Entscheidungsstichwort (Thema)

Ablehnung eines Richters wegen Besorgnis der Befangenheit. Teilnahme an Richtertagung

 

Orientierungssatz

1. Die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit findet gemäß § 60 Abs 1 S 1 SGG iVm § 42 Abs 2 ZPO nur statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. Entscheidend ist, ob ein Prozessbeteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit eines Richters zu zweifeln (vgl BVerfG vom 5.4.1990 - 2 BvR 413/88 = BVerfGE 82, 30 = NJW 1990, 2457).

2. Die Teilnahme eines Richters an Tagungen zu aktuellen Rechtsfragen stellt keinen Ablehnungsgrund dar.

 

Normenkette

SGG § 60 Abs. 1 S. 1; ZPO § 42 Abs. 2

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 03.02.2006; Aktenzeichen L 4 R 47/05)

SG Düsseldorf (Urteil vom 17.02.2005; Aktenzeichen S 10 RJ 132/04)

 

Tatbestand

Der Kläger macht Ansprüche nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) geltend. Im Verwaltungsverfahren sowie vor dem Sozialgericht und dem Landessozialgericht (LSG) hatte er mit seinem Begehren keinen Erfolg. Mit der vom LSG zugelassenen Revision verfolgt er seine Ansprüche weiter. Termin zur mündlichen Verhandlung ist für den 26.7.2007 angesetzt.

Mit Schriftsatz vom 13.7.2007, am selben Tage beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen, hat er den Richter am BSG Dr. F. wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt. Er hat im Wesentlichen geltend gemacht, während einer mündlichen Verhandlung vor dem LSG Nordrhein-Westfalen vom 15.12.2006, bei der es um Auslegungs- und Anwendungsschwierigkeiten des ZRBG gegangen sei, habe der Vorsitzende Richter am LSG A. mitgeteilt, dass Dr. F. auf einer Richtertagung der Sozialrichter die Entscheidung des 13. Senats des BSG vom 7.10.2004 verteidigt habe und sich dabei wörtlich zur Anwendung des ZRBG wie folgt geäußert habe: "Es ist eine Anmaßung, was in der Gesetzesbegründung steht". Hinsichtlich der Äußerung in der mündlichen Verhandlung vom 15.12.2006 hat der Kläger eine entsprechende eidesstattliche Versicherung seiner Prozessbevollmächtigten vorgelegt. Als Beweis für die Äußerung von Dr. F. auf der Richtertagung bezieht sich der Kläger auf eine einzuholende dienstliche Äußerung von Dr. F. sowie auf das Zeugnis des Vorsitzenden Richters am LSG Nordrhein-Westfalen A. ; zum Beweis dafür, dass in der mündlichen Verhandlung am 15.12.2006 die angebliche Äußerung Dr. F. mitgeteilt worden sei, auf das Zeugnis der damals anwesenden berufsrichterlichen und ehrenamtlichen Mitglieder des 13. Senats des LSG Nordrhein-Westfalen sowie von zwei Beklagtenvertretern. Auf Grund der Äußerung müsse unter Anlegung objektiver Maßstäbe und für jeden objektiven Dritten erkennbar davon ausgegangen werden, dass gegenüber Dr. F. die Besorgnis bestehe, dass er nicht mehr unvoreingenommen objektiv und neutral sachlich über die Anwendung des ZRBG entscheiden könne. Eine derart unsachliche und abwertende Äußerung zu den Intentionen des Gesetzgebers lasse bei vernünftiger Würdigung eine objektive Beurteilung des Gesetzes nicht mehr zu. Die Äußerung könne nicht als wissenschaftliche Meinung zu einem Rechtsproblem gewertet werden, die zu tolerieren sei; die Benutzung des Begriffs "Anmaßung" verlasse jede sachliche Grundlage und sei mit einem wissenschaftlichen Meinungsstreit unvereinbar.

Der abgelehnte Richter hat sich am 16.7.2007 dienstlich geäußert.

 

Entscheidungsgründe

Der Senat entscheidet (§ 171 Abs 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) in der aus dem Beschlusseingang ersichtlichen Besetzung.

Das Ablehnungsgesuch ist unbegründet.

Die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit findet gemäß § 60 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 42 Abs 2 Zivilprozessordnung nur statt, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit eines Richters zu rechtfertigen. Entscheidend ist, ob ein Prozessbeteiligter bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass hat, an der Unvoreingenommenheit eines Richters zu zweifeln (BVerfG vom 5.4.1990, BVerfGE 82, 30, 38; stRspr) . Davon kann hier keine Rede sein.

Der Kläger hat in keinerlei Hinsicht geltend gemacht, der Richter am BSG Dr. F. habe den Eindruck erweckt, dass er ihm (dem Kläger) persönlich oder aber der Beklagten - aus welchen Gründen auch immer - befangen gegenüberstehe. Ebenso wenig trägt er vor, Dr. F. habe im vorliegenden oder in früheren Verfahren zwischen den Beteiligten einen Ablehnungsgrund verwirklicht.

Vielmehr meint der Kläger, aus einer - seiner Prozessbevollmächtigten in einer anderen Sache überlieferten - angeblichen Äußerung von Dr. F. anlässlich einer Richtertagung ableiten zu können, es bestehe im vorliegenden Verfahren ein Grund, dessen Befangenheit zu besorgen. Derartige Umstände liegen jedoch nicht vor.

Dabei lässt der Senat offen, ob sich Dr. F. auf einer Richtertagung mit dem unterstellten Wortlaut geäußert hat (in seiner dienstlichen Äußerung hat er hierzu mitgeteilt, die ihm zugeschriebene Äußerung nie getätigt zu haben). Ebenso kann offenbleiben, ob, wie vom Kläger behauptet, der Vorsitzende des 13. Senats des LSG Nordrhein-Westfalen am 15.12.2006 in einer mündlichen Verhandlung in der vorgetragenen Weise über eine Äußerung von Dr. F. berichtet hat. Denn selbst wenn die Darstellung des Klägers in beiderlei Hinsicht zuträfe, hat er bei vernünftiger Würdigung aller Umstände keinen Anlass, an der Unvoreingenommenheit von Dr. F. zu zweifeln.

Die Teilnahme eines Richters an Tagungen zu aktuellen Rechtsfragen stellt keinen Ablehnungsgrund dar. Damit geht einher, dass auch seine Meinungsbekundungen dort grundsätzlich nicht geeignet sind, eine Befangenheit zu begründen. Dies gilt gleichermaßen dann, wenn entsprechende Äußerungen über bereits vorliegende Rechtsprechung hinausgehen (BGH vom 14.5.2002, NJW 2002, 2396) . Weiterhin sind Richtern selbst in anhängigen Verfahren auch pointierte freimütige Äußerungen gestattet, ohne dass diese eine Richterablehnung rechtfertigten (BFH vom 25.1.1996, BFH/NV 1996, 561, 562; BFH vom 10.10.1996 - X R 132/95, Leitsätze in Juris, LS 2) . Für Äußerungen etwa auf Richtertagungen folgt nichts anderes. Etwas anderes könnte allenfalls dann gelten, wenn sich der Richter dabei einer evident unsachlichen, unangemessenen oder gar beleidigenden Sprache bedient (BFH vom 27.9.1994, BFH/NV 1995, 526, 528 mwN) oder wenn Zweifel an der Offenheit für Gegenargumente bestehen, etwa wenn diese lächerlich gemacht oder Vertreter der Gegenansicht abwertend beurteilt werden (BFH vom 10.10.1996, aaO; BVerfG vom 2.3.1966, BVerfGE 20, 1, 7) .

In beiderlei Hinsicht kann jedoch aus dem vom Kläger geltend gemachten Wortlaut der angeblichen Äußerung von Dr. F. von vornherein kein derartiger Schluss gezogen werden.

Die Behauptung des Klägers, die unterstellte Aussage sei eine eindeutige derart unsachliche und abwertende Äußerung hinsichtlich der Intentionen des Gesetzgebers, dass sie bei vernünftiger Würdigung eine objektive Beurteilung des Gesetzes nicht mehr zulasse, ist nicht nachvollziehbar.

Die - auch pointiert formulierte - Bekundung einer Meinung über Eigenschaften einer Gesetzesbegründung (mit der zum Anlass des Ablehnungsantrags gemachten angeblichen Äußerung gemeint sein können nur die übereinstimmenden Begründungen des Gesetzentwurfs der Fraktionen SPD, CDU/CSU, Bündnis 90/Die Grünen und FDP vom 19.3.2002, BT-Drucks 14/8583, S 5 sowie des Gesetzentwurfs der Fraktion der PDS vom 20.3.2002, BT-Drucks 14/8602, S 5) stellt einen stets erlaubten Beitrag zur allgemeinen Diskussion dar. Ein solcher könnte nach der oben wiedergegebenen Rechtsprechung selbst dann keinen Anlass zur Besorgnis der Befangenheit geben, wenn der Richter ihn - in einem Aufsatz, in einem früheren Urteil oder gar in einem Hinweisschreiben zum anhängigen Verfahren - schriftlich niedergelegt hätte.

Eine Äußerung, es sei "eine Anmaßung, was in der Gesetzesbegründung steht", überschreitet nicht die Grenze zur evidenten Unsachlichkeit, zur Unangemessenheit oder gar zur Beleidigung. Dies gilt umso mehr, als sich der Sinn der behaupteten Aussage nicht unmittelbar erschließt. Welcher konkrete "Vorwurf" sich aus der der Äußerung unterlegten Auffassung ergeben soll, dass "der Gesetzgeber sich zu dieser Gesetzesbegründung 'erdreistet' ", legt auch der Kläger nicht dar. Der Begriff "Anmaßung" ist als solcher weder unschicklich noch beleidigend, wenn er auch die Wertung enthält, jemand verhalte sich überheblich oder arrogant oder nehme unberechtigt eine Befugnis in Anspruch (Duden, Das große Wörterbuch der deutschen Sprache, 3. Aufl 1999, Stichwort: Anmaßung) . Dann aber rechtfertigt die angebliche Äußerung, wie jede andere Meinungsäußerung auch, nicht den Schluss, ihr Urheber sei einer sachlichen Argumentation (in welcher Hinsicht auch immer) nicht mehr zugänglich.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2072756

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