Leitsatz (amtlich)

Wird eine Volljährige, die von ihren Eltern auf die Straße gesetzt und der eine weitere Ausbildung verweigert wurde, in den Haushalt eines Dritten aufgenommen, der ihr Unterhalt und Ausbildung gewährt, ist dies noch kein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band (Pflegekind nach § 2 Abs 1 S 1 Nr 6 BKGG). Die Eheschließung mit einem Sohn des Aufnehmenden nach zwei Jahren ändert daran nichts (Fortführung von BSG 1962-08-29 7 RKg 7/61 = BSGE 17, 265, 269 und BSG 1969-06-26 4 RJ 439/67 = BSGE 29, 292).

 

Orientierungssatz

Die Begründung eines Pflegekindschaftsverhältnisses iS von § 2 Abs 1 Nr 6 BKGG kommt bei Volljährigen nur unter besonderen Umständen in Betracht, etwa bei behinderungsbedingter Unfähigkeit zur eigenen Lebensgestaltung und Verweigerung elterlicher Hilfe.

 

Normenkette

BKGG § 2 Abs 1 S 1 Nr 6

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 17.03.1981; Aktenzeichen L 13 Ar 23/80)

SG Duisburg (Entscheidung vom 05.05.1980; Aktenzeichen S 6 Ar 16/80)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten nur noch darüber, ob dem Kläger für A L (L.) in der Zeit vom 1. August 1978 bis 30. Oktober 1979 Kindergeld zugestanden hat.

Der verheiratete Kläger ist Vater von sechs ehelich geborenen Kindern, für die er Kindergeld erhalten hat oder noch erhält. Im Dezember 1978 beantragte der Kläger auch Kindergeld für die 1958 geborene L., die er am 1. Juli 1977 in seien Haushalt aufgenommen hatte, nachdem sie von ihren leiblichen Eltern unter Verweigerung weiterer Ausbildung auf die Straße gesetzt worden war. Der Kläger gewährte L. Unterhalt und kam ab August 1978 für die Ausbildung der L. auf. Eine Pflegeerlaubnis durch das Jugendamt wurde nicht beantragt und auch nicht erteilt. Ausbildungsförderungs- und Finanzamt haben 1978 die Unterhaltsgewährung und die Aufwendungen für die weitere Ausbildung (Fachoberschulreife und anschließendes biologisch-technisches Studium) berücksichtigt. L. hat im Oktober 1979 mit dem zweiten Sohn des Klägers die Ehe geschlossen.

Die Beklagte lehnte es, L. mit Rücksicht auf ihr Alter als Pflegekind zu berücksichtigen (Bescheid vom 18. Juli 1979). Der Widerspruch blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid vom 18. Dezember 1979).

Das Sozialgericht (SG) Duisburg hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt, dem Kläger für das Pflegekind L. ab 1. Juni 1978 Kindergeld zu zahlen (Urteil vom 5. Mai 1980). Das Landessozialgericht (LSG) für das Land Nordrhein-Westfalen hat das Urteil des SG abgeändert und die Klage abgewiesen (Urteil vom 17. März 1981). Mit der zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des §§ 2 Abs 1 Nr 6, 17 Satz 3, 27 Abs 2 Bundeskindergeldgesetz (BKGG), der §§ 75, 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sowie derArt 3 Abs 1, 6, 20 und 28 Grundgesetz (GG).

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Beklagte

zu verurteilen, ihm für das Pflegekind L. ab 1. Juni 1978 bis

30. Oktober 1979 Kindergeld zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Zurückweisung der Revision.

Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Sie ist zurückzuweisen, weil dem Kläger kein Kindergeld für die in seinem Haushalt aufgenommene L. zusteht.

Das LSG hat entgegen der Auffassung der Revision, deren Begehren die Berufung der Beklagten zu verwerfen, allerdings im Revisionsantrag nicht zum Ausdruck kommt, zu Recht in der Sache entschieden. Die durch das Urteil des SG geschaffene Beschwer der Beklagten hat im maßgeblichen Zeitpunkt der Einlegung der Berufung weiter bestanden (BSGE 14, 216; 16, 135). Sie wurde erst durch den in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG gestellten Antrag des Klägers auf nur teilweise Zurückweisung der Berufung der Beklagten gemindert. Dafür, daß der Kläger damit teilweise auf Rechte aus dem Urteil des SG verzichten oder gar die Klage mit Wirkung auf den Einlegungszeitpunkt der Berufung nachträglich einschränken wollte, ist weder dem festgestellten Sachverhalt noch dem Revisionsvorbringen etwas zu entnehmen (vgl BSG SozR 1500 § 146 Nr 5). Zwar mag der Kläger gemeint haben, mit der Verheiratung der L. habe der Kindergeldanspruch in jedem Fall geendet. Diese Meinung hat er sich aber erst offenbar nach Einlegung der Berufung gebildet, auch wenn die dafür maßgeblichen Verhältnisse - die Eheschließung der L. - bereits vorher vorgelegen haben (BSG SozR Nr 8 zu § 146; SozR 1500 § 146 Nrn 5 und 6). Wenn somit auch nicht von der Hand zu weisen ist, daß subjektiv ein vernünftiger Grund für eine Klagebeschränkung vorgelegen hat, rechtfertigt dies doch nicht die Annahme, der Kläger habe mit diesem Antrag bereits für den Zeitpunkt der Berufungseinlegung einen abgelaufenen Zeitraum markieren wollen. Deshalb kann offen bleiben, was zu gelten hätte, wenn dem Antrag Rückwirkung beizumessen wäre. Abzustellen ist vorrangig auf das Berufungsbegehren der Beklagten im Zeitpunkt der Einlegung der Berufung, das sich nicht auf einen abgelaufenen Zeitraum, sondern auf die Beseitigung einer fortlaufenden Kindergeldzahlung erstreckt hat. Offen kann auch bleiben, ob der Kläger die Klagebeschränkung rechtswirksam mittels Anschlußberufung hätte geltend machen können, da er eine solche nicht eingelegt hat. Der Umstand, daß der Kläger versäumt hat, mit der Revision einen Antrag, die Berufung der Beklagten als unzulässig zu verwerfen, zu stellen, ist rechtlich unerheblich. Denn bei einem fortwirkenden Verfahrensmangel hat das Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen und zu entscheiden, ob er vorliegt.

Da also die Berufung der Beklagten nicht ausgeschlossen gewesen ist, eröffnet dies die Sachprüfung durch das Revisionsgericht.

Nach § 2 Abs 1 Satz 1 Nr 6 BKGG werden für die Gewährung von Kindergeld Pflegekinder als Kinder iS des Gesetzes berücksichtigt (Personen, mit denen der Berechtigte durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie in seinem Haushalt aufgenommen hat). Letzteres ist nach den Feststellungen des LSG bei L. nach Vollendung des 18. Lebensjahres (Volljährigkeit) der Fall gewesen. Der Kläger hat für L. nicht nur den Unterhalt bestritten, sondern sie auch einer ordnungsgemäßen Ausbildung zugeführt, nachdem die leiblichen Eltern sie auf die Straße gesetzt und ihr eine weitere Ausbildung verweigert hatten. Inwieweit diese Reaktion der leiblichen Eltern durch ein Verhalten der schon damals volljährigen L. bedingt gewesen ist, kann offen bleiben. Sie hat sich jedenfalls wegen zunehmender Schwierigkeiten mit den Eltern zuerst in einen Freundeskreis begeben, um dann das Angebot des Klägers, sie in seinen Haushalt aufzunehmen, anzunehmen. Da nach § 2 Abs 2 BKGG Kinder über 18 Jahren nur unter einschränkenden Voraussetzungen berücksichtigt werden, andererseits aber nach § 9 BKGG insoweit keine Wegfalltatbestände vorgegeben sind, kommt es allein entscheidend darauf an, ob L. durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band mit dem Kläger verbunden gewesen ist. Das LSG hat dem Jugendwohlfahrtsgesetz (JWG) eine Schutzbedürftigkeit von Jugendlichen unter 16 Jahren entnommen und die Begründung eines echten Pflegekindschaftsverhältnisses bei Volljährigen nur unter bestimmten besonderen Umständen in Betracht gezogen. Es hat dabei vor allem auf die Unfähigkeit der Jugendlichen zur eigenen Lebensgestaltung und die Verweigerung der elterlichen Hilfe abgehoben. Dem ist zuzustimmen. Wenn es auch aus wirtschaftlichen und fürsorgerischen Gründen durchaus sinnvoll war, daß der Kläger L. in seinen Haushalt aufnahm und sich um ihre Ausbildung kümmerte, trat er damit nicht zu der volljährigen L. in ein Eltern-Kind ähnliches Verhältnis (BSGE 17, 265, 269; 29, 292).

Zutreffend hat das LSG auch entschieden, daß der Kläger nur aus eigenem Recht und nicht als Dritter (§ 17 Abs 1 BKGG) Kindergeld begehrt hat. Für eine Beiladung des leiblichen Vaters der L. bestand nach dem vom LSG festgestellten Sachverhalt daher kein zwingender Anlaß. Für eine Ungleichbehandlung der im maßgeblichen Zeitraum volljährigen L. gegenüber behinderten Kindern und damit für einen Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG ergeben sich entgegen der Auffassung der Revision keine Anhaltspunkte.

Auch das Sozialstaatsprinzip (Art 20 Abs 1, 28 GG) wird nicht verletzt, wenn die Belange einer Volljährigen, die sich von ihrem Elternhaus, aus welchen Gründen auch immer, in ein anderes soziales Verhältnis geflüchtet hat, anders gewertet werden, als dies bei körperlich oder seelisch behinderten Kindern der Fall sein mag.

Da schließlich das Verfassungsgebot (Art 6 Abs 1 GG) des besonderen Schutzes von Ehe und Familie der Gestaltungsfreiheit des einfachen Gesetzgebers obliegt (BSGE 45, 89, 94), kann der Kläger aus der "Hilfsbedürftigkeit" einer Volljährigen nichts für sich herleiten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1657377

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