Entscheidungsstichwort (Thema)

Möglichkeit der Unrichtigkeit eines Empfangsbekenntnisses kein Gegenbeweis. Volle Überzeugung des Gerichts für anderen Geschehensablauf erforderlich. Darlegungslast des Arbeitgebers für Entbehrlichkeit eines betrieblichen Eingliederungsmanagements. Pflicht zur erneuten bEM schon vor Jahresablauf. Vortrag zum leidensgerechten Arbeitsplatz bei krankheitsbedingter Kündigung. Unverhältnismäßigkeit der Kündigung bei unterlassener bEM

 

Leitsatz (amtlich)

1. Berufungsbegründungsfrist: Zum Gegenbeweis des in einem Empfangsbekenntnis angegebenen Zustelldatums des erstinstanzlichen Urteils

2. Der Arbeitgeber muss gemäß § 167 Abs. 2 SGB IX nach einem durchgeführten bEM erneut ein bEM durchführen, wenn der Arbeitnehmer nach Abschluss des ersten bEM innerhalb eines Jahres erneut länger als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig wird. Der Abschluss eines bEM ist dabei der Tag "Null" für einen neuen Referenzzeitraum von einem Jahr. Ein "Mindesthaltbarkeitsdatum" hat ein bEM nicht. Eine Begrenzung der rechtlichen Verpflichtung auf eine nur einmalige Durchführung des bEM im Jahreszeitraum des § 167 Abs. 2 Satz 1 SGB IX lässt sich dem Gesetz nicht entnehmen.

3. Zu den Auswirkungen eines entgegen der rechtlichen Verpflichtung aus § 167 Abs. 2 SGB IX nicht erneut durchgeführten bEM auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung einer krankheitsbedingten Kündigung

 

Normenkette

ArbGG § 66 Abs. 1; KSchG § 1 Abs. 1-2; SGB IX §§ 42, 152 Abs. 1, § 167 Abs. 2, §§ 168, 173 Abs. 3; ZPO § 286 Abs. 1, §§ 294, 416, 418 Abs. 1, § 519 Abs. 2, § 522 Abs. 1, § 97 Abs. 1

 

Verfahrensgang

ArbG Düsseldorf (Entscheidung vom 07.07.2020; Aktenzeichen 5 Ca 1108/20)

 

Nachgehend

BAG (Urteil vom 18.11.2021; Aktenzeichen 2 AZR 138/21)

 

Tenor

  1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Düsseldorf vom 07.07.2020 - 5 Ca 1108/20 - wird zurückgewiesen.
  2. Die Kosten des Berufungsverfahrens werden der Beklagten auferlegt.
  3. Die Revision wird zugelassen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen krankheitsbedingten Kündigung.

Der am 15.08.1973 geborene Kläger war seit dem 16.03.2001 bei der Beklagten, die regelmäßig weit mehr als zehn Arbeitnehmer beschäftigt, tätig, zuletzt als Produktionshelfer. Sein monatliches Grundgehalt betrug 3.392,12 Euro. Bei ihm ist ein Grad der Behinderung (im Folgenden GdB) von jedenfalls 20 festgestellt.

Der Kläger war im Jahr 2010 an 45 Tagen, im Jahr 2011 an 90 Tagen, im Jahr 2012 an 31 Tagen, im Jahr 2013 an 85 Tagen, im Jahr 2014 an 40 Tagen, im Jahr 2015 an 258 Tagen und im Jahr 2016 bis einschließlich Juli an 213 Tagen arbeitsunfähig erkrankt. Dadurch entstanden Entgeltfortzahlungskosten im Jahr 2010 i.H.v. 4.766,73 Euro, im Jahr 2011 i.H.v. 6.211,71 Euro, im Jahr 2012 i.H.v. 3.799,14 Euro, im Jahr 2013 i.H.v. 8.624,27 Euro, im Jahr 2014 i.H.v. 4.763,32 Euro und im Jahr 2015 i.H.v. 8.888,24 Euro.

Eine aufgrund der Schließung eines externen Betriebs mit 60 Mitarbeitern auch gegenüber dem Kläger ausgesprochene betriebsbedingte Kündigung vom 29.05.2015 erwies sich aufgrund von dessen Sonderkündigungsschutz als Betriebsrat als unwirksam. Mit Schreiben vom 26.09.2016 kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis der Parteien - aufgrund der damaligen Mitgliedschaft des Klägers im bei ihr gebildeten Betriebsrat - außerordentlich krankheitsbedingt mit Auslauffrist zum 31.03.2017. Der dagegen gerichteten Kündigungsschutzklage gab das Landesarbeitsgericht Düsseldorf durch Urteil vom 21.09.2017 - 11 Sa 314/17 - statt. In der Berufungsbegründung vom 15.05.2017 hatte die damalige Prozessbevollmächtigte des Klägers ausgeführt, dass die Fehlzeiten des Klägers auf ausgeheilten Krankheiten beruht hätten und daher keine negative Gesundheitsprognose vorläge. Wegen der Einzelheiten des Urteils wird auf die Anlage BR3 zum Schriftsatz der Beklagten vom 26.05.2020 Bezug genommen.

Im Jahr 2017 war der Kläger vom 02. bis 30.06.2017 an zehn Arbeitstagen mit und elf Arbeitstagen ohne, vom 16.08.2017 bis 18.08.2017 an drei Arbeitstagen mit, vom 04.09.2017 bis 15.09.2017 an zehn Arbeitstagen mit, am 25.10.2017 an einem Arbeitstag mit, vom 02.11.2017 bis 03.11.2017 an zwei Arbeitstagen mit und vom 15.11.2017 bis 17.11.2017 an drei Arbeitstagen mit Entgeltfortzahlung arbeitsunfähig erkrankt. Bei dem Zeitraum vom 02.06.2017 bis zum 30.06.2017 handelte es sich um eine Arbeitsunfähigkeit aufgrund eines Arbeitsunfalls des Klägers (Nagelkreuzfraktur D 3). Die Entgeltfortzahlungskosten beliefen sich auf insgesamt 2.744,13 Euro.

Im Jahr 2018 war der Kläger vom 02.01.2018 bis 12.01.2018 an neun Arbeitstagen, vom 29.01.2018 bis 08.02.2018 an neun Arbeitstagen, am 14.02.2018 an einem Arbeitstag, vom 26.02.2028 bis 16.03.2018 an 15 Arbeitstagen, vom 01.06.2018 bis 08.06.2018 an sechs Arbeitstagen, vom 22.08.2018 bis 16.09.2018 an 18 Arbeitstagen und vom 19.11.2018 bis 21.11.2018 an drei Arbeitstagen mit Entgeltfortzahlung arbeitsunfähig erkrankt. Die Entgeltfortzahlungskosten beliefen sich auf insge...

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