Beschäftigung jenseits des Rentenalters

Der Ruhestand muss kein Stillstand sein. Doch noch immer lassen Unternehmen wertvolles Erfahrungswissen und Arbeitskraft in Rente gehen. Was HR tun kann, um Mitarbeitende jenseits der Regelaltersgrenze im Unternehmen zu halten, und wie ein zeit­gemäßeres Bild vom Alter dabei helfen kann.

Einmal schief draufgeschaut, sieht "Ruhestand" aus wie "Stillstand". Und passt doch auch, oder nicht? Eine Phase mit einem eindeutigen Anfang –  Rentenbeginn – und einem definitiven Ende – Tod –, die durch etwas definiert ist, was wir nicht tun, nämlich: arbeiten. Davon abgesehen bleibt dieser Lebensabschnitt recht diffus. Eventuell haben wir eine vage Vorstellung von uns selbst mit grauen Haaren und viel Zeit für Enkelkinder, geführte Rundreisen und Taubenfüttern im Park. "Wer in Rente geht, hat ein hohes Lebensalter, aber null Erfahrung im Ruhestand", meint Frank Leyhausen, der mit seiner Agentur Ageforce 1 Mitarbeitende und Unternehmen bei der Ruhestandsplanung berät. "Wir meinen zu wissen, wie das Leben geht, und stellen nach ein paar Monaten im Ruhestand fest: Doch nicht so cool."

Und dennoch gilt die Phase jenseits des Renteneintritts zumindest von diesseits aus betrachtet als sehr erstrebenswert. Laut einer Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft möchten 37 Prozent der 50- bis 66-Jährigen früher in Rente gehen. Auffällig: Jede zehnte befragte Person gibt an, sie wolle nicht bis zum gesetzlichen Renteneintrittsalter arbeiten, obwohl sie sich dazu in der Lage sieht. Doch die Verklärung der Rentenphase findet sich ebenso auf der Seite der Arbeitgeber, die – von den Sozialpartnern unterstützt – Altersteilzeitprogramme als Wohltat anpreisen und das Klischee vom "verdienten Ruhestand" weitertragen. "Die deutsche Frühverrentungskultur sitzt tief in der Mentalität", kritisiert Dr. Leonie Koch, Gründerin der Initiative Change Maker 50 plus und des Generationen-Netzwerks #experienced bei der Otto Group.

Demografischer Wandel und Fachkräftemangel

Es ist eine Einstellung, die sich Unternehmen nicht leisten können. "Mit den großen Altersteilzeitprogrammen werden auch heute noch ohne klare Differenzierung interner Bedarfe sogar Key Worker abgebaut", kritisiert Koch. Mitarbeitende also, die über viele Berufsjahre Erfahrungs- und Spezialwissen aufgebaut haben und sich ein sensorisches und haptisches Wissen angeeignet haben, das nicht mit ein paar Stichpunkten auf dem Übergabezettel weitergegeben werden kann.

Hinzu kommt die unbestechliche Demografie. 2036 verlassen die letzten Babyboomer – Kinder der geburtenstarken 1950er- und 1960er-Jahre – den Arbeitsmarkt. Der Trend ist bekannt: Die Bevölkerung altert, während die Zahl der Erwerbstätigen schrumpft. 2024 waren von 84 Millionen Menschen in Deutschland 20 Prozent älter als 66 Jahre, 61 Prozent zwischen 20 und 66 Jahre alt. 2050 dürfte sich die Zahl der über 66-Jährigen auf 26 Prozent erhöhen, während der Anteil der 20- bis 66-Jährigen auf 56 Prozent und die Gesamtgesellschaft auf 79,4 Millionen Menschen schrumpfen werden, prognostiziert das Statistische Bundesamt. 

"Das Thema Demografie können wir nur lösen, wenn wir das mit einem Betriebsziel verbinden. Sonst bleibt es ein Randthema. Und aussitzen ist sowieso keine Option", betont auch Christian Jerusalem, der sich mit seinem Beratungsunternehmen Wiseforce Advisors für einen anderen Blick auf Fachkräfte 55 plus starkmacht. "Im Sinne der Wettbewerbsfähigkeit und der langfristigen Lebensfähigkeit des Unternehmens muss die Frage lauten: Wie ziehen wir Mehrwert aus einer älter werdenden Gesellschaft?"

Programme für Senior Experts

Immer häufiger setzen Unternehmen nun darauf, Mitarbeitende aus der Rente zurück ins Berufsleben zu holen. "Inzwischen tut sich bei verschiedenen Branchen, etwa Banken oder Versicherungen, doch einiges. Der Blick geht über die sogenannten Silberrücken, die (Ex-)High-Level-Manager, hinaus auf Schlüsselfiguren mit erfolgskritischem Spezialwissen", sagt Koch. Unternehmen wie Bosch und Lufthansa Technik haben vor einigen Jahren begonnen, Senior-Expert-Programme aufzubauen, um ältere Beschäftigte über das Rentenalter hinaus im Unternehmen beschäftigen zu können. Während Konzerne damit vor allem wertvolles Wissen im Unternehmen halten und eine geordnete Nachfolge ermöglichen möchten, nutzen mittelständische Unternehmen die Weiterbeschäftigung von Mitarbeitenden im Ruhestand als Instrument gegen den Fachkräftemangel, sagt Koch. Im einen wie im anderen Fall gilt: Es braucht kluge HR-Maßnahmen, damit Mitarbeitende bis zur Regelaltersgrenze oder sogar länger im Unternehmen bleiben können und wollen.

Aber ist das denn nicht Aufgabe der Politik? Schließlich ist das gesetzliche Renteneintrittsalter im Sozialgesetzbuch geregelt. Und tatsächlich planen Union und SPD in ihrem Koalitionsvertrag für die künftige Bundesregierung finanzielle Anreize, damit freiwilliges längeres Arbeiten mehr lohnt - etwa durch eine Aktivrente, die Aufhebung des Vorbeschäftigungsverbots sowie durch eine Verbesserung von Hinzuverdienstmöglichkeiten. Dennoch können Unternehmen bereits heute die Sache selbst in die Hand zu nehmen, um Mitarbeitende über den Renteneintritt hinaus zu beschäftigen und Anreize zur Weiterarbeit zu setzen. 

Weiterbeschäftigung von Rentnern ist ein Querschnittsthema

Zur Wahrheit gehört allerdings auch: Die Materie ist komplex, es gilt, diverse arbeits- und sozialrechtliche Regeln zu berücksichtigen. Bemerkenswert ist, dass die Schwierigkeiten offenbar nicht weniger werden, wenn man sich mit der Sache auseinandersetzt – im Gegenteil. Bei einer Umfrage des Instituts der deutschen Wirtschaft aus dem Jahr 2024 nannten  30 Prozent der befragten 780 Personalverantwortlichen arbeits- und sozialrechtliche Vorgaben als Hemmnis, um mehr oder überhaupt Beschäftigte im Rentenalter einzusetzen. Kamen die Befragten aus Unternehmen, die bereits Erfahrungen mit der Weiterbeschäftigung von Mitarbeitenden im Ruhestand gemacht hatten, schätzten sogar 38 Prozent von ihnen die Vorgaben als Hinderungsgrund ein. Dieser Schwerpunkt soll daher Orientierung bieten. Jannes Hölzer, Manager People Recognition & Reward und Syndikusrechtsanwalt bei Lufthansa Technik, gibt in seinem Beitrag einen umfassenden Einblick, welche Beschäftigungsmodelle für Beschäftigte jenseits des Rentenalters möglich sind.

Alter am Arbeitsplatz ist ein Querschnittsthema, das die unterschiedlichen HR-Bereiche betrifft. Entsprechend vielseitig sind die Blickwinkel: Was gilt arbeitsrechtlich für die Einstellung von Fachkräften im Rentenalter? Welche Maßnahmen bietet das betriebliche Gesundheitsmanagement, um Mitarbeitende länger leistungsfähig zu halten, wie können Arbeitsplatz und Schichtplan altersgerecht angepasst werden? Ob es um Bleibeanreize mittels Benefits geht, attraktive Karrierewege für Beschäftigte 50plus, den Aufbau eines Mentoring-Programms oder um die Sensibilisierung für Altersstereotype im Team – HR ist gefordert. Mehrere Unternehmen geben Einblicke in ihre HR-Programme rund ums Thema Alter. 

Arbeit in Rente braucht ein neues Altersbild

Wenn wir noch einen Schritt weiter gehen, wird klar, dass wir dringend ein zeitgemäßeres Bild vom Alter brauchen. Das unsere ist doch sehr in die Jahre gekommen. Wir haben uns daran gewöhnt, "alt" mit Passivität und Ruhestand gleichzusetzen. Nicht zu arbeiten, gilt mit dem Renteneintritt plötzlich nicht mehr als Makel, sondern als Lebensinhalt. Die Sache ist nur die: Aller Voraussicht nach stehen uns sehr viele Jahre des Nicht-Arbeitens bevor. Wer heute 30 Jahre alt ist, hat laut Statistischem Bundesamt eine Lebenserwartung von 89 beziehungsweise 84 Jahren (Frauen leben durchschnittlich länger), wer heute geboren wird, kann damit rechnen, 93 beziehungsweise 90 Jahre alt zu werden. 

Selbst bei einem Renteneintritt mit 67 sind das rund zwei Jahrzehnte im Ruhestand. In anderen Phasen unseres Lebens ist das mehr als genug Zeit, um die Familienplanung zu beginnen und abzuschließen, um zwei Startups zu gründen und wieder scheitern zu lassen oder um eine Ausbildung mitsamt Studium  und Berufseinstieg zu absolvieren, ein Jahr Weltreise inklusive. Und trotzdem gehen wir davon aus, dass ab 67 die Füße hochzulegen sind und der Lebensabend dämmert. Es wird sicherlich immer Menschen geben, für die genau das ein Lebenstraum ist, auf den sie hinarbeiten und den sie sich schließlich erfüllen.

Erfahrungswissen eines langen Lebens

Für uns alle aber gilt: Auch auf der anderen Seite der Regelaltersgrenze liegt eine große Spielwiese und es wäre doch mehr als schade, nur daneben auf dem Bänkchen zu sitzen. "Die steigende Lebenserwartung bringt mehr aktive Jahre und verlängert nicht die Phase des Verfalls vor dem Tod", formulieren das pointiert Clara Vuillemin und Peter Lau in ihrem Buch "Zu jung? Zu alt? Egal!" von 2024 (große Leseempfehlung!). Und weiter: "Die höhere Lebenserwartung bringt uns mehrheitlich gute Jahre mit grauen Haaren und Falten, aber grundsätzlich gesunden Köpfen und Körpern. Es ist eine neue Lebensphase des jungen Alters, unfruchtbar, aber produktiv." 

So gibt es viele ältere Menschen, denen es gesundheitlich gut geht und  die vermutlich länger arbeiten wollen – für einige von ihnen könnte die Arbeitszeit nach von Vuillemin und Lau mittelfristig erst mit 80 Jahren enden. Je nach Perspektive klingt das wie Zukunftsmusik oder wie eine Zumutung. Doch das Erfahrungswissen, das eine Person in vier, fünf oder gar sechs Jahrzehnten im Beruf ansammeln kann, muss beeindruckend sein. HR kann heute schon damit beginnen, diese Menschen in Zukunft für sich zu gewinnen: "Ich muss ab 50 Jahren erfahren und verstanden haben, dass ich für den Betrieb wichtig bin", sagt Jerusalem von Wiseforce. "Das Unternehmen hat mich gezwungen, vorne auf dem Stuhl sitzen zu bleiben, und hat mir das Gefühl gegeben, dass Arbeit ein positiver Begriff ist: Arbeit ist nicht vom Übel."


Dieser Beitrag ist erschienen in Personalmagazin 5/2025. Als Abonnent haben Sie Zugang zu diesem Beitrag und allen Artikeln dieser Ausgabe in unserem Digitalmagazin als Desktop-Applikation oder in der Personalmagazin-App.


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