Entscheidungsstichwort (Thema)

Klage auf Befreiung von der Zuzahlung betrifft eine Geldleistung. Zulassung der Berufung außerhalb des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens. Umdeutung der Berufung in eine Nichtzulassungsbeschwerde

 

Leitsatz (amtlich)

1. Die Klage auf Befreiung von der Zuzahlungspflicht nach § 61 Abs 1 SGB V betrifft einen auf eine Geldleistung gerichteten Verwaltungsakt iS des § 144 Abs 1 S 1 Nr 1 SGG in der seit 1.3.1993 geltenden Fassung.

2. Außerhalb des Nichtzulassungsbeschwerdeverfahrens ist das Berufungsgericht nicht befugt über die Zulassung der Berufung zu befinden (Anschluß an BVerwG vom 28.2.1985 - 2 C 14/84 = BVerwGE 71, 73); die Umdeutung der Berufung eines rechtskundig vertretenen Beteiligten in eine Nichtzulassungsbeschwerde ist unzulässig (Anschluß an BVerwG vom 13.6.1994 - 9 B 374/94 = Buchholz 310 § 125 VwGO Nr 11).

 

Normenkette

SGG § 144 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Fassung: 1993-01-11, § 145 Abs. 4 S. 1, Abs. 5, § 158 S. 1; SGB V § 61 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 27.07.1995; Aktenzeichen L 16 Kr 223/93)

SG Gelsenkirchen (Entscheidung vom 30.09.1993; Aktenzeichen S 17 Kr 48/93)

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten um die Befreiung von der Zuzahlungspflicht für einen Zeitraum, in dem der volljährige Sohn des Klägers kein Einkommen hatte.

Der Kläger ist als Rentner Pflichtmitglied der beklagten Betriebskrankenkasse. 1993 lebte er mit seiner Ehefrau und dem 1963 geborenen Sohn im gemeinsamen Haushalt. Während der Kläger Bruttoeinnahmen von monatlich etwa 2.300 DM hatte, verfügten die anderen Haushaltsmitglieder jedenfalls bis zum 1. September 1993, als der bis dahin arbeitslose Sohn eine Beschäftigung aufnahm, über kein eigenes Einkommen.

Das Begehren des Klägers, ihn nach § 61 Abs 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) von den dort genannten Kosten (im folgenden: "Zuzahlungen") zu befreien, hatte erst im Klageverfahren Erfolg. Die Beklagte stellte sich auf den Standpunkt, der Sohn des Klägers sei bei der Berechnung des Freibetrags, unterhalb dessen Zuzahlungen nach dem Gesetz als unzumutbar gelten, nicht zu berücksichtigen, weil er nicht familienversichert sei (Bescheid vom 26. Januar 1993, Widerspruchsbescheid vom 1. März 1993). Demgegenüber kamen Sozialgericht (SG) und Landessozialgericht (LSG) zum Ergebnis, der Begriff "Angehöriger" iS von § 61 Abs 3 und 4 SGB V meine nicht nur familienversicherte Angehörige, sondern jedenfalls auch die Kinder des Versicherten, die nicht familienversichert seien (Urteile vom 30. September 1993 und vom 27. Juli 1995). Auf Grund entsprechender Erklärungen des Klägers im Berufungsverfahren änderte das LSG lediglich die erstinstanzliche Verurteilung von einer unbeschränkten in eine beschränkte Befreiung für die Zeit von der Antragstellung am 26. Januar bis zum 31. August 1993.

Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 61 SGB V.

Die Beklagte beantragt,

die Urteile des LSG Nordrhein-Westfalen vom 27. Juli 1995 und des SG Gelsenkirchen vom 30. September 1993 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Nach den vom Kläger im Revisionsverfahren vorgelegten Belegen hatte er in der Zeit vom 26. Januar bis zum 31. August 1993 Zuzahlungen zu Arznei-, Verband- und Heilmitteln in Höhe von 315,55 DM zu leisten.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision der Beklagten hat im Ergebnis keinen Erfolg; allerdings ist ihre Berufung gegen das stattgebende Urteil des SG nicht als unbegründet zurückzuweisen, sondern als unzulässig zu verwerfen. Das LSG durfte über die Berufung der Beklagten nicht sachlich entscheiden, weil der erforderliche Wert des Beschwerdegegenstands nicht erreicht und eine Zulassung nicht ausgesprochen war.

Die Statthaftigkeit der Berufung ist vom Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfen (Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, § 163 RdNr 5 mwN; BSGE 67, 221, 223 = SozR 3-4100 § 117 Nr 3 S 12). Die hierfür erforderlichen Tatsachenfeststellungen hat ebenfalls das Revisionsgericht zu treffen. Die insoweit durchgeführte Sachaufklärung hat die Unzulässigkeit der Berufung ergeben.

Nach § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 und Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) in der seit dem 1. März 1993 geltenden Fassung bedarf die Berufung nur dann keiner besonderen Zulassungsentscheidung, wenn der Wert des Beschwerdegegenstands bei einer Klage, die eine Geld- oder Sachleistung oder einen hierauf gerichteten Verwaltungsakt betrifft, 1.000 DM übersteigt oder wenn die Berufung wiederkehrende oder laufende Leistungen für mehr als ein Jahr betrifft. Gemäß Art 14 Abs 1, Art 15 Abs 1 des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 (BGBl I 50) findet diese Vorschrift hier Anwendung. Die mündliche Verhandlung, auf die das erstinstanzliche Urteil ergangen ist, ist am 30. September 1993 und somit nach dem Inkrafttreten der neuen Vorschriften am 1. März 1993 geschlossen worden.

Die Beklagte ist durch das erstinstanzliche Urteil nicht in dem von § 144 Abs 1 SGG vorausgesetzten Maß beschwert. Dabei ist vom Gegenstand der Verurteilung durch das SG auszugehen, wie er sich nach dem Berufungsurteil darstellt (BSG SozR 3-1500 § 144 Nr 1 S 2) und wie er sich bei einem prozessual zulässigen Klageantrag ergeben hätte (vgl BSG SozR 5870 § 27 Nr 3).

Der Wortlaut der erstinstanzlichen Verurteilung wird dem zulässigen Klagebegehren in zwei Punkten nicht gerecht. Bereits das LSG hat erkannt, daß der Kläger von vornherein keine zeitlich unbeschränkte Befreiung von Zuzahlungen begehrt, sondern den Rechtsstreit von Anfang an unter der Voraussetzung der Einkommenslosigkeit des Sohnes geführt hatte, die jedoch einen Monat vor Erlaß des erstinstanzlichen Urteils vom 30. September 1993 beendet war; insofern hat es auf Grund der Erklärungen des Klägers im Berufungsverfahren zu Recht das ursprüngliche Begehren durch die Neufassung des Tenors klargestellt. Durch die Erwerbstätigkeit des Sohnes war jedoch nicht nur die Frage der zukünftigen Befreiung für die Beteiligten gegenstandslos geworden, sondern außerdem das Rechtsschutzbedürfnis für die Klage auf Befreiung entfallen. Der damit erstrebte zuzahlungsfreie Bezug der in § 61 Abs 1 SGB V aufgeführten Leistungen konnte nicht mehr erreicht werden. Der Klageantrag hätte in der mündlichen Verhandlung vor dem SG auf die Erstattung der bereits verauslagten Zuzahlungen umgestellt werden müssen, um das einzig noch zulässig verfolgbare Ziel des Prozesses richtig zu bezeichnen.

Der für eine zulässige Berufung notwendige Wert des Beschwerdegegenstands von mehr als 1.000 DM wird mit der Erstattung der vom 26. Januar bis zum 31. August 1993 vom Kläger geleisteten Zuzahlungen nicht erreicht. Die Erstattung betrifft eine Geldleistung iS des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG. Auf Grund der Verurteilung muß die Beklagte lediglich 315,55 DM erstatten. Die außerdem vom Kläger im Revisionsverfahren vorgelegten Nachweise über Zahlungen bei Krankenhausbehandlung nach § 39 Abs 4 SGB V in Höhe von 143 DM und bei Sehhilfen nach § 33 Abs 4 SGB V in Höhe von 440 DM können nach dem klaren Wortlaut des § 61 Abs 1 SGB V nicht berücksichtigt werden; im übrigen läge der Beschwerdewert auch dann noch unter der Berufungssumme.

Demgegenüber kann sich die Beklagte weder darauf berufen, daß der umstrittenen Erstattung Befreiungen von der Zuzahlungspflicht - also wiederkehrende oder laufende Leistungen - zugrunde lägen, noch daß der Streit keine Geldleistung, sondern die grundsätzliche Voraussetzung für die Befreiung betreffe.

Ob die Erstattung von Zuzahlungen auf vorenthaltenen wiederkehrenden oder laufenden Leistungen beruht (dafür wohl BSG SozR 3-2500 § 61 Nr 3 mwN) und ob es im Rahmen des § 144 Abs 1 Satz 2 SGG darauf ankommt (vgl für das Leistungsrecht BSG SozR 3-2200 § 182c Nr 2 mwN), kann offenbleiben. Denn die Beschwer der Beklagten bezieht sich keinesfalls auf mehr als ein Jahr. Nach der Klarstellung des erstinstanzlichen Tenors durch das LSG hat das SG vielmehr lediglich über einen Zeitraum von sieben Monaten und fünf Tagen entschieden.

Auch der zweite Einwand der Beklagten greift nicht durch. Eine Klage, mit der die Befreiung von der Zuzahlungspflicht erreicht werden soll, betrifft einen auf eine Geldleistung gerichteten Verwaltungsakt. Die Befreiung ist von der Krankenkasse durch Bescheid festzustellen, wie sich aus § 61 Abs 5 SGB V ergibt. Dieser hat zwar nicht unmittelbar eine Geldleistung zum Gegenstand; vielmehr will der Versicherte Geldleistungen vermeiden, die er sonst erbringen müßte. § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG erfaßt jedoch auch diesen Fall (so auch Bernsdorff in: Hennig, SGG, § 144 RdNr 12). Da es anders als nach früherem Recht (vgl BSGE 64, 233, 235 = SozR 4100 § 145 Nr 4 mwN) auf den Empfänger der Leistung nicht ankommt, darf die Zahlungspflicht nicht anders behandelt werden als deren Aufhebung. Im übrigen zeigt die Erwähnung von Sachleistungen neben Geldleistungen, daß der Gesetzgeber die Regelung nicht auf die Fälle beschränken wollte, in denen es um tatsächliche Geldzahlungen geht. Unabhängig davon, ob die Vorschrift auch für Dienstleistungen gilt (so Kummer, NZS 1993, 285, 290; aM Meyer-Ladewig, NZS 1993, 137, 139), ist daraus zu schließen, daß sie jedenfalls den in der Befreiung von einer Verbindlichkeit liegenden geldwerten Vorteil erfassen soll.

Daran ändert der Umstand nichts, daß nicht die Befreiung von einzelnen Zuzahlungen, sondern deren grundsätzliche Voraussetzung streitig ist. Der Wortlaut des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG läßt genügen, daß der umstrittene Verwaltungsakt zu einer Geldleistung oder einem geldwerten Vorteil führt, denn er braucht nur darauf "gerichtet" zu sein. Zum insoweit gleichen Wortlaut des Art 4 § 4 Abs 1 Satz 1 Nr 1 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (nunmehr § 131 Abs 2 Satz 1 Nr 1 Verwaltungsgerichtsordnung ≪VwGO≫) hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) entschieden, daß damit nicht nur Bescheide gemeint sind, die eine Geldleistung bewilligen oder festsetzen, sondern auch Bescheide, die als Grundlage für die Entstehung eines Anspruchs dienen. Es hat deshalb die Bestimmung auch auf das Begehren angewandt, die Kosten eines Widerspruchsverfahrens der Behörde aufzuerlegen und die Zuziehung eines Bevollmächtigten für notwendig zu erklären (vgl § 72, § 73 Abs 3 Satz 2 VwGO, § 80 Abs 3 Satz 2 Verwaltungsverfahrensgesetz; im Sozialrecht: § 63 Abs 1 Satz 1, Abs 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch). Maßgebend sei nach der Absicht des Gesetzgebers die wirtschaftliche Bedeutung für den Antragsteller, die sich im entschiedenen Fall nach der Höhe des durch die genannten Grundentscheidungen begründeten Kostenerstattungsanspruchs bemesse (BVerwG, Buchholz 312, EntlG Nr 53). Dieser Rechtsprechung schließt sich der Senat an, weil § 144 SGG nicht anders ausgelegt werden kann. Im gleichen Sinn hat das Bundessozialgericht (BSG) entschieden, wenn - zunächst - um die Förderung einer Bildungsmaßnahme dem Grunde nach (SozR 4460 § 5 Nr 3 S 9) oder um die Beseitigung eines bindenden Verwaltungsakts gestritten wird (SozR 3-1500 § 146 Nr 2). Auch die Befreiung von der Zuzahlungspflicht hängt so eng mit den dadurch eingesparten Zahlungen zusammen, daß sie bei der Frage der Berufungszulässigkeit nicht davon zu trennen ist. Anders kann zu entscheiden sein, wenn der Feststellung der Berechtigung eine eigenständige Bedeutung zukommt (vgl Bley in: Peters/Sautter/Wolff, Komm zur Sozialgerichtsbarkeit, Stand: Dezember 1995, § 144 RdNr 54; Kummer, NZS 1993, 285, 288; beispielsweise bei Feststellung der Familienversicherung: vgl BSGE 72, 292, 293 = SozR 3-2500 § 10 Nr 2 S 3).

Die demnach erforderliche Zulassung im Urteil des SG oder auf Beschwerde durch Beschluß des LSG liegt nicht vor. Eine Entscheidung über die Zulassung der Berufung ist weder dem Tenor noch den Entscheidungsgründen des erstinstanzlichen Urteils zu entnehmen. Die bei zulässiger Berufung übliche Rechtsmittelbelehrung genügt nicht den Anforderungen an eine positive Entscheidung über die Zulassung der Berufung (BSGE 5, 92, 95; BVerwGE 71, 73, 76; siehe auch die Nachweise bei Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, § 144 RdNr 40). Das SG dürfte sich über die Zulässigkeit der Berufung geirrt haben, weil ihm die beschränkte Reichweite seiner Entscheidung nicht bewußt war. Denn mangels anderweitiger Anhaltspunkte muß davon ausgegangen werden, daß dem SG bis zur mündlichen Verhandlung am 30. September 1993 die am 1. September aufgenommene Erwerbstätigkeit des Sohnes des Klägers unbekannt geblieben ist.

Dem Berufungsurteil darf eine stillschweigende Zulassungsentscheidung nicht entnommen werden. Zwar hat das LSG die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen, was gleichzeitig als Zulassungsgrund nach § 144 Abs 2 Nr 1 SGG in Betracht kommt. Für eine Zulassung des Rechtsmittels fehlt dem Berufungsgericht im Berufungsverfahren jedoch die Entscheidungsmacht. Eine unzulässige Berufung ist nach § 158 Satz 1 SGG zu verwerfen; die Möglichkeit der Zulassungsentscheidung ist nach § 144 Abs 1 Satz 1, § 145 Abs 4 Satz 1 SGG auf das Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde beschränkt. In diesem Sinne hat bereits das BVerwG zu der dem § 158 Satz 1 SGG entsprechenden Vorschrift des § 125 Abs 2 Satz 2 VwGO entschieden (BVerwGE 71, 73; BVerwG, Buchholz 312, EntlG Nr 53). Der Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an (dafür auch Zeihe, NVwZ 1995, 560; aM Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, § 144 RdNr 45). Dabei kommt es nicht darauf an, ob Zulassungsgründe vorliegen und erkannt werden oder nicht. Das Gebot des § 158 Satz 1 SGG, unzulässige Berufungen zu verwerfen, läßt Ausnahmen nicht zu.

Ein anderes Ergebnis ist auch nicht dadurch zu erreichen, daß die unstatthafte Berufung - eventuell nach Zurückverweisung an das LSG - als Nichtzulassungsbeschwerde behandelt wird. Das BVerwG hat die Umdeutung einer von einem rechtskundig vertretenen Beteiligten eingelegten Berufung in einen Antrag auf Zulassung der Berufung für unzulässig erklärt (BVerwG, Buchholz 310, § 125 VwGO Nr 11; vgl auch Buchholz 310, § 124 VwGO Nr 26; aM Bley in: Peters/Sautter/Wolff, aaO, § 145 RdNr 19 mwN). Dabei hat es sich auf die eigene ständige Rechtsprechung und auf die des Bundesfinanzhofs (BFH) gestützt, wonach ein eindeutig eingelegter Rechtsbehelf nicht in einen anderen umgedeutet werden könne, insbesondere eine Revision nicht in eine Nichtzulassungsbeschwerde (BFHE 88, 73; 146, 395; BFH vom 3. Juni 1993 - VII R 24/93; BVerwG, Buchholz 448.0, § 34 WPflG Nr 35 mwN). Das BSG und das Bundesarbeitsgericht (BAG) haben im gleichen Sinne entschieden (BSG SozR 1500 § 160a Nr 2, Nr 6; BAG vom 4. Juli 1985 - 5 AZR 318/85). Die Beklagte als Sozialversicherungsträger muß sich insoweit behandeln lassen wie ein rechtskundig vertretener Beteiligter (vgl BSG SozR 3-1500 § 87 Nr 1 S 3 mwN). Dieses Ergebnis entspricht wiederum der schon erwähnten Entscheidung des BVerwG, das nicht erwogen hat, den Mangel der Zulassung mit Hilfe einer Zurückverweisung beheben zu lassen (BVerwGE 71, 73). Auch zu einer Aussetzung des Verfahrens zum Zwecke der Nachholung einer Entscheidung über die Zulassung in einem zusätzlich zur Hauptsache zu betreibenden Beschwerdeverfahren analog § 114 SGG (vgl Kopp, VwGO, 10. Aufl, § 131 RdNr 19) besteht kein Anlaß. Würde nämlich im parallelen Beschwerdeverfahren die Berufung zugelassen, müßte dieses nach § 145 Abs 5 SGG als Berufungsverfahren fortgesetzt werden. Die bisherige Berufung bliebe unzulässig. Eine andere Entscheidung als die Verwerfung der zunächst eingelegten Berufung wäre demzufolge auch im Falle eines erfolgreichen Beschwerdeverfahrens nicht gesetzesgemäß (so auch Zeihe, NVwZ 1995, 560, 561).

Gründe der Prozeßökonomie vermögen ein anderes Ergebnis nicht zu rechtfertigen (aM LSG Berlin, Breith 1995, 528 unter Berufung auf BGHZ 98, 41 = NJW 1986, 3143). Der einzig hier relevante Fehler der erstinstanzlichen Entscheidung besteht in einer unrichtigen Rechtsmittelbelehrung. Deren Folgen sind im Gesetz geregelt (vgl § 66 Abs 2 SGG). Ob der zutreffende Rechtsbehelf der Nichtzulassungsbeschwerde bei dieser Konstellation innerhalb der Jahresfrist einzulegen ist oder ob auch danach noch ein Recht auf Wiedereinsetzung besteht (dafür BVerwGE 71, 359, 361; aM Zeihe, NVwZ 1995, 560; bei Hinweis auf § 96 SGG statt Widerspruch vgl BSG, Breith 1967, 1, 2), bedarf im jetzigen Verfahren keiner Entscheidung. Weitergehende Vergünstigungen beim Zugang zum Berufungsrechtszug für den in erster Instanz unterlegenen Beteiligten kann der Fehler des SG nicht begründen. Denn dadurch würden die schutzwürdigen Belange des Prozeßgegners verletzt, der ein für ihn günstiges und nur mit der Nichtzulassungsbeschwerde anfechtbares Urteil erstritten hat. Er hat einen verfahrensrechtlichen Anspruch darauf, daß die Frage der Rechtsmittelzulassung in dem dafür vorgesehenen Verfahren geklärt wird. Dabei mag der Zulassungsgrund noch so offensichtlich sein, so daß das Ergebnis des Beschwerdeverfahrens sicher scheint. Die Berufung ist erst zulässig, wenn der unterlegene Beteiligte form- und fristgerecht Beschwerde eingelegt und das SG (im Wege der Abhilfe) oder das LSG die Zulassung beschlossen hat.

Für eine Entscheidungskompetenz des LSG über die Zulassung im bereits laufenden Berufungsverfahren sprechen auch keine verfassungsrechtlichen Gründe (so auch Bley in: Peters/Sautter/Wolff, aaO, § 144 RdNr 285; aM Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, § 144 RdNr 45). Zwar wird in bestimmten Fallgestaltungen auch da eine Zulassungskompetenz des Rechtsmittelgerichts angenommen, wo eine solche nach dem Gesetzeswortlaut nicht vorgesehen ist. Wenn die einschlägige Prozeßordnung eine Überprüfung der Zulassungswürdigkeit in allen Fällen anordnet, darf die Überprüfung nicht daran scheitern, daß das Vordergericht den Streitgegenstand als zulassungsfrei, das Rechtsmittelgericht aber als zulassungspflichtig einordnet (BVerfGE 66, 331, 336; BGHZ 90, 1; 98, 41). Der 11. Senat des BSG hat daraus eine Zulassungskompetenz des LSG im Berufungsverfahren abgeleitet, wenn sich die Nichtzulassung durch das SG nach dem Inhalt der Entscheidungsgründe als willkürlich darstellt (in dieser Richtung auch BSG SozR 1500 § 150 Nr 27). Abgesehen davon, daß im jetzigen Verfahren Anhaltspunkte für eine willkürliche Nichtzulassung durch das SG nicht vorliegen und neben einem Versehen auch eine andere Auslegung des § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG als Grund für die falsche Rechtsmittelbelehrung in Betracht zu ziehen ist, beruhen die erwähnten Überlegungen des BSG zum SGG auf dessen bis zum 28. Februar 1993 geltender Fassung, die eine Überprüfung der im erstinstanzlichen Urteil fehlenden Zulassung nicht vorsah. Demgegenüber eröffnet die Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Berufung inzwischen die Möglichkeit, den Fehler des SG (eine falsche Rechtsmittelbelehrung) auf dem prozeßrechtlich dafür vorgesehenen Weg zu korrigieren. Für eine Mißachtung des Prozeßrechts aus übergeordneten Gesichtspunkten fehlt seither die Rechtfertigung. Insofern kann auch der Hinweis auf die Rechtsprechung zur Zivilprozeßordnung nicht überzeugen, die im entsprechenden Fall eine Nichtzulassungsbeschwerde nicht kennt.

Die im Ergebnis unbegründete Revision der Beklagten ist mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß die Berufung unzulässig war. Das Urteil des SG ist aus den aufgezeigten prozessualen Gründen so zu verstehen, daß die Beklagte zur Erstattung von 315,55 DM verurteilt ist.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

NJW 1998, 478

NVwZ 1997, 832

Breith. 1997, 759

SozSi 1997, 400

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