Beteiligte

Kläger und Revisionsbeklagter

Beklagte und Revisionsklägerin

 

Tatbestand

I

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob die Beklagte berechtigt war, die dem Kläger gewährte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu entziehen.

Der Kläger war - ohne abgeschlossene Berufsausbildung - als Hilfs- und Bauarbeiter sowie als Eisenflechter und zuletzt als Brunnenbauer beschäftigt. Im Mai 1968 erlitt er einen Arbeitsunfall, der eine Querschnittslähmung mit Lähmung beider Beine, der Blase und des Mastdarms zur Folge hatte. Aus der gesetzlichen Unfallversicherung bezieht er die Vollrente sowie ein Pflegegeld. Mit Bescheid vom 9. Oktober 1968 gewährte ihm die Beklagte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit.

Seit dem 1. August 1974 arbeitet der Kläger als Dokumentationsgehilfe in einer Berufsgenossenschaftlichen Unfallklinik und erhält Gehalt nach der Vergütungsgruppe Bundesangestelltentarif (BAT) VIII. Nach Anhörung des Klägers gemäß § 34 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - (SGB 1) in der vor dem 1. Januar 1981 gültigen Fassung entzog die Beklagte mit Bescheid vom 20. August 1976 die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit mit Ablauf des Monats September 1976.

Das Sozialgericht (SG) hat die dagegen gerichtete Klage abgewiesen (Urteil vom 6. Dezember 1977). Das Landessozialgericht (LSG) hat auf die Berufung des Klägers das Urteil des SG und den angefochtenen Entziehungsbescheid aufgehoben (Urteil vom 30. März 1979). Es hat im wesentlichen ausgeführt, von einer Änderung in den Verhältnissen, wie sie § 1286 Abs. 1 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) für die Rentenentziehung fordere, könne im Falle des Klägers nicht ausgegangen werden. Zwar sei inzwischen die stationäre Krankenhausbehandlung abgeschlossen und der Kläger arbeite jetzt in vollen Schichten gegen uneingeschränkte Entlohnung nach BAT VIII, die nicht vergönnungsweise gezahlt werde. Ebensowenig werde er von seinen Arbeitskollegen "durchgezogen". Gleichwohl sei aber der Kläger weiterhin erwerbsunfähig i.S. des § 1247 RVO. Er könne nämlich seine Tätigkeit als Dokumentationsgehilfe nur auf Kosten seiner Gesundheit und der allgemeinen Leistungsfähigkeit sowie unter übermäßiger Anspannung seiner Kräfte ausüben. Dafür benötige er einen weit überdurchschnittlichen physischen und psychischen Kraft- und Zeitaufwand. Obwohl dem Kläger bestenfalls noch eine Tätigkeit in halben Schichten unter seinen jetzigen persönlichen Bedingungen und denjenigen des Arbeitsplatzes zugemutet werden könne, sei eine berufliche Betätigung aus psychischen Gründen und zur sozialen Wiedereingliederung empfehlenswert. Der Teilzeitarbeitsmarkt sei ihm jedoch im Hinblick auf den Umfang seiner Behinderung verschlossen und er sei grundsätzlich nicht mehr in der Lage, die ihm verbliebene Arbeitskraft in zumutbarer Weise auf dem Arbeitsmarkt einzusetzen. Der Entscheidung des 11. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 14. September 1978 (BSGE 47, 57 = SozR 2200 § 1247 Nr. 22) könne nicht gefolgt werden.

Die Beklagte hat dieses Urteil mit der vom LSG zugelassenen Revision angefochten. Sie trägt vor, die Änderung in den Verhältnissen i.S. des § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO liege darin, daß der Kläger nach Bewilligung der Rente sich neue Kenntnisse und Fähigkeiten angeeignet habe, die es ihm ermöglichten, nunmehr eine zumutbare Erwerbstätigkeit auszuüben. Er arbeite nicht auf Kosten der Gesundheit und nicht mit einem nicht zu fordernden Energieaufwand. Die Auffassung des LSG, der gesteigerte Arbeitsaufwand des Klägers bedinge einen Ausgleich durch Rentengewährung, führe dazu, Querschnittsgelähmte von berufsfördernden Maßnahmen Zur Rehabilitation seitens der Rentenversicherung oder von der Eingliederung in das Erwerbsleben mit Hilfe des Schwerbehindertengesetzes auszuschließen. Im übrigen verweist die Beklagte auf die Entscheidungen des BSG vom 26. September 1975 (SozR a.a.O. Nr. 12) und vom 14. September 1978 (a.a.O.).

Die Beklagte beantragt, das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

II

Die zulässige Revision der Beklagten hat keinen Erfolg, denn das LSG hat mit Recht das Urteil des SG und den Bescheid der Beklagten über die Rentenentziehung aufgehoben.

Gemäß § 1286 Abs. 1 Satz 1 RVO kann die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit entzogen werden, wenn ihr Empfänger infolge einer Änderung in seinen Verhältnissen nicht mehr erwerbsunfähig und auch nicht berufsunfähig ist. Zwar ist in den Verhältnissen des Klägers seit der Rentengewährung insofern eine Änderung eingetreten, als er inzwischen die Tätigkeit eines Dokumentationsgehilfen in einer Unfallklinik aufgenommen hat. Diese Änderung hat aber nicht den Wegfall der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit zur Folge.

Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, die die Beklagte nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen hat und an die der Senat daher gemäß § 163 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gebunden ist, arbeitet der Kläger jetzt mit einem nicht zu fordernden Energieaufwand sowie auf Kosten und unter Gefährdung seiner Gesundheit. Es kann dahingestellt bleiben, ob die erstmals in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat von der Beklagten vorgetragenen Angriffe gegen diese Feststellungen des LSG der in § 164 Abs. 2 Satz 3 SGG vorgeschriebenen Form genügen. Ein entsprechender Verfahrensmangel ist jedenfalls nicht innerhalb der Revisionsbegründungsfrist mit der notwendigen Bezeichnung der den Mangel ergebenden Tatsachen gerügt worden. Die bloße Behauptung, entgegen der Auffassung des LSG arbeite der Kläger nicht auf Kosten seiner Gesundheit und nicht mit einem unverhältnismäßigen Energieaufwand, genügt insoweit nicht. Deshalb muß das entsprechende Vorbringen in der mündlichen Verhandlung unberücksichtigt bleiben.

In ständiger Rechtsprechung hat das BSG entschieden, daß auf Kosten der Gesundheit ausgeführte Arbeiten bei der Prüfung von Berufs- und Erwerbsunfähigkeit i.S. der §§ 1246, 1247 RVO nicht zu berücksichtigen sind (vgl. BSGE 22, 140, 141; 28, 271, 272 f.; SozR Nrn. 24 und 58 zu § 1246 RVO; SozR 2200 § 1247 Nr. 24). Kann ein Versicherter eine Tätigkeit nur unter unzumutbaren Schmerzen, einer unzumutbaren Anspannung seiner Willenskräfte oder auf Kosten seiner Gesundheit verrichten, so ist er gesundheitlich nicht in der Lage, diese Tätigkeit auszuüben. Das gilt auch dann, wenn er unter solchen Bedingungen einen zumutbaren Arbeitsplatz tatsächlich innehat (so der Senat im Urteil vom 26. Juni 1980 - 5 RJ 66/79 -).

Der 11. Senat des BSG hat zwar im Weil vom 14. September 1978 (- 11 RA 86/77 - BSGE 47, 57, 59 f. = SozR 2200 § 1247 Nr. 22) entschieden, für einen Versicherten gelte der Teilzeitarbeitsmarkt wegen eines von ihm innegehabten Arbeitsplatzes grundsätzlich auch dann nicht als verschlossen, wenn er ganztags beschäftigt sei und hierbei durch die Schwere oder Dauer der Arbeit gesundheitlich überfordert werde. Das hindert aber nicht die Entscheidung des Senats im Falle des Klägers. Auch der 11. Senat hat in seinem Falle nicht angenommen, die dortige Versicherte sei zu der sie überfordernden Ganztagsbeschäftigung fähig gewesen. Er hat vielmehr entschieden, der Arbeitsmarkt könne "auch für die an sich nur in Betracht kommenden Teilzeitarbeiten nicht als verschlossen gelten".

Es darf hier offen bleiben, ob der Auffassung des 11. Senats im Urteil vom 14. September 1978 (a.a.O.) unter Berücksichtigung der Beschlüsse des Großen Senats vom 11. Dezember 1969 und 10. Dezember 1976 (BSGE 30, 167, 179, 192; 43, 75, 79, 84) gefolgt werden kann, wonach für die Annahme von Berufs- und Erwerbsunfähigkeit auf das Vorhandensein eines für den in seiner Leistungsfähigkeit geminderten Versicherten geeigneten Arbeitsplatz abzustellen ist. Einen derartigen Arbeitsplatz hat der Kläger jedenfalls nicht inne. Auch erübrigt es sich, auf das Schrifttum einzugehen, das sich teils kritisch mit dem Urteil vom 14. September 1978 (a.a.O.) befaßt hat (vgl. Niemann, Berufsunfähigkeit und Arbeitsplatz - Richterrecht statt Gesetzesrecht?, SozVers 1979, 289, 312, 315, 316; Schimmelpfeng-Schütte und Wilde, Schließt "Raubbau-Arbeit" den Rentenanspruch aus?. SGb 1980, 334; Berufs- und Erwerbsunfähigkeit - Grundsätze zu den §§ 1246, 1247, 1276, 1283 RVO - Sonderausgabe Heft 7/80 DRV Seite 60 Nr. 2.5.1, wonach die Entscheidung im Widerspruch zu der bisher ständigen Rechtsprechung steht).

Nach den Feststellungen des LSG kann dem Kläger allenfalls noch eine Tätigkeit in halben Schichten unter seinen jetzigen persönlichen Bedingungen und denjenigen des Arbeitsplatzes zugemutet werden. Anders als in dem vom 11. Senat entschiedenen Fall, in dem die Versicherte in der Lage war, leichte Arbeiten im Sitzen höchstens sechs Stunden täglich zu verrichten, ist die Einsatzfähigkeit des Klägers im Erwerbsleben erheblich stärker eingeschränkt. Im zeitlichen Umfang ist beim Kläger bestenfalls von einer Halbtagstätigkeit auszugehen. Diese vermag er indes nicht unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes, ja nicht einmal allgemein in Form leichter Arbeiten im Sitzen zu verrichten. Dann muß es aber bei dem vom BSG wiederholt ausgesprochenen Grundsatz bleiben, daß eine nur unter übermäßigem Energieaufwand und auf Kosten der Gesundheit ausgeübte Tätigkeit bei der Prüfung der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit außer Betracht zu bleiben hat.

Zwar hat der Senat im Urteil vom 29. Juni 1978 (5 RJ 104/76) ausgeführt, daß der Arbeitsmarkt für einen Versicherten nicht verschlossen sei, der einen Arbeitsplatz inne habe, auch wenn er dort unter anderen als üblichen Arbeitsbedingungen beschäftigt sei. Das bezog sich aber auf einen Versicherten, der noch in vollen Schichten tätig sein konnte und gilt nicht für den Kläger mit seinen spezifischen Belastungen und Einschränkungen.

Nach alledem sind die Schlußfolgerungen des LSG, wonach der Kläger grundsätzlich nicht mehr in der Lage ist, die ihm verbliebene Arbeitskraft in zumutbarer Weise auf dem Arbeitsmarkt einzusetzen und damit mehr als nur geringfügige Einkünfte zu erzielen, rechtlich nicht zu beanstanden. Er ist somit weiterhin erwerbsunfähig i.S. des § 1247 Abs. 2 RVO. Daran ändert auch nichts die Höhe des von ihm tatsächlich erzielten Erwerbseinkommens; dieses muß unberücksichtigt bleiben, weil es mit einer Tätigkeit erzielt wird, die den Kläger überfordert und in seiner Gesundheit gefährdet (vgl. Urteil des Senats vom 26. Juni 1980 -a.a.O.-). Die Beklagte war demnach nicht berechtigt, die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu entziehen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.5b/5 RJ 58/79

Bundessozialgericht

Verkündet am

27. Januar 1981

 

Fundstellen

Breith. 1982, 220

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt TVöD Office Professional. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge