Leitsatz (amtlich)

Eine Berufskrankheit iS der Nr 4302 der Anlage 1 zur BKVO liegt nicht vor, solange dem Versicherten bei seiner gegenwärtigen Tätigkeit die Gefahr droht, mit Stoffen in Kontakt zu kommen, die eine Verschlimmerung oder das Wiederaufleben seines chemisch-irritativen Bronchialasthmas bewirken können.

 

Normenkette

RVO § 551 Abs 1 S 1 Fassung: 1963-04-30; BKVO Anl 1 Nr 4302

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 18.01.1984; Aktenzeichen L 3 U 55/83)

SG Koblenz (Entscheidung vom 23.03.1983; Aktenzeichen S 6 U 321/81)

 

Tatbestand

Der Kläger, der von April 1970 bis Ende Dezember 1978 bei der Firma W u G in R, die 1972 in die Firma G-O umgewandelt wurde, beschäftigt war, führt ein Bronchialleiden auf den Umgang mit flüssigen Kunststoffen und Lösungsmitteln während dieser Zeit zurück. Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 14. Juli 1981 einen Entschädigungsanspruch ab, weil ihre Ermittlungen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür ergeben hätten, daß die asthmatischen Beschwerden durch die berufliche Tätigkeit des Klägers verursacht worden seien. Den Widerspruch wies die Beklagte durch Widerspruchsbescheid vom 9. Oktober 1981 zurück.

Das Sozialgericht (SG) Koblenz hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger ein "chemisch-irritatives Bronchialasthma" als Berufskrankheit anzuerkennen und ihm ab 1. April 1979 Unfallrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 20 vH zu gewähren (Urteil vom 23. März 1983). Der Kläger leide an einer Berufskrankheit nach Nr 4302 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKVO). Die Beweisaufnahme habe ergeben, daß der Kläger überwiegend auf Baustellen eingesetzt gewesen sei, auf denen mit Epoxidharzen, Polyester und Polyurethan unter Zusatz von Lösungsmitteln, Härtern und Zuschlagsstoffen gearbeitet worden sei, wobei der Kläger selbst Hand angelegt habe. Der Kläger habe den Kontakt mit diesen Stoffen aufgegeben. Bei seiner seit dem 1. Januar 1979 ausgeübten Tätigkeit bei der Gesellschaft für technische Kunststoffe Gin R-F habe er keinen unmittelbaren Kontakt mit diesen Stoffen. Die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz zurückgewiesen (Urteil vom 18. Januar 1984). Aufgrund der Beweisaufnahme des SG in Verbindung mit dem sonstigen Akteninhalt könne ohne Bedenken festgestellt werden, daß bei dem Kläger die Voraussetzungen für die Anerkennung eines chemisch-irritativen Bronchialasthmas und eine Rentenberechtigung nach einer MdE von 20 vH erfüllt seien. Es sei ua auch die Voraussetzung erfüllt, daß die Atemwegserkrankung den Kläger zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen habe, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein könnten. Zwar sei in der BKVO nicht ausdrücklich die Rede davon, daß der Betroffene auch künftig alle für seine Atmungsorgane gefährlichen Tätigkeiten unterlassen müsse. Aber nur bei einer solchen Auffassung gebe die Regelung einen Sinn. Es müsse sichergestellt sein, daß nicht der Versicherte durch schädliche Kontakte seine Atemwegserkrankung weiter unterhalte und damit nach Belieben für seine Rentenberechtigung selbst sorge. Nach den bisherigen Ermittlungen sei bis zur Widerlegung davon auszugehen, daß sich der Kläger beruflich so verhalte, wie es mit Rücksicht auf seine gesteigerte Empfindlichkeit der Atemwege geboten ist. Daß der Kläger durch seine jetzige Tätigkeit seine Berufserkrankung nähre oder gar verschärfe, könne ihm nicht vorgehalten werden. Es sei davon auszugehen, daß Blatt 6 des Anstellungsvertrages ernst gemeint sei und befolgt werde, nämlich: "Aufgrund der chronischen Bronchialbeschwerden, die Herr S durch seine vorhergehende Tätigkeit hat, wird versichert, daß Herr S nicht in der Produktion eingesetzt wird, wo er mit den entsprechenden Dämpfen und Staub in Berührung kommen könnte. Desweiteren wird Herrn S versichert, daß er bei seiner Tätigkeit als Bauleiter auf den Baustellen nicht den direkten Kontakt mit den Epoxidharz- und Polyurethanmaterialien bekommt". Die Gesellschaft für technische Kunststoffe habe dem SG am 28. Januar 1983 die Auskunft erteilt, daß die vorgenannte Vereinbarung eingehalten werde: "1. Bereits beim Einstellungsgespräch wurde auf Wunsch von Herrn S zugesichert, daß er in keinster Weise direkt mit den von uns verwandten technischen Kunststoffen in Berührung treten darf; 2. Herr S ist seit seiner Tätigkeit bei unserer Firma in der Kalkulation und Arbeitsvorbereitung tätig. Außerdem besucht er Baustellen zur Kontrolle und Kunden zwecks Akquisition; 3. Er hat während dieser Tätigkeit keinen unmittelbaren Kontakt mit Epoxidharzen und unseren sonstigen verwandten Kunstharzen sowie den in diesem Zusammenhang gebrauchten Lösungsmitteln". Wenn die Beklagte wiederholt betone, daß vom Kläger und seinem Arbeitgeber immer nur eine "direkte" oder "unmittelbare" Berührung mit den Reizstoffen abgestritten werde, dann lasse sie sich auf einen Streit um Worte ein. Reizwirkung habe erfahrungsgemäß nur ein unmittelbarer inhalativer Kontakt. Was in seiner Verdünnung oder Verflüchtigung sinnlich nicht mehr wahrnehmbar ist, gehöre zu dem weiten Bereich "mittelbarer" Berührung. Dabei sei nicht die Möglichkeit übersehen, daß der Kläger mit Reizstoffen gelegentlich doch unmittelbaren Atemwegskontakt bekomme, wenn auch unbeabsichtigt.

Das LSG hat die Revision zugelassen.

Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und im wesentlichen wie folgt begründet: Bei seiner jetzigen Tätigkeit sei der Kläger, wie schon früher, zeitweise auf Baustellen eingesetzt. Er habe zwar keinen unmittelbaren Kontakt mit Epoxidharzen und sonstigen verwendeten Kunstharzen oder Lösungsmitteln. Jedoch schließe sein Arbeitgeber einen mittelbaren Kontakt nicht aus. Schon Dr. R habe in seinem Gutachten vom 15. November 1979 hervorgehoben: "Der Untersuchte hat die extreme Exposition zwar aufgegeben, es besteht aber immer noch eine gewisse Exposition, so daß eine weitere Gefährdung vorliegt ...". Auch das LSG sei davon ausgegangen, daß durchaus noch die Möglichkeit gelegentlicher unmittelbarer Atemwegskontakte bestehe. Der Kläger habe die gefährdende Tätigkeit nicht unterlassen.

Die Beklagte beantragt, die Urteile des LSG Rheinland-Pfalz vom 18. Januar 1984 und des SG Koblenz vom 23. März 1983 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er trägt vor, daß er gegenüber früher jetzt eine andere Tätigkeit, nämlich eine mehr geistig überwachende Arbeit ausführe. Es könne ihm nicht verboten werden, seine früher erworbenen Fähigkeiten zu verwerten, sofern er nicht selbst Hand anlege und Kontakt mit Schadstoffen habe.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten ist begründet. Bei dem Kläger liegt keine Berufskrankheit im Sinne der Nr 4302 der Anlage 1 zur BKVO vor.

Nach § 551 Abs 1 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) iVm Nr 4302 der Anlage 1 zur BKVO sind durch chemisch-irritativ oder toxisch wirkende Stoffe verursachte Atemwegserkrankungen, die zum Unterlassen aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können, eine Berufskrankheit. Diese Voraussetzungen sind hier nicht gegeben, weil der Kläger nicht alle gefährdenden Tätigkeiten aufgegeben hat.

Das Merkmal der Aufgabe der beruflichen Beschäftigung hat den Zweck, ein Verbleiben des Versicherten auf dem ihn gefährdenden Arbeitsplatz zu verhindern und dadurch eine Verschlimmerung der Krankheit mit der Folge einer erhöhten Entschädigungsleistung zu verhüten (s ua BSGE 10, 286, 290; BSG SozR 5677 Anl 1 Nr 46, Nr 8; Urteile vom 11. Februar 1981 - 2 RU 25/79 -; vom 31. März 1981 - 2 RU 81/80 - und vom 20. Oktober 1983 - 2 RU 70/82 -). Bei dieser Zweckbestimmung ist entscheidend, daß die wegen der berufsbedingten Erkrankung objektiv notwendige Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit tatsächlich verwirklicht wird. Hierzu genügt es allerdings nicht, daß lediglich diejenige Tätigkeit nicht mehr ausgeübt wird, welche die Berufskrankheit herbeigeführt oder verschlimmert hat. Mit dem tätigkeitsbezogenen einschränkenden Tatbestandsmerkmal soll ferner erreicht werden, daß auch in Zukunft die Gefahr eines Wiederauflebens oder der Verschlimmerung der Berufskrankheit möglichst vermieden wird. Dies hat der Verordnungsgeber dadurch zum Ausdruck gebracht, daß er auch das Unterlassen solcher Tätigkeiten verlangt, die für die Entstehung, Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich sein können (BSGE 40, 66, 71; 41, 211, 212; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl S 491y, 492g). Im Gegensatz zur früheren Definition des Bronchialasthmas als Berufskrankheit (s Nr 41 der Anlage 1 zur 7. BKVO) ist jetzt weder die Aufgabe der beruflichen Beschäftigung oder die Aufgabe jeder Erwerbsarbeit Voraussetzung für die Leistungspflicht des Unfallversicherungsträgers. Damit ist an die Stelle des Berufsschutzgedankens, so wie er dem tätigkeitsbezogenen Merkmal früher in starkem Maße anhaftete, immer mehr der Wille zur Gesundheitsvorsorge getreten. Das hat einerseits zur Folge, daß dem Versicherten nur noch in dem medizinisch notwendigen Rahmen eine Aufgabe der gefährdenden Tätigkeit zugemutet wird, andererseits die Gesundheitsvorsorge grundsätzlich nicht durch eine weite Auslegung des tätigkeitsbezogenen Merkmals umgangen werden darf. Der Unfallversicherungsträger ist daher regelmäßig nur in den Fällen zur Entschädigung verpflichtet, in denen Gefahren einer Entstehung, Verschlimmerung oder des Wiederauflebens der Berufskrankheit - jedenfalls durch die Ausübung einer Tätigkeit - nicht mehr drohen. Die hier maßgebende Vorschrift gebietet für die Zukunft das Vermeiden jeder Gefährdung (s BSG Urteil vom 20. Oktober 1983 - 2 RU 70/82 -).

Der Kläger ist seit dem 1. Januar 1979 bei einer Gesellschaft für technische Kunststoffe tätig. Seine Tätigkeit umfaßt ua die eines Bauleiters auf den Baustellen der Gesellschaft, wo Epoxidharze und sonstige Kunstharze einschließlich Lösungsmitteln und Polyurethanmaterialien verarbeitet werden. Der Kläger hat als Bauleiter diese Arbeiten zu kontrollieren. Sein Arbeitgeber hat ihm zugesichert, daß er mit diesen Stoffen nicht direkt in Berührung kommt. Das LSG meint zwar, daß dadurch ein inhalativer Kontakt mit den für die Atemwegserkrankung des Klägers schädlichen Stoffen nicht bestehe, da davon auszugehen sei, daß der Kläger sich beruflich so verhalte, wie es mit Rücksicht auf seine gesteigerte Empfindlichkeit geboten sei. Damit ist aber nicht schon jede Gefährdung ausgeschlossen. Da der Kläger als Bauleiter die Verarbeitung von Kunststoffen auf den Baustellen seines Arbeitgebers zu kontrollieren hat, droht dabei ständig die Gefahr, daß er dort auch inhalativen Kontakt mit den für ihn schädlichen Stoffen bekommt. Das LSG räumt dies auch selbst ein. Daß dieser jederzeit mögliche Kontakt auf den Baustellen vom Kläger nicht beabsichtigt ist, ändert nichts daran, daß eine Gefährdung fortbesteht. Unerheblich ist auch, daß der Kläger, wie er vorträgt, bei der Gesellschaft für technische Kunststoffe eine mehr geistig überwachende Arbeit verrichtet. Wie es für die Anerkennung einer Berufskrankheit der hier vorliegenden Art genügt, daß der Versicherte von der Vielzahl der von ihm verrichteten Tätigkeiten nur diejenigen unterläßt, von denen die Gefahr der Verschlimmerung oder Wiedererkrankung ausgeht, auch wenn diese Tätigkeiten seiner Beschäftigung nicht das bestimmende Gepräge geben (s BSGE 53, 17, 18), steht es der Anerkennung der Berufskrankheit im vorliegenden Fall entgegen, daß im Rahmen einer mehr geistig überwachenden Arbeit des Klägers auch eine Tätigkeit verrichtet und nicht unterlassen wird, die seiner Arbeit zwar nicht das bestimmende Gepräge gibt, aber dennoch eine Gefahr für die Verschlimmerung oder Wiedererkrankung bedeutet.

Die beiden vorinstanzlichen Urteile mußten daher aufgehoben und die Klage abgewiesen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1665075

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