2500 § 264 Nr 6 RdNr 9 mwN). Im Streit steht lediglich die Verteilung leistungsrechtlicher Verpflichtungen zwischen den beteiligten Sozialleistungsträgern.

II. Streitgegenstand ist zunächst der zulässigerweise mit der (echten) Leistungsklage (§ 54 Abs 5 SGG) verfolgte Anspruch des Klägers auf Erstattung von Übg in Höhe des "aufstockend" erbrachten Alg II wegen der Teilnahme der V an einer von der Beklagten gewährten medizinischen Rehabilitationsmaßnahme.

1. Als Anspruchsgrundlage für dieses Erstattungsbegehren des Klägers kommt allein § 102 SGB X iVm § 25 SGB II in Betracht.

Nach § 102 Abs 1 SGB X hat ein Leistungsträger Anspruch auf Kostenerstattung, der aufgrund gesetzlicher Vorschriften vorläufig Sozialleistungen erbracht hat. Die Vorschrift gilt im Anwendungsbereich des § 25 SGB II entsprechend (§ 25 S 3 SGB II). Hierbei richtet sich gemäß § 102 Abs 2 SGB X der Erstattungsanspruch des Klägers nach den für ihn geltenden Rechtsvorschriften, ist also auf denjenigen Umfang beschränkt, in dem er zu Recht Leistungen gemäß § 25 S 1 SGB II erbracht hat (vgl LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 23.6.2011 - L 10 R 648/09 - Juris RdNr 15).

Nach § 25 S 1 SGB II in der hier maßgeblichen Fassung der Bekanntmachung der Neufassung des SGB II vom 13.5.2011 (BGBl I 850) erbringen die Träger der Leistungen nach dem SGB II die bisherigen Leistungen als Vorschuss auf die Leistungen der RV weiter, wenn Leistungsberechtigte dem Grunde nach Anspruch auf Übg bei medizinischen Leistungen der gesetzlichen RV haben. Die Vorschrift des § 25 S 1 SGB II kommt also zur Anwendung, wenn ein Bezieher von Alg II dem Grunde nach Anspruch auf Übg hat, weil er von einem Träger der RV Leistungen zur medizinischen Rehabilitation erhält. Als Rechtsfolge erbringt in einem derartigen Fall der Grundsicherungsträger für den RV-Träger die "bisherigen Leistungen" vorschussweise weiter. Grund für diese Regelung ist, dass ein Trägerwechsel und damit eventuell einhergehende Lücken bei der Leistungsgewährung vermieden werden sollen (Senatsbeschluss vom 19.10.2011 - B 13 R 241/11 B - SozR 4-4200 § 25 Nr 1 RdNr 13 unter Verweis auf die Beschlussempfehlung und den Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung vom 26.1.2005 zum Entwurf eines Gesetzes zur Vereinfachung der Verwaltungsverfahren im Sozialrecht ≪Verwaltungsvereinfachungsgesetz≫, BT-Drucks 15/4751, 44).

2. Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 25 S 1 SGB II sind erfüllt. V hatte während der medizinischen Rehabilitationsmaßnahme vom 29.12.2011 bis 19.1.2012 gegen die Beklagte gemäß § 20 Nr 3 Buchst b iVm § 21 Abs 4 S 1 Halbs 2 SGB VI Anspruch auf Übg (auch) in Höhe des ergänzend ("aufstockend") gezahlten Alg II.

§ 20 Nr 3 Buchst b SGB VI in der hier maßgeblichen Fassung des Gesetzes zur Förderung ganzjähriger Beschäftigung vom 24.4.2006 (BGBl I 926) lautet: Anspruch auf Übg haben Versicherte, die bei Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder sonstigen Leistungen zur Teilhabe unmittelbar vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder, wenn sie nicht arbeitsunfähig sind, unmittelbar vor Beginn der Leistungen Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld, Übg, Kurzarbeitergeld, Alg, Alg II oder Mutterschaftsgeld bezogen haben und für die von dem der Sozialleistung zugrunde liegenden Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen oder im Falle des Bezugs von Alg II zuvor aus Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen Beiträge zur RV gezahlt worden sind.

§ 21 Abs 4 S 1 Halbs 2 SGB VI in der hier maßgeblichen Fassung des Verwaltungsvereinfachungsgesetzes vom 21.3.2005 (BGBl I 818) lautet: Versicherte, die unmittelbar vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder, wenn sie nicht arbeitsunfähig sind, unmittelbar vor Beginn der medizinischen Leistungen Alg II bezogen und die zuvor Pflichtbeiträge gezahlt haben, erhalten Übg bei medizinischen Leistungen in Höhe des Betrages des Alg II. Dies gilt nach § 21 Abs 4 S 2 SGB VI in der vorgenannten Fassung aber nicht für Empfänger der Leistung, die Alg II nur darlehensweise oder die nur Leistungen nach § 24 Abs 3 S 1 SGB II bezogen haben. Diese der Anwendung des § 21 Abs 4 S 1 Halbs 2 SGB VI entgegenstehenden Tatbestände des § 21 Abs 4 S 2 SGB VI liegen hier nicht vor.

a) Die Voraussetzungen von § 20 Nr 3 Buchst b iVm § 21 Abs 4 S 1 Halbs 2 SGB VI für die Gewährung von Übg an V in Höhe des vom Kläger während der medizinischen Rehabilitationsmaßnahme "aufstockend" erbrachten Alg II sind erfüllt.

aa) Nach den für den Senat nach § 163 SGG bindenden tatsächlichen Feststellungen des LSG hat V - wie von § 20 Nr 3 Buchst b SGB VI vorausgesetzt - "unmittelbar" vor Beginn der medizinischen Rehabilitationsmaßnahme am 29.12.2011 neben Alg "aufstockend" Alg II bezogen, und zwar durchgehend seit 1.12.2011.

bb) V erfüllt auch die weitere Voraussetzung des § 20 Nr 3 Buchst b SGB VI für einen Anspruch auf Übg im Fall des Bezugs von Alg II. Danach wird vorausgesetzt, dass "zuvor aus Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen Beiträge zur RV gezahlt worden sind". Anspruch auf Übg hat somit nur derjenige Bezieher von Alg II, der bereits "beitragsbelastete" Vorversicherungszeiten in der RV aufgrund pflichtversicherter Beschäftigung oder selbstständiger Tätigkeit aufweist (Krauß in Hauck/Noftz, SGB II, K § 25 RdNr 12, Stand: Einzelkommentierung November 2014).

Soweit aus der Formulierung "zuvor" in § 20 Nr 3 Buchst b SGB VI die Forderung abgeleitet wird, dass ein nahtloser Übergang zwischen vorheriger Beitragsleistung zur RV aus Arbeitsentgelt und Arbeitseinkommen und dem Alg II-Bezug, an dem sich die Rehabilitationsmaßnahme anschließt, bestehen müsse (so LSG Berlin-Brandenburg Urteil vom 16.2.2011 - L 16 R 1366/07 - Juris RdNr 16), folgt der Senat dieser Ansicht nicht.

Ein Verständnis des unbestimmten Rechtsbegriffs "zuvor" in diesem restriktiven Sinne kommt bereits aus gesetzessystematischen Gründen nicht in Betracht. § 21 Abs 3 SGB VI regelt die Anwendung des § 49 SGB IX mit der Maßgabe, dass Versicherte "unmittelbar vor" dem Bezug der dort genannten Leistungen (Krankengeld, Verletztengeld, Versorgungskrankengeld oder Übg) Pflichtbeiträge "geleistet" haben (vgl hierzu Senatsurteil vom 31.10.2012 - B 13 R 10/12 R - SozR 4-3250 § 49 Nr 2 RdNr 24-26). Eine solche Einschränkung beinhaltet § 20 Nr 3 Buchst b SGB VI - ebenso wie § 21 Abs 4 S 1 Halbs 2 SGB VI - hingegen nicht.

Aber selbst dort, wo das Gesetz in einschlägigen Zusammenhängen die engeren Formulierungen "im unmittelbaren Anschluss" (§ 51 Abs 5 SGB IX) oder nur "im Anschluss" (§ 49 Halbs 1 SGB IX) verwendet, wird vom BSG kein nahtloser Übergang gefordert (vgl BSG Urteil vom 29.1.2008 - B 5a/5 R 26/07 R - SozR 4-3250 § 51 Nr 1 RdNr 30 f; Senatsurteil vom 5.2.2009 - B 13 R 27/08 R - SozR 4-3250 § 28 Nr 3 RdNr 22 f; BSG Urteil vom 7.9.2010 - B 5 R 104/08 R - SozR 4-3250 § 49 Nr 1 RdNr 21).

Ob der Gesetzgeber mit dem Begriff "zuvor" in § 20 Nr 3 Buchst b SGB VI überhaupt eine bestimmte Zeitspanne zwischen vorheriger (Pflicht-)Beitragsleistung zur RV aus Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen und dem Alg II-Bezug unmittelbar vor der Rehabilitationsmaßnahme im Blick hatte, lässt sich den einschlägigen Gesetzesmaterialien nicht entnehmen (vgl Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit und Soziale Sicherung vom 26.1.2005 zum Entwurf eines Verwaltungsvereinfachungsgesetzes, BT-Drucks 15/4751, 46 zu Art 5 zu Nr 1a; Begründung der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 5.9.2003 zum Entwurf eines Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, BT-Drucks 15/1516, 73 zu Nr 3 und 4; Begründung der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 30.3.2004 zum Entwurf eines Gesetzes für optionale Trägerschaft von Kommunen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch ≪Kommunales Optionsgesetz≫, BT-Drucks 15/2816, 16 zu Nr 2). Der unbestimmte Rechtsbegriff "zuvor" in § 20 Nr 3 Buchst b SGB VI kann aber unter Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Leistung von Übg während einer (medizinischen) Rehabilitationsmaßnahme präzisiert werden.

Die Zweckbestimmung des Übg nach § 20 SGB VI liegt darin, während einer Rehabilitationsmaßnahme die Entgelt- und Einkommensverhältnisse aufrechtzuerhalten, die dem bisherigen Lebensstandard des Versicherten zugrunde liegen ("Kontinuitätsauftrag"). Es soll den Entgelt- und Einkommensverlust - sei es den Ausfall von Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen oder einer der in dieser Norm benannten Sozialleistungen - ausgleichen ("Entgeltersatz- bzw Ausgleichsfunktion"), dem ein in der gesetzlichen RV Versicherter durch die Inanspruchnahme von Rehabilitationsleistungen ausgesetzt ist (vgl Kater in Kasseler Komm, § 20 SGB VI RdNr 3, Stand: Einzelkommentierung Mai 2014; Jüttner in Hauck/Noftz, SGB VI, K § 20 RdNr 2, Stand: Einzelkommentierung Februar 2016).

Anders als bei den sonstigen in § 20 Nr 3 Buchst b SGB VI genannten Sozialleistungen kommt dem Alg II als bedarfsorientierte und vorleistungsunabhängige Leistung der Grundsicherung eine "Entgeltersatzfunktion" orientiert am letzten "beitragsbelasteten" Entgelt, an das insoweit hinsichtlich einer "zuvor" erfolgten "Beitragsentrichtung" angeknüpft werden könnte ("der Sozialleistung zugrunde liegenden Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen"), zwar nicht zu. Ihm liegt bei der Leistungsbemessung kein "zuvor" erzieltes "beitragsbelastetes" Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen zugrunde (vgl Begründung der Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN vom 30.3.2004 zum Entwurf eines Kommunalen Optionsgesetzes, BT-Drucks 15/2816, 16 zu Nr 2). Gleichwohl ist Alg II nach § 102 SGB X iVm § 25 SGB II durch den RV-Träger zu ersetzen. Denn der Grundsicherungsträger erbringt die "bisherigen Leistungen" für den RV-Träger während einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme vorschussweise weiter, wenn der Leistungsberechtigte nach den Vorschriften des SGB VI einen Übg-Anspruch hat. Dies entspricht dem "Kontinuitätsauftrag". Hiervon ausgehend liegt es zur näheren Bestimmung des durch das Wort "zuvor" in § 20 Nr 3 Buchst b SGB VI umschriebenen Zeitrahmens nahe, die in § 11 SGB VI normierten versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für medizinische Rehabilitationsleistungen der RV heranzuziehen. Danach genügt es jedenfalls für die notwendige "Vorleistung" von Beiträgen zur RV aus Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen, dass in den letzten zwei Jahren vor der Beantragung von Leistungen zur medizinischen Rehabilitation aus dem Arbeitsentgelt oder Arbeitseinkommen einer versicherten Beschäftigung oder Tätigkeit (für zumindest sechs Kalendermonate) Beiträge zur RV entrichtet worden sind (vgl § 11 Abs 2 S 1 Nr 1 SGB VI). Dieser Zeitraum kann sich gegebenenfalls um Anrechnungszeiten wegen des Bezugs von Alg II verlängern (vgl § 11 Abs 2 S 3 SGB VI).

V erfüllte diese Voraussetzungen. Sie stand vor ihrem am 28.10.2011 bei der Beklagten gestellten Antrag auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation vom 1.5.2010 bis 31.5.2011 in einer pflichtversicherten Beschäftigung, und aus dem von ihr dort erzielten Arbeitsentgelt wurden Pflichtbeiträge zur RV entrichtet.

cc) Gemäß § 21 Abs 4 S 1 Halbs 2 SGB VI bemisst sich für Versicherte, die - wie V - unmittelbar vor Beginn der medizinischen Leistungen Alg II bezogen und zuvor Pflichtbeiträge zur RV "gezahlt" haben, das Übg nach der "Höhe des Betrages des Alg II". Damit orientiert sich das Übg bei Vorbezug von Alg II folgerichtig und systemgerecht im Rahmen des (auch insoweit bestehenden) "Kontinuitätsauftrags" am aktuellen (Grundsicherungs-)Bedarf des erwerbsfähigen Leistungsberechtigten. Auf diese Weise wird zugleich der "Ausgleichsfunktion" des Übg folgend eine von Zufälligkeiten freie und den bisherigen Lebensstandard des hilfebedürftigen erwerbsfähigen Versicherten ausreichend widerspiegelnde (bedarfsgerechte) Bemessung (auch) dieser "Ersatzleistung" während einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme gewährleistet.

Aus dem Empfängerhorizont des Leistungsberechtigten wird bei einer zu Lasten der RV durchgeführten medizinischen Rehabilitationsmaßnahme Alg II in unveränderter Höhe weitergezahlt. Der Unterschied besteht nur darin, dass an Stelle des RV-Trägers der Grundsicherungsträger für diesen vorschussweise das Übg erbringt, und zwar in Höhe der "bisherigen Leistungen". Denn die "bisherigen Leistungen" nach § 25 S 1 SGB II, die der Träger der Grundsicherung in Form und in Höhe von Alg II als "Vorschuss" auf Leistungen der RV während der medizinischen Rehabilitation weiterzahlt, korrespondieren mit der Höhe des Übg nach § 20 Nr 3 Buchst b iVm § 21 Abs 4 S 1 Halbs 2 SGB VI. Eine gesonderte Berechnung des Übg ist hier nicht erforderlich (Krauß in Hauck/Noftz, SGB II, K § 25 RdNr 14, Stand: Einzelkommentierung November 2014).

b) Der Einwand der Beklagten, dass sie bei sog "Aufstockern" im Fall der Arbeitslosigkeit nur das aus Beiträgen finanzierte Alg (als Versicherungsleistung) bei Leistungen zur medizinischen Rehabilitation als Übg zu zahlen habe, das aus Steuermitteln finanzierte, "aufstockend" geleistete Alg II (als ergänzende Fürsorge- bzw Sozialhilfeleistung) hingegen vom Grundsicherungsträger weiterzuzahlen und vom RV-Träger nicht zu erstatten sei, überzeugt nicht (vgl im Ergebnis ebenso Jüttner in Hauck/Noftz, SGB VI, K § 21 RdNr 70a, Stand: Einzelkommentierung September 2016). Dies zeigt bereits die gesetzliche Konstruktion des § 20 Nr 3 Buchst b iVm § 21 Abs 4 S 1 Halbs 2 SGB VI. Denn wäre das Alg bereits vor der medizinischen Rehabilitationsmaßnahme ausgelaufen, dann wäre das Alg II in seiner gesamten Höhe Grundlage für den Übg-Anspruch der versicherten erwerbsfähigen Hilfebedürftigen gewesen. Insoweit erfolgt gerade keine Differenzierung zwischen einem "beitragsfinanzierten" bzw "versicherungsbezogenen" und einem "steuerfinanzierten" bzw "fürsorge- oder grundsicherungsbezogenen" Teil des Übg-Anspruchs. Im Übrigen ist auch nichts dafür ersichtlich, dass der Gesetzgeber bei der Gewährung von Übg für Alg II-Bezieher während einer medizinischen Rehabilitationsmaßnahme (dem Grunde und der Höhe nach) zwischen (vorschussweise) "aufstockend" und "ausschließlich" gezahltem Alg II unterscheiden wollte. Weder die oben genannten einschlägigen Gesetzesmaterialien noch der Wortlaut der vorgenannten Bestimmungen oder die dargestellte Zweckbestimmung des Übg mit seiner den bisherigen Lebensstandard des Leistungsempfängers sichernden "Entgeltersatz- bzw Ausgleichsfunktion" geben für eine solchermaßen einschränkende Betrachtungsweise greifbare Anhaltspunkte. Vielmehr erfolgt der "Ersatz" durch Übg in Bezug auf das aufstockend erbrachte Alg II nur in Höhe des wegen der zeitgleichen Leistung des Übg auf Grundlage des Alg entsprechend geringeren Grundsicherungsbedarfs nach dem SGB II. Denn Alg/Übg ist als Einkommen iS des § 11 Abs 1 S 1 SGB II bei der Berechnung des Alg II nach § 9 Abs 1 SGB II bedarfsmindernd zu berücksichtigen.

c) Der von dem Kläger nach § 102 SGB X zu beanspruchende Erstattungsbetrag für Übg beschränkt sich gemäß § 21 Abs 4 S 1 Halbs 2 SGB VI auf die Höhe des von ihm während der medizinischen Rehabilitationsmaßnahme nach § 25 S 1 SGB II als Vorschuss "aufstockend" erbrachten Alg II. Erfasst werden vom Alg II aber nur die in § 19 Abs 1 S 3 SGB II genannten Bedarfe (Regelbedarf ≪§ 20 SGB II≫, Mehrbedarf ≪§ 21 SGB II≫, Bedarf für Unterkunft und Heizung ≪§ 22 SGB II≫), soweit sie auf denjenigen entfallen, der die Leistungen zur medizinischen Rehabilitation erhält (Krauß in Hauck/Noftz, SGB II, K § 25 RdNr 13, Stand: Einzelkommentierung November 2014; vgl auch Senatsbeschluss vom 19.10.2011 - B 13 R 241/11 B - SozR 4-4200 § 25 Nr 1 RdNr 13). Als hiernach vom Alg II erfassten Bedarf von V hat die Beklagte in ihrer Erstattungsforderung aber lediglich Leistungen für Unterkunft und Heizung iHv 196,88 Euro geltend gemacht, sodass die auf § 102 SGB X iVm § 25 SGB II gestützte Klage auch nur in dieser Höhe begründet ist.

III. Die vom Kläger zudem geltend gemachten Beiträge zur KV und PV iHv 24,71 Euro kann er von der Beklagten nach Maßgabe der Regelung des § 40 Abs 2 Nr 5 SGB II iVm § 335 Abs 2 und 5 SGB III beanspruchen.

1. Nach § 335 Abs 2 SGB III sind Beiträge für Versicherungspflichtige nach § 5 Abs 1 Nr 2 SGB V, denen eine Rente aus der gesetzlichen RV oder Übg von einem nach § 251 Abs 1 SGB V beitragspflichtigen Rehabilitationsträger gewährt worden ist, der Bundesagentur für Arbeit (BA) vom Träger der RV oder vom Rehabilitationsträger zu ersetzen, wenn und soweit wegen der Gewährung von Alg oder Unterhaltsgeld ein Erstattungsanspruch der BA gegen den Träger der RV oder den Rehabilitationsträger besteht (S 1 idF des Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 24.12.2003, BGBl I 2954). S 1 ist entsprechend anzuwenden in den Fällen, in denen dem Arbeitslosen von einem Träger der RV wegen einer Leistung zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben Übg oder eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit zuerkannt wurde (S 2 idF des Sozialgesetzbuches - Neuntes Buch - ≪SGB IX≫ Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen vom 19.6.2001, BGBl I 1046). Für die Beiträge der BA zur PV für Versicherungspflichtige nach § 20 Abs 1 S 2 Nr 2 SGB XI ist § 335 Abs 2 SGB III entsprechend anzuwenden (§ 335 Abs 5 SGB III idF des Dritten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt vom 23.12.2003, BGBl I 2848).

§ 335 Abs 2 und 5 SGB III finden über § 40 Abs 2 Nr 5 SGB II in der hier maßgeblichen Fassung der Bekanntmachung der Neufassung des SGB II vom 13.5.2011 (BGBl I 850) auch für das SGB II Anwendung. Bezieher von Alg II sind gemäß § 5 Abs 1 Nr 2a SGB V in der KV und gemäß § 20 Abs 1 S 2 Nr 2a SGB XI in der PV pflichtversichert. Die Beiträge zur KV/PV werden vom Bund getragen (§ 251 Abs 4 S 1 SGB V und § 59 Abs 1 S 1 SGB XI). Die BA oder in den Fällen des § 6a SGB II die zugelassenen kommunalen Träger zahlen die Beiträge zur KV/PV (§ 252 Abs 1 S 2 SGB V und § 60 Abs 1 S 1 SGB XI).

2. § 335 Abs 2 und 5 SGB III setzen - da sie einen (anderweitigen) Erstattungsanspruch zur Voraussetzung (des Ersatzanspruchs) haben - denknotwendig voraus, dass der Erstattungsanspruch selbst gerade nicht die Beiträge zur KV und PV umfasst (Senatsurteil vom 31.10.2012 - B 13 R 9/12 R - SozR 4-1300 § 104 Nr 5 RdNr 49; BSG Urteil vom 25.9.2014 - B 8 SO 6/13 R - BSGE 117, 47 = SozR 4-4200 § 44a Nr 1, RdNr 15). Dies ist vorliegend der Fall. Denn der Kläger hat gegen die Beklagte - wie unter II ausgeführt - gemäß § 102 SGB X iVm § 25 SGB II lediglich Anspruch auf Erstattung des während der Teilnahme der V an einer von der Beklagten gewährten medizinischen Rehabilitationsmaßnahme "aufstockend" gezahlten Alg II in Form des Bedarfs an Leistungen für Unterkunft und Heizung. Da auch im Übrigen die Voraussetzungen des § 40 Abs 1 S 2 Nr 5 SGB II iVm § 335 Abs 2 und 5 SGB III erfüllt sind, hat der Kläger Anspruch gegen die Beklagte auf Ersatz der während der Rehabilitationsmaßnahme für V entrichteten und vorliegend in der Höhe zwischen den Beteiligten unstreitigen Beiträge zur KV und PV.

IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs 1 S 1 Teils 3 SGG iVm § 154 Abs 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 197a Abs 1 S 1 Teils 1 SGG iVm § 63 Abs 2 S 1, § 52 Abs 1 und 3 S 1 sowie § 47 Abs 1 S 1 GKG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 10876494

FEVS 2018, 199

NZS 2017, 554

SGb 2017, 337

Breith. 2018, 30

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