Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 06.06.1991)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 6. Juni 1991 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten für das Revisionsverfahren zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten darüber, ob dem Kläger ab 1. Februar 1989 das Krankengeld entzogen werde durfte.

Der Kläger ist Mitglied der Beklagten. Er bezog aufgrund einer ab 1. März 1985 bestehenden Arbeitsunfähigkeit zunächst bis zum 19. Oktober 1986 Krankengeld. Mit Beginn des zweiten Dreijahreszeitraums bewilligte die Beklagte ihm ab 10. März 1988 vorbehaltlos erneut Krankengeld, entzog ihm aber diese Leistung ab 1. Februar 1989 mit der Begründung, daß nunmehr § 48 Abs 2 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB V) Anwendung finde (Bescheid vom 4. Januar 1989). Den hiergegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 4. April 1989).

Das Sozialgericht (SG) hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger Krankengeld für die Zeit vom 1. Februar bis 6. September 1989 zu gewähren.

Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen. Die Beklagte hätte die Bewilligung des Krankengelds nach § 48 des Zehnten Buchs des Sozialgesetzbuchs – Verwaltungsverfahren -(SGB X) nur aufheben können, wenn eine Änderung in den rechtlichen Verhältnissen eingetreten wäre. Das sei aber nicht der Fall. Zwar habe der Gesetzgeber mit Wirkung vom 1. Januar 1989 die Voraussetzungen, unter denen in einem neuen Dreijahreszeitraum ein Anspruch auf Krankengeld wegen derselben Krankheit wiederentstehen könne, wesentlich verschärft. Da der Anspruch des Klägers auf Krankengeld in einem weiteren Dreijahreszeitraum bereits vor dem 1. Januar 1989 wiederaufgelebt sei, dürfe das neue Recht aber nicht im vorliegenden Falle angewendet werden. Dies ergebe sich aus den zum zeitlichen Geltungsbereich einer Norm entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Auch sei aus dem Gesundheits-Reformgesetz (GRG) weder unmittelbar noch mittelbar zu entnehmen, daß § 48 Abs 2 SGB V von seinem Inkrafttreten an auch die davor iS der Anspruchsentstehung bereits verwirklichten Sachverhalte erfassen und der wiederaufgelebte Anspruch mithin völlig und ersatzlos wegfallen sollten, wenn die neuen anspruchsbegründenden Tatsachen – wie hier – nicht vorlägen. Die genannte Vorschrift regele lediglich, unter welchen Voraussetzungen „nach Beginn eines neuen Dreijahreszeitraumes ein neuer Anspruch auf Krankengeld” bestehe. Um § 48 Abs 2 SGB V von seinem Inkrafttreten an dennoch auf Fälle anwenden zu können, in denen der Krankengeldanspruch in einem vor dem 1. Januar 1989 angelaufenen Dreijahreszeitraum wiederaufgelebt gewesen sei, hätte es daher einer dies ausdrücklich aussprechenden Übergangsvorschrift bedurft. Eine solche Norm habe der Gesetzgber aber nicht geschaffen.

Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt die Beklagte die Verletzung der Vorschriften der §§ 48 Abs 2 SGB V und 48 Abs 1 SGB X. Entgegen der Auffassung des LSG erfasse die gesetzliche Neuregelung des § 48 Abs 2 SGB V nicht nur die nach Inkrafttreten des Rechtssatzes entstehenden Ansprüche, sondern habe gleichermaßen rechtliche Auswirkungen auf den Fortbestand der noch nach altem Recht entstandenen Ansprüche. Dies folge aus § 48 Abs 1 SGB X. Denn mit dem Inkrafttreten des § 48 Abs 2 SGB V sei eine wesentliche Änderung eingetreten, die sie, die Beklagte, verpflichtet habe, die Krankengeldzahlung spätestens zum 1. Februar 1989 einzustellen. Den zum zeitlichen Geltungsbereich einer Rechtsnorm entwickelten allgemeinen Grundsätzen könne in den durch § 48 Abs 1 SGB X aufgezeigten rechtlichen Grenzen wegen ihres nur subsidiären Charakters keine rechtliche Bedeutung zukommen. Mit der in dieser Vorschrift getroffenen Regelung habe der Gesetzgeber aufgrund einer von ihm vorgenommenen Güterabwägung erkennbar dem öffentlichen Interesse an einer sachgerechten Anpassung des Rechts gegenüber dem Vertrauen des Bürgers in die Unveränderbarkeit eines Bescheides den Vorrang eingeräumt. Mit dieser gesetzlich vorgenommenen Interessenabwägung setze sich das LSG in Widerspruch, wenn es den zeitlichen Geltungsbereich des § 48 Abs 2 SGB V ausschließlich auf „Neufälle” beschränkt wissen wolle. Schließlich spreche auch das Fehlen einer Übergangsvorschrift hier nicht gegen, sondern gerade für das extensive Rechtsverständnis von dem zeitlichen Geltungsbereich des § 48 Abs 2 SGB V. Mit Rücksicht auf die bei leistungskürzenden Reformgesetzen nach Maßgabe des § 48 Abs 1 SGB X den Leistungsträgern eingeräumte rechtliche Gestaltungsmöglichkeit habe es zur Erfassung der laufenden Fälle einer ausdrücklichen Übergangsvorschrift nicht bedurft.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 6. Juni 1991 sowie das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 20. August 1990 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Nachdem der Kläger in der Revisionsverhandlung die Leistungsklage zurückgenommen hat, sind die Urteile der Vorinstanzen, soweit sie die Leistungsklage betreffen, hinfällig geworden. Die Revision der Beklagten richtet sich daher nur noch gegen die vorinstanzlichen Entscheidungen, soweit sie der Anfechtungsklage stattgegeben haben. Das Rechtsmittel ist jedoch nicht begründet. Zu Recht hat das SG die angefochtenen Bescheide aufgehoben. Denn die Beklagte durfte dem Kläger nicht das Krankengeld für die Zeit ab 1. Februar 1989 entziehen. Die Voraussetzungen für eine Aufhebung des Bewilligungsbescheides nach § 48 Abs 1 SGB X liegen – entgegen der Auffassung der Beklagten – nicht vor.

Nach der genannten Vorschrift darf ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft nur aufgehoben werden, wenn in den tatsächlichen oder – was hier allein in Betracht kommt – in den rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlaß eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eingetreten ist.

Zwar sind durch das GRG vom 20. Dezember 1988 (BGBl I 2477) die Voraussetzungen, unter denen nach Beginn eines neuen Dreijahreszeitraums ein Anspruch auf Krankengeld wegen derselben Krankheit besteht, wesentlich verschärft worden, wie ein Vergleich der jetzt in § 48 Abs 2 SGB V enthaltenen Regelung mit der zum Wiederaufleben von Ansprüchen nach altem Recht – zu § 183 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) – ergangenen Rechtsprechung zeigt (vgl BSGE 45, 11 = SozR 2200 § 183 Nr 11; BSGE 49, 163 = SozR 2200 § 183 Nr 30; BSGE 51, 281 = SozR 2200 § 183 Nr 35; BSGE 51, 287 = SozR 2200 § 183 Nr 36; BSGE 52, 261 = SozR 2200 § 183 Nr 39). Danach genügte es nach altem Recht für das Wiederaufleben des Anspruchs auf Krankengeld wegen derselben Krankheit nach Beginn eines neuen Dreijahreszeitraums, daß bei Fortbestand bzw erneutem Eintritt der Arbeitsunfähigkeit eine Mitgliedschaft ohne Krankengeld bestanden hat und daß diese Mitgliedschaft oder die Arbeitsunfähigkeit für nicht mehr als 26 Wochen unterbrochen gewesen sind. Demgegenüber verlangt das neue Recht in § 48 Abs 2 SGB V für das Bestehen eines neuen Anspruchs auf Krankengeld wegen derselben Krankheit nach Beginn eines neuen Dreijahreszeitraums, daß der Versicherte bei Eintritt der erneuten Arbeitsunfähigkeit mit Anspruch auf Krankengeld versichert ist und in der Zwischenzeit mindestens sechs Monate nicht wegen dieser Krankheit arbeitsunfähig war (Nr 1) und entweder erwerbstätig war oder dem Arbeitsmarkt zur Verfügung gestanden hat (Nr 2). Zutreffend gehen die Beteiligten davon aus, daß dem Kläger, der diese verschärften Voraussetzungen nicht erfüllt, kein Krankengeld zustünde, wenn es auf die Anwendung des neuen Rechts ankäme. Indessen werden, wie das LSG zu Recht entschieden hat, von der am 1. Januar 1989 in Kraft getretenen Neuregelung (Art 79 Abs 2 GRG) nicht Fälle der vorliegenden Art erfaßt, in denen der Anspruch auf Krankengeld – wie das LSG festgestellt hat – wegen derselben Krankheit bereits vor dem 1. Januar 1989 wiederaufgelebt, also schon nach altem Recht wieder Krankengeld (bis zur Höchstdauer von 78 Wochen) in der neuen Blockfrist zu gewähren war. In diesen Fällen richtet sich der Fortbestand des Anspruchs auch über den 31. Dezember 1988 hinaus nach bisherigem Recht mit der Folge, daß es an einer wesentlichen Änderung der rechtlichen Verhältnisse iS von § 48 SGB X fehlt. Diese Vorschrift ist nicht anwendbar, weil der vorliegende Fall dem zeitlichen Anwendungsbereich des § 48 Abs 2 SGB V nicht unterfällt.

Dies hat das LSG zutreffend dem Inhalt dieser Regelung und den zum zeitlichen Geltungsbereich von Normen entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätzen entnommen. Grundsätzlich ist ein Rechtssatz nur auf solche Sachverhalte anwendbar, die nach seinem Inkrafttreten verwirklicht werden. Spätere Änderungen eines Rechtssatzes sind daher für die Beurteilung von vor seinem Inkrafttreten entstandenen Lebensverhältnissen unerheblich, es sei denn, daß das Gesetz seine zeitliche Geltung auf solche Verhältnisse erstreckt (vgl hierzu Evers, „Die Zeit – eine Dimension des Sozialrechts?”, in: Rechtsschutz im Sozialrecht, Beiträge zum ersten Jahrzehnt der Rechtsprechung des BSG, 1965, S 63 ff, 79 ff jeweils mwN, ferner BSGE 62, 191, 195 = SozR 3100 § 1 Nr 39 mwN). Dementsprechend hat das BSG in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß sich Entstehung und Fortbestand sozialrechtlicher Ansprüche nach dem Recht beurteilen, das zur Zeit der anspruchsbegründenden Ereignisse oder Umstände gegolten hat, soweit nicht später in Kraft gesetztes Recht ausdrücklich oder sinngemäß etwas anderes bestimmt (allgemeine Meinung, vgl aus der jüngeren Rechtsprechung des BSG BSGE 44, 231, 232 = SozR 2200 § 1236 Nr 3; BSGE 45, 212, 214 = SozR 2200 § 182 Nr 29; SozR aaO Nr 85 mwN; BSGE 57, 211, 213 = SozR 1200 Art 2 § 18 Nr 1; BSGE 58, 243, 244 = SozR 2200 § 182 Nr 98). Der Grundsatz der Maßgeblichkeit des Versicherungsfalles gilt allerdings für das Krankengeld nicht uneingeschränkt (BSG SozR 2200 § 183 Nr 36 mwN); vielmehr kommt dem Wiederauflebenstatbestand – wie noch auszuführen sein wird – eine gewisse selbständige Bedeutung zu. Auch für ihn gilt, daß dann, wenn das Gesetz den Inhalt eines bereits wiederaufgelebten, dh im Sinne eines neuen Erfüllungstatbestandes konkretisierten Anspruchs neu regeln will, sich dies eindeutig aus seinem Wortlaut oder jedenfalls schlüssig aus seinem Zwecke ergeben muß.

Das Gesetz selbst enthält weder in den Überleitungs- und Schlußvorschriften der Art 56 bis 79 des GRG eine Vorschrift, die den zeitlichen Anwendungsbereich des § 48 Abs 2 SGB V auf Wiederauflebensfälle vor seinem Inkrafttreten erstreckt, noch ist dem § 48 Abs 2 SGB V selbst eine derartige – unechte – Rückwirkung eindeutig zu entnehmen. Daß Fälle der vorliegenden Art nicht erfaßt werden, ergibt sich aber schlüssig aus dem Zweck des § 48 Abs 2 SGB V, wie er in den Motiven des Gesetzes (BT-Drucks 11/2237, S 181) zum Ausdruck gekommen ist. Dort heißt es zu § 47 Abs 2, der dem heutigen § 48 Abs 2 SGB V entspricht:

„Das Wiederaufleben des Anspruchs auf Krankengeld wegen derselben Krankheit nach Ablauf der dreijährigen Blockfrist wird eingeschränkt … Nach Beginn eines neuen Dreijahreszeitraums besteht künftig ein Anspruch auf Krankengeld nur dann, wenn …”

Daraus wird klar ersichtlich, daß nur „das Wiederaufleben”, nicht aber der Fortbestand eines bereits – unter Geltung des alten Rechts – wiederaufgelebten Anspruchs auf Krankengeld wegen derselben Krankheit eingeschränkt werden soll. Der Gesetzgeber spricht zwar in § 48 Abs 2 SGB V nicht vom „Wiederaufleben des Anspruchs”, sondern stattdessen vom „Bestehen eines neuen Anspruchs auf Krankengeld”, meint aber gleichwohl – wie sich aus der Gesetzesbegründung ergibt – das Wiederaufleben im bisher verstandenen Sinne, dessen Voraussetzungen er einer neuen Bewertung unterzieht bzw verschärft. Das Wiederaufleben eines Krankengeldanspruchs betrifft nicht die (erstmalige) Entstehung dieses Anspruchs, sondern bestimmt die weitere Dauer eines bereits in der Vergangenheit entstandenen Anspruchs auf Krankengeld, das grundsätzlich ohne zeitliche Beschränkung gewährt wird, für den Fall der Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit jedoch höchstens für 78 Wochen innerhalb von drei Jahren ab Beginn der Arbeitsunfähigkeit. Ist danach das Krankengeld im Anschluß an einen Bezug von 78 Wochen bis zum Ende des laufenden Dreijahreszeitraumes vorläufig erschöpft gewesen, besteht ein neuer Leistungsanspruch erst dann wieder, wenn in einem neuen Dreijahreszeitraum Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit (fort-oder wieder-) besteht, wenn dies ärztlich festgestellt, der Anspruch angemeldet ist, eine Mitgliedschaft besteht und diese Mitgliedschaft oder die Arbeitsunfähigkeit nicht für 26 Wochen unterbrochen waren. Der Versicherungsträger hat hierüber durch einen Verwaltungsakt ohne Bindung an die frühere Bewilligung erneut zu entscheiden (BSG SozR 2200 § 183 Nr 51). Damit ist der Wiederauflebenstatbestand dem Tatbestand des Entstehens eines neuen Anspruchs soweit angenähert, daß die Anwendung der og intertemporalen Auslegungsgrundsätze auch auf diesen – an sich nur die Fortdauer eines bereits entstandenen Anspruchs betreffenden – Teilabschnitt eines Dauersachverhalts gerechtfertigt ist. Sind – wie im vorliegenden Fall – sämtliche dieser Tatsachen unter der Geltung des alten Rechts eingetreten und von diesem bereits – im Sinne eines Wiederauflebens des Krankengeldanspruchs – rechtlich bewertet worden, findet auf die weitere Dauer des wiederaufgelebten Krankengeldanspruchs das alte Recht Anwendung, es sei denn, daß das neue Recht auch diesem vor seinem Inkrafttreten liegenden Teil des Dauersachverhalts, der bereits nach früherem Recht bewertet war, einer neuen Bewertung unterwerfen will. Hat nämlich der Gesetzgeber den zeitlichen Geltungsbereich eines geänderten Rechtssatzes nicht eindeutig bestimmt, ist nach den Auslegungsregeln zum zeitlichen Geltungsbereich von Normen eine Interpretation unzulässig, die zu einer neuen Bewertung eines bereits vom früheren Recht bewerteten Sachverhalts führen würde. Nur wenn der Gesetzgeber den zeitlichen Geltungsbereich einer Norm eindeutig dahin bestimmt hat, daß – bei einem Dauersachverhalt wie dem vorliegenden – auch der vor ihrem Inkrafttreten liegende Teil dieses Sachverhalts, der durch das frühere Recht schon bewertet war, einer neuen Regelung unterworfen werden soll, findet das neue Recht rückwirkend Anwendung. Ist dies nicht der Fall, muß davon ausgegangen werden, daß die geänderte Norm nur den nach ihrem Inkrafttreten liegenden, noch nicht bewerteten Teil des Dauersachverhalts neu regeln will (vgl Evers, aaO, S 88/89). Deshalb findet § 48 Abs 2 SGB V hinsichtlich seiner zeitlichen Geltung Anwendung grundsätzlich nur auf die Fälle, in denen das Wiederaufleben eines Krankengeldanspruchs wegen derselben Krankheit innerhalb einer neuen Dreijahresfrist in die Zeit nach dem 31. Dezember 1988 fällt.

Im übrigen kann der Gesetzgeber, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat, die übergangsrechtliche Problematik leistungskürzender Reformgesetze, zur Erfassung auch der laufenden Leistungsfälle entsprechende Übergangsvorschriften zu schaffen, nicht verkannt oder übersehen haben, zumal er auch im Rahmen des GRG in den Art 56 ff mehrere übergangsrechtliche Regelungen getroffen hat, ua auch solche im Sinne einer unechten Rückwirkung (vgl Art 60 GRG). Da ein übergangsloser Entzug von bereits laufenden Lohnersatzleistungen im Hinblick auf Art 14 Grundgesetz (GG) verfassungsrechtliche Probleme aufwirft, liegt vielmehr die Annahme nahe, daß der Gesetzgeber bewußt eine Geltungserstreckung auf laufende „Altfälle” unterlassen hat.

Etwas anderes ergibt sich entgegen der Ansicht der Revision auch nicht aus § 48 SGB X selbst. Aus dieser Regelung kann nicht hergeleitet werden, daß nunmehr geändertes Recht grundsätzlich auch Altfälle erfaßt, soweit nicht ausnahmsweise etwas anderes vorgesehen ist. Für eine derartige materiell-rechtliche Bedeutung des § 48 SGB X bietet die Gesetzesbegründung zu dieser Vorschrift keinen Anhalt (vgl die Begründung der Bundesregierung zum Entwurf eines Sozialgesetzbuches – Verwaltungsverfahren –, BT-Drucks 8/2034, S 35 zu § 46). Die Norm, die an frühere Regelungen des Sozialrechts anknüpft, regelt nicht selbst, wann eine Änderung wesentlich ist und ob sie auf einen gegebenen Sachverhalt Anwendung findet, sondern setzt dies voraus. Als reine Verfahrensvorschrift dient sie lediglich dazu, eine Rechtsänderung durch den Gesetzgeber auf bereits ergangene, also an sich bindende Verwaltungsakte mit Dauerwirkung „umzusetzen”. Das setzt aber voraus, daß das geänderte Recht die Rechtslage in unechter Rückwirkung auch für sogenannte Altfälle gestalten will, daß also insoweit überhaupt eine zeitliche Geltungserstreckung vorliegt. Durch § 48 SGB X wollte der Gesetzgeber also nicht die allgemeinen Rechtsgrundsätze zur Anwendung alten oder neuen Rechts beseitigen. Vielmehr sind nach Inkrafttreten des SGB X (1. Januar 1981) diese Grundsätze weiter anzuwenden, und die Rechtsprechung des BSG hat sie auch bisher weiter beachtet (vgl zB BSGE 62, 191, 194 f = SozR 3100 § 1 Nr 39; SozR 1300 Art 2 § 40 Nr 7, S 6).

Insoweit macht das Urteil des 9. Senats des BSG vom 4. Juli 1989 (BSGE 65, 185 = SozR 1300 § 48 Nr 57) keine Ausnahme. Denn auch in dieser Entscheidung (aaO, S 186) wird klar zum Ausdruck gebracht, daß § 48 SGB X lediglich dazu dient, bei geänderter Rechtslage einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung der neuen Rechtslage anzupassen, und daß bei sogenannten Altfällen die Anpassung nur möglich ist, wenn das ändernde Gesetz dies selbst vorsieht. Es heißt hierzu in dem Urteil (aaO, S 186 f) wörtlich: „Soweit Gesetze in sogenannter unechter Rückwirkung die Rechtslage neu gestalten, soll dieses geänderte Recht grundsätzlich auch Auswirkungen auf Altfälle haben, um den Rechtsfrieden innerhalb der Gemeinschaft, also die Gleichbehandlung bei gleichem Sachverhalt für alle Betroffenen zu gewährleisten.” Der in BSGE 65, 185 und in SozR 1300 § 48 Nr 57 dem Urteil vom 4. Juli 1989 verangestellte Leitsatz ist allerdings irreführend. Denn der 9. Senat hat – wie sich unschwer den Entscheidungsgründen entnehmen läßt – nicht entschieden, daß bei der Änderung von Sozialleistungsgesetzen ohne Übergangsvorschrift die durch einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung geregelten Rechtsverhältnisse nach § 48 SGB X neu zu regeln sind.

Die Revision der Beklagten war, soweit sie die Aufhebung der angefochtenen Bescheide betrifft, nach alledem zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Obwohl der Kläger im Revisionsverfahren die Leistungsklage zurückgenommen hat, waren die vorinstanzlichen Kostenentscheidungen nicht zu ändern; denn der Leistungsklage kam neben der Anfechtungsklage für die Erreichung des Klageziels – der Weitergewährung des Krankengeldes – keine eigenständige Bedeutung zu.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173367

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