Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 14.12.1994; Aktenzeichen L 5 Ka 1948/94)

SG Stuttgart (Urteil vom 19.05.1993)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. Dezember 1994 aufgehoben.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 19. Mai 1993 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin hat der Beklagten deren Aufwendungen für das Berufungs- und Revisionsverfahren zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die beklagte Kassenzahnärztliche Vereinigung (KZÄV) erteilte ihren Mitgliedern mit Rundschreiben vom 31. Oktober 1991 einen „Allgemeinen Verwaltungshinweis” über die Herausgabe von Behandlungsunterlagen an den Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK). Der Hinweis lautete wie folgt:

„Einzelne Krankenkassen haben mit der Begutachtung von Zahnersatz und Kieferorthopädie den Beratungszahnarzt beim MDK beauftragt.

Wir weisen darauf hin, daß für die Begutachtung hinsichtlich der Planung und der Funktionstüchtigkeit von Zahnersatz und Zahnkronen ausschließlich die zwischen den Landesverbänden und der KZV einvernehmlich bestellten Gutachter zuständig sind. Wenn eine Krankenkasse oder der MDK Behandlungsunterlagen zwecks Begutachtung oder „Beratung” anfordert, sollten diese – unter Hinweis auf das Gutachterverfahren – nicht herausgegeben werden.”

Unter Bezugnahme auf diesen Hinweis lehnten es die Ärzte einer kieferorthopädischen Gemeinschaftspraxis im Februar 1992 ab, den von ihnen für eine Versicherte der klagenden Ersatzkasse vorgelegten Behandlungsplan durch den MDK begutachten zu lassen und hierfür dem MDK, wie von der Klägerin gefordert, die Befundunterlagen (Kiefermodelle, Röntgenaufnahmen, ggf Fotografien, Fernröntgenaufnahmen und HNO-Befund) sowie den Behandlungsplan vorzulegen. Sie verwiesen auf den Vorrang der vertraglich vereinbarten Begutachtung. Die Überprüfung des Behandlungsplanes erfolgte zu einem späteren Zeitpunkt im Gutachterverfahren durch einen Vertragszahnarzt.

Die Klägerin hat im Mai 1992 Klage vor dem Sozialgericht (SG) Stuttgart erhoben und neben Feststellungsanträgen, die nicht mehr im Streit sind, ein Unterlassungsbegehren geltend gemacht, nach dem die Beklagte es zu unterlassen hatte, ihre Mitglieder in Form von Verwaltungshinweisen oder Rechtsauskünften dahingehend zu informieren, daß eine rechtliche Verpflichtung zur Herausgabe von Behandlungsunterlagen, Röntgenaufnahmen und Modellen im Rahmen der Begutachtung der medizinischen Voraussetzungen für die Durchführung einer kieferorthopädischen Behandlung nur gegenüber Vertragsgutachtern und nicht auch gegenüber den Krankenkassen zum Zwecke der Begutachtung bestehe. Das SG hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 19. Mai 1993). Die vorbeugende Unterlassungsklage sei unbegründet, weil die Klägerin durch das von ihr beanstandete Verhalten der Beklagten rechtlich nicht beeinträchtigt werde. Die Hinweise der Beklagten an ihre Mitglieder seien für diese nicht verbindlich.

Auf die Berufung der Klägerin, die sie auf den Unterlassungsanspruch beschränkt hat, hat das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg die Beklagte unter Abänderung des angefochtenen Urteils antragsgemäß verurteilt (Urteil vom 14. Dezember 1994 = MedR 1995, 335 mit zustimmender Anm von Boni). Zur Begründung hat das Berufungsgericht im wesentlichen ausgeführt, die Beklagte habe mit ihrem Verwaltungshinweis rechtlich geschützte Positionen der Krankenkassen verletzt. Nach § 275 Abs 1 und 3 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V) sei in bestimmten Fällen die Einschaltung des MDK vorgesehen. Davon abweichende Regelungen könnten nicht durch schriftliche Verträge iS des § 72 Abs 2 SGB V getroffen werden und seien deshalb auch nicht in den Vereinbarungen über die sog Vertragsgutachter in den Anlagen zum Zahnarzt/Ersatzkassenvertrag zu sehen. Die Befugnis zu abweichenden Regelungen könne insbesondere nicht aus den Tatbestandsmerkmalen der „Erforderlichkeit” in § 275 Abs 1 SGB V bzw aus dem Begriff der „geeigneten Fälle” in Abs 3 aaO hergeleitet werden. Hinweise und Auskünfte der Beklagten, daß die zahnärztlichen Unterlagen schlechthin nur an die Vertragsgutachter und nicht an den MDK herausgegeben werden müßten, seien mithin mit der genannten Regelung nicht vereinbar. Die Klägerin habe einen Anspruch auf deren Unterlassung.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung materiellen Rechts. Der Gesetzgeber sei in Kenntnis der vertraglich vereinbarten vorherigen Prüfung der Behandlungen iS der §§ 29, 30 SGB V im Wege des Gutachterverfahrens davon ausgegangen, daß dieses Verfahren weiterhin zulässig sein solle. Dem stehe § 275 SGB V nicht entgegen, wie sich zum einen bereits aus der Gesetzesbegründung ergebe, in der der Vorrang des vereinbarten Gutachterverfahrens betont worden sei. Zum anderen beziehe sich § 275 Abs 3 Nr 1 SGB V nur auf die medizinischen Voraussetzungen für die Durchführung der kieferorthopädischen Behandlung, nicht jedoch auf eine Überprüfung von deren Wirtschaftlichkeit. Gemäß § 106 SGB V sei hierfür den Vertragsparteien der kassenzahnärztlichen Versorgung die Regelungsbefugnis übertragen worden. Nach übereinstimmender Bewertung der Vertragspartner sei wegen Art und Umfang der kieferorthopädischen Behandlung und deren Kosten nur eine vorherige Wirtschaftlichkeitsprüfung in der Form des vereinbarten Gutachterverfahrens möglich. Im Ergebnis komme daher eine Entscheidung des MDK nur in Ausübung seiner allgemeinen Beratungsfunktion gemäß § 275 Abs 4 SGB V in Betracht. Dann bestehe aber auch keine Verpflichtung der Vertragszahnärzte, dem MDK Behandlungsunterlagen auf Anforderung zur Verfügung zu stellen. Da ihre „Allgemeinen Verwaltungshinweise” keine sachlich unberechtigten Informationen enthielten, habe sie, die Beklagte, nicht gegen ihre in § 75 Abs 2 Satz 2 SGB V normierte Pflicht zur Überwachung der den Vertragszahnärzten obliegenden Pflichten verstoßen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 14. Dezember 1994 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Stuttgart vom 19. Mai 1993 zurückzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision der Beklagten ist begründet.

Die von der Klägerin erhobene Unterlassungsklage ist zulässig.

Der Klägerin steht insbesondere ein Rechtsschutzbedürfnis für die Unterlassungsklage zu. Bei ihr handelt es sich um einen Unterfall der echten Leistungsklage gemäß § 54 Abs 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG), so daß an sich keine besonderen Anforderungen an das Rechtsschutzbedürfnis zu stellen sind. Es ist vielmehr regelmäßig als ausreichend anzusehen, daß der Klagende behauptet, er habe einen Rechtsanspruch, dessen drohende Verletzung zu besorgen sei (vgl zum Rechtsschutzbedürfnis bei Unterlassungsklagen aber: BSGE 60, 248, 249 = SozR 1500 § 54 Nr 67). Für die hier vorliegende „vorbeugende” Unterlassungsklage, mit der die Klägerin die Verbreitung der beanstandeten Mitteilung durch die Beklagte in Zukunft verhindern will, wird hingegen ein sogenanntes qualifiziertes Rechtsschutzinteresse gefordert. Es setzt voraus, daß der Betroffene ein gerade auf die Inanspruchnahme vorbeugenden Rechtsschutzes gerichtetes Rechtsschutzinteresse darlegt, das regelmäßig nicht gegeben ist, solange er auf den nachträglichen Rechtsschutz verwiesen werden kann. Als maßgebliches Kriterium für das Bestehen eines qualifizierten Rechtsschutzinteresse wird erachtet, daß ein erneutes, als widerrechtlich beurteiltes Vorgehen der Gegenseite ernstlich zu befürchten ist (s ua BSG SozR 2200 § 368n Nr 34; BSG Breithaupt 1980, 233, 234; BSG – Urteil vom 28. Januar 1993 – 2 RU 48/92; vgl auch BSGE 72, 15, 24 = SozR 3-2500 § 88 Nr 1). Diese Voraussetzung ist hier zu bejahen. Die beklagte KZÄV hält ihren Rechtsstandpunkt aufrecht, nach dem sie sich als berechtigt ansieht, die von der Klägerin beanstandeten Hinweise weiter zu erteilen.

Die Unterlassungsklage ist indessen, wie das SG zutreffend entschieden hat, nicht begründet.

Materiell-rechtlich beruht der Unterlassungsanspruch auf einem allgemeinen Rechtsgrundsatz, nach dem der Inhaber eines Rechts, sofern ein Eingriff in ein absolutes Recht oder ein ansonsten geschütztes Rechtsgut droht, die Unterlassung des Eingriffs verlangen kann, wenn er nicht zu dessen Duldung verpflichtet ist (vgl zum Ganzen: Laubinger, VerwArch 1989, 261, 292). Im Verhältnis Bürger-Staat wird der öffentlich-rechtliche Unterlassungsanspruch regelmäßig auf die dem Einzelnen zustehenden Freiheitsgrundrechte gestützt (vgl OVG Hamburg, NVwZ 1995, 498, 499; Hess VGH, ESVGH 43, 252, 259 f). Darüber hinaus kann aber die Bedrohung nicht nur grundrechtlich gesicherter Güter, sondern auch durch öffentlich-rechtliche Normen geschützter Rechtspositionen einen öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruch auslösen (zB nachbarschützende Normen des öffentlichen Bau- und Immissionsschutzrechts). Voraussetzung für die Begründetheit eines öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruchs ist danach zum einen eine durch öffentlich-rechtliche Vorschriften begründete und im Verhältnis zu anderen Rechtsträgern geschützte Rechtsposition, zum anderen das Drohen eines Eingriffs in diese Position.

Entgegen der Auffassung des LSG läßt sich eine geschützte Rechtsposition der Klägerin nicht aus § 275 Abs 1 und 3 SGB V herleiten. Die Vorschriften bestimmen, daß die Krankenkassen in geeigneten Fällen die medizinischen Voraussetzungen für die Durchführung der ärztlichen Behandlung durch den MDK prüfen lassen können. Aus ihnen folgt ohne weiteres, wie das LSG zutreffend dargelegt hat, daß die Krankenkassen ungeachtet sonstiger vertraglicher Vereinbarungen auch das Recht haben, unter den Voraussetzungen des Abs 3 Nr 1 aaO, also in „geeigneten Fällen”, den MDK zur Prüfung der medizinischen Voraussetzungen der kieferorthopädischen Behandlung (§ 29 SGB V) einzuschalten. Die Regelungen konkretisieren damit die Verpflichtung der Krankenkasse zur Überprüfung ihrer Leistungspflicht gegenüber dem Versicherten; dabei kann offenbleiben, ob aus ihnen unmittelbar ein Anspruch gegen den betreffenden Leistungserbringer abzuleiten ist, die der Krankenkasse obliegende Überprüfung ihrer Leistungsverpflichtung durch Herausgabe der einschlägigen Unterlagen an die Krankenkasse zu ermöglichen. Die sich aus den Vorschriften des § 275 Abs 1 und 3 SGB V ergebende Rechtsposition der Krankenkasse betrifft jedoch nicht das Verhältnis zu einer K(Z)ÄV. Diese Körperschaften sind in die hier erfaßte Beziehung zwischen Krankenkasse, Versicherten und Leistungserbringer nicht eingeschaltet, so daß aus den genannten Regelungen ein Anspruch gegenüber einer K(Z)ÄV auf Unterlassung nicht abgeleitet werden kann.

Eine Rechtsposition der Klägerin, deren drohende Beeinträchtigung zu untersagen wäre, ergibt sich im vorliegenden Fall auch nicht aus § 75 Abs 1 Satz 1 iVm Abs 2 Satz 2 SGB V. Danach haben die K(Z)ÄVen im Rahmen ihres allgemeinen Sicherstellungs- und Gewährleistungsauftrages (§ 75 Abs 1 Satz 1 SGB V) die Pflicht, die Erfüllung der den Vertrags(zahn)ärzten obliegenden Pflichten zu überwachen und die Vertrags(zahn)ärzte zur Erfüllung dieser Pflichten anzuhalten. Mit der Verpflichtung der K(Z)ÄVen korrespondiert ein Anspruch der Krankenkassen auf Abwehr bzw Beseitigung, wenn eine K(Z)ÄV die Verpflichtung zur Sicherstellung in Teilbereichen oder als Ganzes in Frage stellt und dies durch entsprechende Information ihrer Mitglieder umzusetzen sucht. Aus den genannten Vorschriften kann jedoch ein Anspruch auf Abwehr bzw Unterlassung einer Handlung, die diese Voraussetzungen nicht erfüllt, nicht abgeleitet werden. Demgegenüber würde eine großzügigere Handhabung des Unterlassungsanspruchs und seiner Voraussetzungen auf diesem Weg eine durch Art 19 Abs 4 des Grundgesetzes nicht gebotene und nach der Systematik des SGG nicht vorgesehene abstrakte objektive Rechtskontrolle des Verwaltungshandelns einer Körperschaft einführen (vgl hierzu bereits BSGE 60, 248, 249 = SozR 1500 § 54 Nr 67) und zur Folge haben, daß Meinungsverschiedenheiten über rechtliche Verpflichtungen der Vertragspartner der gemeinsamen Selbstverwaltung von (Zahn-)Ärzten und Krankenkassen im Wege des für diese Fälle nicht konzipierten öffentlich-rechtlichen Unterlassungsanspruchs ausgetragen würden. Das ist nicht gerechtfertigt.

Eine Fallgestaltung, bei der eine Rechtsposition der klagenden Krankenkasse auf Abwehr bzw Unterlassung von Äußerungen der Beklagten anzunehmen wäre, liegt nicht vor. Bei der umstrittenen Handlung der Beklagten handelt es sich um eine Meinungsäußerung bezüglich der Auslegung von gesetzlichen und vertraglichen Bestimmungen des Leistungserbringungsrechts des SGB V im Einzelfall. Die von der Beklagten gegenüber der klagenden Krankenkasse zu übernehmende Sicherstellung der vertragszahnärztlichen Versorgung wurde durch diese Äußerung weder als Ganzes noch in Teilbereichen in Frage gestellt. Hinzu kommt, daß die Mitteilung der Beklagten an ihre Mitglieder erst der Umsetzung durch diese bedurfte, um Rechtswirkungen zu äußern, so daß es jedenfalls insoweit auch am unmittelbaren Eingriffscharakter der Meinungsäußerung fehlt (weitergehend insoweit noch BSGE 55, 150, 151 = SozR 2200 § 368 Nr 8).

Auf die Revision der Beklagten war daher das erstinstanzliche Urteil wiederherzustellen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1174306

SozSi 1997, 239

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