Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 13.10.1995; Aktenzeichen L 11 Ka 153/94)

SG Dortmund (Urteil vom 12.06.1995)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13. Oktober 1995 und des Sozialgerichts Dortmund vom 12. Juni 1995 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten um die Frage, ob die Bewilligung von Kindergeld (Kg) nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) wegen zu hohen Einkommens des Kindes für die Zukunft (ab 1. Februar 1995) aufgehoben werden durfte.

Die Klägerin wohnt in L … … (L), ca 30 km entfernt von P … … (P). Sie erhielt für ihren geistig behinderten Sohn O … ≪O≫ (geb. 23. Januar 1974) und zwei weitere jüngere Kinder laufend Kg, und zwar für O in Höhe von zuletzt DM 220,–.

Im August 1993 begann O eine Holzbearbeiterlehre bei der Kreishandwerkerschaft in P, zu der O täglich von L aus fährt. Laut Berufsausbildungsvertrag hatte er Anspruch auf eine Ausbildungsvergütung in Höhe von monatlich DM 480,– im ersten, DM 504,– im zweiten und DM 529,20 im dritten Ausbildungsjahr. Ab 23. Januar 1995 bewilligte die Beklagte für O berufsfördernde Leistungen für Behinderte gemäß § 56 Arbeitsförderungsgesetz ≪AFG≫ (Reha-Leistungen), und zwar Ausbildungsgeld in Höhe von monatlich zunächst DM 136,–, ab 15. August 1995 DM 110,–, Fahrkosten in Höhe von monatlich DM 130,– und Kosten für Arbeitskleidung in Höhe von monatlich DM 20,–. Die Beklagte hob daraufhin die Bewilligung von Kg für O ab Februar 1995 auf, da eine wesentliche Änderung der Verhältnisse durch das Erzielen eines Gesamteinkommens von mehr als DM 749,99 entstanden sei; dabei seien Ausbildungsvergütung und Reha-Leistungen zusammenzurechnen (Bescheid vom 9. Januar 1995 und Widerspruchsbescheid vom 6. Februar 1995).

Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) haben der Klage stattgegeben (Urteile vom 12. Juni 1995 bzw 13. Oktober 1995). Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, daß ein Zusammenrechnen der beiden Einkommensarten weder dem Gesetz, noch seiner Entstehungsgeschichte, noch seinem Sinn und Zweck zu entnehmen sei; auch die Unterscheidung zwischen Brutto- und Nettobezügen sowie der Verwaltungsaufwand sprächen dagegen. Im vorliegenden Fall komme hinzu, daß Reha-Leistungen für Behinderte keine Rechtfertigung für fehlenden Unterhaltsbedarf und Fahrgelderstattungen keinen wirtschaftlichen Vorteil – sondern lediglich Aufwendungsersatz – darstellen könnten.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 2 Abs 2 Satz 2 und 3 BKGG in der ab 1. Januar 1994 gültigen Fassung, da beide Einkommensarten zusammenzurechnen seien. Die 1975 im Gesetz eingeführte Einkommensgrenze habe bei eigenen Einkünften der in Ausbildung befindlichen Kinder zu einem Wegfall des Kg führen sollen. Bereits nach der bis zum 31. Dezember 1993 gültigen Fassung habe mit der Gegenüberstellung von DM 750,– brutto für Ausbildungsvergütungen und DM 610,– netto für Lohnersatzleistungen eine vergleichbare finanzielle Entlastung der Eltern zum Wegfall führen sollen; die Verwaltungspraxis habe schon nach altem Recht beide Einkommensarten zusammengerechnet, und zwar auf Nettobasis. Auch für die Neufassung entspreche die Zusammenrechnung dem gesetzgeberischen Willen der Mitteleinsparung und dem Gesetzeszweck, den Kg-Anspruch von der tatsächlichen Unterhaltsbelastung der Eltern abhängig zu machen, wobei es auf die Einkommensart nicht ankomme. Der Gesetzeswortlaut stehe der Zusammenrechnung nicht entgegen, vielmehr verstoße die gegenteilige Auslegung des LSG gegen den Gleichheitssatz. Die Reha-Leistungen (einschließlich Fahr- und Berufskleidungskosten) dienten der Deckung des Lebensunterhalts bzw des Ausbildungsbedarfs und entlasteten die Eltern finanziell ebenfalls.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 13. Oktober 1995 sowie das Urteil des Sozialgerichts Dortmund vom 12. Juni 1995 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Sie stützt sich im wesentlichen auf die Begründung des LSG und weist zudem darauf hin, daß schon eine Senkung des Fahrkostenzuschusses um lediglich DM 50,– zu einem Kg-Bezug führen würde.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist begründet. Zu Recht hat die Beklagte die Bewilligung von Kg für O ab Februar 1995 aufgehoben.

1. Nach § 48 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) ist ein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit gegenüber den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen bei seinem Erlaß eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Im vorliegenden Falle sind bei O ab 23. Januar 1995 zu der Ausbildungsvergütung von DM 504,– durch die Bewilligung von Reha-Leistungen weitere monatliche Einkünfte in Höhe von DM 286,– hinzugekommen (Ausbildungsgeld DM 136,– Fahrkosten DM 130,– und Kosten für Arbeitskleidung DM 20,–). Dabei handelte es sich auch um eine „wesentliche” Änderung der tatsächlichen Verhältnisse iS von § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X, die zum Wegfall des Anspruchs auf Kg geführt hat.

Nach § 2 Abs 2 Satz 2 und 3 BKGG idF des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogramms (1. SKWPG) vom 21. Dezember 1993 ≪BKGG 1994≫ (BGBl I, 2353), gemäß Art 14 Abs 1 dieses Gesetzes am 1. Januar 1994 in Kraft getreten, waren beim Kg solche Kinder nicht mehr zu berücksichtigen, denen aus dem Ausbildungsverhältnis oder einer Erwerbstätigkeit Bruttobezüge in Höhe von wenigstens DM 750,– monatlich zugestanden oder nur deswegen nicht zugestanden haben, weil das Kind auf einen Teil der vereinbarten Bruttobezüge verzichtet hat (Satz 2), und entsprechend, wenn den Kindern Lohnersatzleistungen oder als Ausbildungshilfe gewährte Zuschüsse von Unternehmen, aus öffentlichen Mitteln oder von Förderungseinrichtungen, die hierfür öffentliche Mittel erhalten, von wenigstens DM 610,– monatlich zugestanden haben (Satz 3). O standen ab 23. Januar 1995 jedenfalls Einkünfte von mehr als DM 749,99 brutto (DM 504,– plus DM 286,–) zu; das gilt auch für die Zeit ab August 1995 (DM 529,20 plus DM 260,–). Der Bruttobetrag ist die günstigere Höchstgrenze, weil die anfallenden Steuer- und Sozialabgaben insgesamt niedriger als bei einem alleinigen Bruttolohn von DM 750,– sind und der Nettobetrag damit über DM 610,– liegen dürfte. Aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung ist von der für den Antragsteller günstigeren Bruttogrenze auszugehen.

Die Auffassung der Klägerin, die Zahlungen nach Satz 2 und 3 seien nicht zusammenzurechnen, ist unzutreffend. Der Klägerin ist einzuräumen, daß dem bloßen Wortlaut der Vorschrift weder dies noch das Gegenteil zu entnehmen ist. Es handelt sich um eine unbeabsichtigte Regelungslücke, die nach dem mutmaßlichen Willen des Gesetzgebers zu schließen ist. Danach ist die Addition der verschiedenen Einkünfte geboten.

Bei der erstmaligen Einführung der Berücksichtigung von Kindeseinkommen durch Art 44 des Gesetzes zur Verbesserung der Haushaltsstruktur vom 18. Dezember 1975 (BGBl I, 3091) war zunächst nur von Kindern die Rede, „denen aus dem Ausbildungsverhältnis Bruttobezüge in Höhe von wenigstens DM 750,– monatlich” (Satz 2) bzw „Unterhaltsgeld von wenigstens DM 580,– monatlich” oder „Übergangsgeld…, dessen Bemessungsgrundlage wenigstens DM 750,– monatlich beträgt” (Satz 3) zusteht; durch das Zwölfte Gesetz zur Änderung des BKGG vom 30. Juni 1989 (BGBl I, 1294) wurde durch Satz 3 dann ein Kind ausgeschlossen, dem „mit Rücksicht auf die Ausbildung Unterhaltsgeld oder Übergangsgeld von wenigstens DM 610,– monatlich zusteht oder nur deswegen nicht zusteht, weil das Kind über anrechnungsfähiges Einkommen verfügt”. Die Gesetzesbegründung führte 1975 aus, daß die Ausbildungsvergütungen im Laufe der Zeit stark gestiegen und Auszubildende häufig nicht mehr auf die Unterhaltsleistungen ihrer Eltern angewiesen seien; die Grenze müsse bei DM 750,– monatlich angesetzt werden, und zwar aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung „brutto”. Bei der Grenze von DM 580,– sei zu berücksichtigen, daß vom Unterhaltsgeld weder Steuern noch Sozialabgaben zu zahlen seien; regelmäßig betrage das Unterhaltsgeld 80 % des entgangenen regelmäßigen Entgelts (Bemessungsgrundlage), so daß auch hier der Familienlastenausgleich ab einem Bemessungsentgelt von DM 750,– entfalle (BT-Drucks 7/4243, 15f). Im Jahre 1989 lautete die Begründung, seit den Änderungen der Berechnungsvorschriften für das Übergangsgeld habe dieser Grenzwert des Bemessungsentgeltes von DM 750,– brutto in der Praxis des Kindergeldverfahrens ohnehin schon „als Nettowert” umgedeutet werden müssen; jetzt solle dies auch gesetzlich klargestellt und der entsprechende Nettowert wegen Änderungen des Einkommensteuerrechts auf DM 610,– angehoben werden (BT-Drucks 11/4508, 5). Aus alledem geht hervor, daß auch vom Gesetzgeber sowohl bei der Einschätzung der Entlastungseffekte durch Brutto- oder Nettoeinkünfte wie bei den Grenzwertberechnungen beide Einkunftsarten in engem Zusammenhang gesehen wurden. Es wird auch deutlich, daß die Beträge von DM 750,– brutto einerseits und DM 610,– – was, da auf Lohnersatzleistungen und Ausbildungshilfen bezogen, nur netto gemeint sein kann – andererseits nicht ohne Grund um rund 20 % des Bruttobetrages differieren, weil sie sich im Ergebnis vielmehr entsprechen sollen (Wickenhagen/Krebs, BKGG, Stand Mai 1995, § 2 RdNr 2). Wenn der Gesetzgeber nicht ausdrücklich klargestellt hat, daß bei Zusammentreffen von Erwerbs- und Erwerbsersatzeinkünften eine Addition zu erfolgen habe, kann das damit erklärt werden, daß ein solches Zusammentreffen selten war, weil es sich in der Regel um Alternativen handelt. Immerhin deutete schon die 1989 gültige Gesetzesfassung darauf hin, wie der Gesetzgeber die Kumulation von Lohnersatzleistungen und sonstigen Einkünften regeln wollte: Einkommen war hinzuzuzählen, wenn es auf Unterhaltsgeld angerechnet wurde und das Unterhaltsgeld nur deswegen den Betrag von DM 610,– unterschritt. Dadurch, daß nunmehr auch staatliche oder private Ausbildungsbeihilfen berücksichtigt werden, kommt es öfter zu einem Zusammentreffen von Ausbildungsvergütung und anderen Einkünften, wodurch auch die Frage nach der rechtlichen Behandlung einer solchen Kumulation, die vorher keine Rolle gespielt hat, mit viel größerer Häufigkeit aufgeworfen wird. Dies ist vom Gesetzgeber offenbar übersehen worden; jedenfalls findet sich in den Gesetzgebungsmaterialien darauf kein Hinweis.

Beim Zusammentreffen von Ausbildungsvergütung und staatlichen Ausbildungsbeihilfen, die eine zu geringe Ausbildungsvergütung bei geringem Familieneinkommen „aufstocken”, entspricht allein die Addition der Leistungen dem Sinn und Zweck der Berücksichtigung von Kindeseinkommen im Kindergeldrecht. Die Zusammenrechnung erfordert keinen besonderen Verwaltungsaufwand, der gegen eine Zusammenrechnungsabsicht des Gesetzgebers sprechen könnte. Es wäre mit keinem sachlichen Grund zu rechtfertigen, Kg wohl bei Bezug berufsfördernder Leistungen von DM 610,–, nicht aber zB bei gleichzeitigem Bezug einer Ausbildungsvergütung von DM 749,– und berufsfördernder Leistungen von DM 609,–, zusammen also DM 1.358,–, entfallen zu lassen. Eine derartige Absicht kann dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden. Sinn und Zweck der Regelung bestehen im Gegenteil darin, das Kg bei einer vergleichbaren Entlastung der Eltern durch die im Gesetz genannten Brutto- oder Nettoleistungen entfallen zu lassen; das muß daher auch gelten, wenn eine vergleichbare Gesamtentlastung teils durch Brutto- und teils durch Nettoleistungen bewirkt wird. Nicht der „glückliche Zufall” des knappen Unterschreitens beider Entgeltgrenzen, sondern allein die Gesamtaddition der beiden Beträge kann für ein gerechtes Ergebnis maßgeblich sein.

Ausbildungsbedingte Kosten sind nicht von dieser Gesamtaddition abzusetzen, weil sie auch bei den einzelnen Einkommensarten nicht zu berücksichtigen sind. Der Gesetzgeber hat zur Verwaltungsvereinfachung bewußt bei der Ausbildungsvergütung auf Bruttoeinkommen abgestellt; bei den Lohnersatzleistungen ist er zwar von Nettobeträgen ausgegangen, hat dabei aber nur das Fehlen von Steuer- und Sozialabgaben im Auge gehabt. Daß mit jeder Ausbildung auch bestimmte Kosten, wenn auch in unterschiedlicher Höhe, verbunden sind, kann der Gesetzgeber schwerlich übersehen haben. Er hat sich dennoch für eine pauschale Festsetzung von Einkommensgrenzen entschieden, ohne Rücksicht auf individuell anfallende Ausbildungskosten. Im Rahmen einer Sozialverwaltung mit millionenfachen Leistungsfällen kann eine solche Pauschalierung verfassungsrechtlich nicht im Hinblick auf den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG) beanstandet werden (BVerfGE 80, 108, 118; 83, 395, 401). Insbesondere bei weiter Entfernung der Ausbildungsstelle hätte der Gesetzgeber eine vollständig gerechte Lösung zwischen Kindern ohne oder mit geringem Einkommen, solchen mit Einkommen und hohen Kosten sowie solchen mit Einkommen und geringen oder fehlenden Kosten aber nur im Wege verwaltungsaufwendiger Einzelberechnungen finden können; ähnliches würde bezüglich Arbeitsmitteln und -kleidern gelten. In bezug auf auswärtig ausgebildete Kinder durfte der Gesetzgeber pauschalierend auch davon ausgehen, daß in diesem Fall in aller Regel auch höhere Entlastungsleistungen zur Verfügung stehen. In dieser Auslegung liegt keine Abweichung gegenüber der Entscheidung des 10. Senats vom 24. September 1986 (10 RKg 9/85 = SozR 5870 § 2 Nr 47); denn dort wurden, nach der oben geschilderten früheren Rechtslage, vom Arbeitgeber erstattete Fahrkosten nur aus den „Bruttobezügen … aus dem Ausbildungsverhältnis” herausgenommen und als nicht steuerpflichtiger Aufwendungsersatz angesehen. Es ging also um die Definition des Bruttoeinkommens, nicht wie hier um die Frage der Berücksichtigung von ausbildungsbedingten Aufwendungen. Auch die erst am 1. Januar 1996 in Kraft getretene Einschränkung in § 2 Abs 2 Satz 3 BKGG idF des Jahressteuergesetzes 1996, BGBl I, 1250 „Bezüge, die für besondere Ausbildungszwecke bestimmt sind, bleiben hierbei außer Betracht; entsprechendes gilt für Einkünfte, soweit sie für solche Zwecke verwendet werden”) läßt nicht den Schluß zu, der Gesetzgeber habe damit nur eine schon vorher geltende Einschränkung deklaratorisch geregelt. Dieser Schluß verbietet sich schon deshalb, weil das Recht des Familienlastenausgleichs (jetzt: Familienleistungsausgleich) vollkommen neu geregelt worden ist und eine Systemumstellung von einer Sozialleistung zu einer im Regelfall steuerrechtlichen Lösung stattgefunden hat (vgl zu den entsprechenden Regelungen im Einkommensteuerrecht: Schmidt, Einkommensteuergesetz, 16. Aufl 1997, § 32 RdNr 30 f).

Die gesetzliche Änderung des Kg-Rechts stellt auch generell betrachtet keinen Verstoß gegen den Gleichheitssatz des Art 3 GG, das Eigentumsgrundrecht des Art 14 GG, das Schutzgebot für Ehe und Familie aus Art 6 GG oder das Prinzip des Vertrauensschutzes gemäß Art 20 GG dar. Grundsätzlich liegt es – auch unter dem Blickwinkel der Art 3 und 6 GG – im Ermessen des Gesetzgebers, ob und in welcher Weise er einen Familienlastenausgleich durch Gewährung von Kg verwirklicht (BVerfGE 69, 272, 301; 72, 9, 18f; BSG SozR 5870 § 2 Nr 42). Wenn der Gesetzgeber wegen eigenen, nicht unerheblichen Einkommens von Kindern die Berechtigung zum Kg-Bezug entfallen läßt, so überschreitet er damit nicht die ihm zustehende Regelungsbefugnis. Seine Gestaltungsfreiheit erlaubt es ihm vielmehr auch, bei Vorhandensein einer Kg-Regelung bestimmte Anspruchsvoraussetzungen zu ändern oder ganz wegfallen zu lassen, soweit er damit nicht in andere Grundrechte des Berechtigten eingreift (BSG aaO). In dem Wegfall bestimmter Ansprüche nach dem BKGG liegt kein gegen Art 14 GG verstoßender Eingriff. Die Gewährung von Familienlastenausgleichsleistungen wie Kg schafft für den Berechtigten keine eigentumsbegründenden oder eigentumsähnlichen Rechte, wie etwa diejenigen, die Versicherte durch die Entrichtung von Beiträgen zur Rentenversicherung erlangen. Kg wird den Berechtigten vielmehr aus allgemeinen Haushaltsmitteln gewährt. Unter dem Blickwinkel des Vertrauensschutzes ist maßgeblich, daß der Wegfall des Kg nicht rückwirkend erfolgt. Grundsätzlich kann der Bürger aber nicht darauf vertrauen, daß eine für ihn günstige Regelung in alle Zukunft bestehenbleibt; vielmehr ist eine Abwägung zwischen dem Vertrauen des Einzelnen in den Fortbestand der für ihn günstigen Rechtslage und der Bedeutung des gesetzgeberischen Anliegens für das Wohl der Allgemeinheit geboten (BVerfGE 70, 69, 84; 67, 1, 15). Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat dem gesetzgeberischen Motiv der entschlossenen, kurzfristigen Haushaltssanierung (vgl dazu hier: BT-Drucks 12/5502, 1, 19) selbst dort das größere Gewicht beigemessen, wo es um eine Weiterfinanzierung des Studienabschlusses ging (BVerfGE 70, 69, 85); von daher bestehen auch im vorliegenden Fall keine Bedenken gegenüber einem sofortigen Greifen der Regelung ohne Übergangslösung.

2. Nach § 2 Abs 2 Satz 2 (und entsprechend Satz 3) BKGG 1994 gilt die Nichtberücksichtigung von Kindern mit Einkünften oberhalb der genannten Grenzbeträge allerdings nicht „in den Fällen des Satzes 1 Nr 3”, also wenn das Kind „wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten”. Das LSG hat das Tatbestandsmerkmal einer Behinderung von O – von seiner Rechtsauffassung aus zu Recht – nicht geprüft und daher dazu auch keine Feststellungen getroffen. Der Niederschrift des LSG läßt sich jedoch entnehmen, daß die Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG O – von der Beklagten unwidersprochen – als geistig behindert bezeichnet hat; hinzu kommt, daß die Beklagte Reha-Leistungen bewilligt hat, so daß – vgl § 56 Abs 1 Satz 1 AFG sowie die §§ 1 Abs 1, 24 Abs 1, 37 Abs 1 der Anordnung des Verwaltungsrates der Bundesanstalt für Arbeit über die Arbeits- und Berufsförderung Behinderter vom 31. Juli 1975 ≪Reha-AnO≫ (Amtliche Nachrichten der Bundesanstalt für Arbeit ≪ANBA≫, 994), zuletzt geändert durch Änderungs-Anordnung vom 16. März 1994 (ANBA 467) – von einer Behinderung iS von § 2 Abs 2 Satz 1 Nr 3 BKGG 1994 ausgegangen werden kann. Infolge dieser Behinderung ist O aber nicht außerstande, sich selbst zu unterhalten.

Der Begriff des „Außerstandeseins” entspricht demjenigen der Erwerbsunfähigkeit in § 1247 Abs 2 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) bzw § 44 Sozialgesetzbuch Sechstes Buch (SGB VI). Ziel beider Regelungen ist es, die betreffende Sozialleistung demjenigen zu gewähren, der nicht selbst in der Lage ist, sich durch Arbeit das Existenzminimum zu verdienen (BSG SozR 5870 § 2 Nr 35; Hambüchen, BKGG/BErzG, Stand Juni 1995, § 2 BKGG RdNr 18; Wickenhagen/Krebs aaO § 2 RdNr 266). In der Regel ist dabei die Fähigkeit zum Selbstunterhalten ohne weiteres anzunehmen, wenn das Kind für längere Zeit in einem mehr als nur geringfügig entlohnten Dauerarbeitsverhältnis steht (Wickenhagen/Krebs aaO). Im vorliegenden Fall liegt die Entlohnung allerdings unter der Geringfügigkeitsgrenze.

Dies ist aber unbeachtlich, weil die geringe Entlohnung nicht Folge der Behinderung ist, sondern im Hinblick auf die Ausbildung erfolgt (BSG SozR 5870 § 2 Nr 35; Wickenhagen/Krebs aaO RdNr 265). Dann kommt es allein darauf an, ob O nach Abschluß seiner Ausbildung ein ausreichendes Einkommen erzielen kann. Das ist zu bejahen. O absolviert trotz seiner Behinderung eine Lehre für einen Ausbildungsberuf iS des Berufsbildungsgesetzes ≪BBiG≫ (vom 14. August 1969, BGBl I 1112; vgl auch VO über die Berufsausbildung zum Holzmechaniker/zur Holzmechanikerin vom 19. August 1980, BGBl I, 1524). Bei einem derartigen Beruf kann im Hinblick auf den tariflichen Mindestlohn in aller Regel davon ausgegangen werden, daß er auch einen Behinderten in die Lage versetzt, „sich selbst zu unterhalten”. Anhaltspunkte dafür, daß dies bei O anders sein wird, sind nicht ersichtlich. Eine Reha-Maßnahme darf nur bewilligt werden, wenn ein erfolgreicher Abschluß zu erwarten ist. Durch diese Auslegung läuft § 2 Abs 2 Satz 2 iVm Satz 1 Nr 3 BKGG 1994 nicht leer, weil Ausbildungs-Kg auch während einer Ausbildung für sonstige Tätigkeiten gezahlt wird (Wickenhagen/Krebs aaO, § 2 RdNr 98, 101, 104, 107 – 111), die nicht immer zur Erzielung eines ausreichenden Erwerbseinkommens führen.

Die Entscheidung, daß die Kosten in allen Instanzen nicht zu erstatten sind, folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173262

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