Entscheidungsstichwort (Thema)

Schlichtungsspruch. freie Tage in der Schuhindustrie

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Hat ein Landesarbeitsgericht in seinem Urteil in gesetzesgemäßer Weise nach § 72 Abs 1 ArbGG die Revision zugelassen, so wird die Zulässigkeit des Rechtsmittels durch eine dem widersprechende falsche Rechtsmittelbelehrung weder beeinträchtigt noch beseitigt.

2. Sieht ein Schlichtungsspruch Rechte und Pflichten von Arbeitnehmern und Arbeitgebern vor, so besitzt er normative Tarifwirkung. Für die Auslegung eines solchen Schlichtungsspruches gelten daher auch die allgemeinen Grundsätze der Tarifauslegung.

3. Enthält ein derartiger Schlichtungsspruch eine unbewußte Lücke, so kann diese von den Gerichten für Arbeitssachen nicht ausgefüllt werden, wenn eine artverwandte und vergleichbare Regelung, auf die zurückgegriffen werden könnte, fehlt, und mehrere rechtliche Gestaltungsmöglichkeiten nebeneinander bestehen.

4. Aus diesem Grunde können die Gerichte für Arbeitssachen nicht entscheiden, ob und in welchem Umfang Arbeitnehmer der Schuhindustrie, die in dem betreffenden Kalenderjahr ausscheiden, Ansprüche auf freie Tage nach dem Schlichtungsspruch vom 14. Februar 1985 besitzen.

 

Orientierungssatz

1. Auslegung des § 17 des Manteltarifvertrages für die Schuhindustrie in der Bundesrepublik Deutschland vom 31.10.1984.

2. Bewußte und unbewußte Lücke in Tarifverträgen und Schlichtungssprüchen - Dissens beim Abschluß von Tarifverträgen und Schlichtungssprüchen.

 

Normenkette

GG Art. 9; TVG § 1; BUrlG §§ 4-5; ArbGG § 9; BGB §§ 154-155; ArbGG § 72; BAT § 15a

 

Verfahrensgang

LAG Düsseldorf (Entscheidung vom 18.02.1987; Aktenzeichen 12 Sa 1686/86)

ArbG Wesel (Entscheidung vom 06.10.1986; Aktenzeichen 5 Ca 699/86)

 

Tatbestand

Die der Gewerkschaft Leder angehörende, am 25. Februar 1926 geborene Klägerin trat im Jahre 1946 in die Dienste der Beklagten, die dem Hauptverband der Deutschen Schuhindustrie e.V. angeschlossen ist. Am 28. Februar 1986 endete das Arbeitsverhältnis der Parteien. Die Klägerin bezog vorgezogenes Altersruhegeld.

Im Jahre 1985 wurden zwischen den Tarifvertragsparteien der Schuhindustrie Verhandlungen über eine Verkürzung der Arbeitszeit und eine tarifliche Vorruhestandsregelung geführt. Diese Verhandlungen verliefen ergebnislos. Darauf trat die tariflich vorgesehene Schlichtungsstelle der Tarifvertragsparteien am 14. Februar 1985 zusammen. Ihr Vorsitzender war ein Berufsrichter der Arbeitsgerichtsbarkeit. Weiter gehörten ihr je drei Vertreter des Hauptverbandes der Deutschen Schuhindustrie e.V. und der Gewerkschaft Leder an. Die Schlichtungsstelle vereinbarte am gleichen Tage einen Schlichtungsspruch, der zunächst in seinen Absätzen I bis III eine Erhöhung der Tariflöhne, Ausbildungsvergütungen und Jahressonderzahlungen vorsieht. Alsdann heißt es weiter in dem Schlichtungsspruch in Absatz IV unter der Überschrift

Bezahlte freie Tage

-------------------

1. Diejenigen Mitarbeiter, die am 1. Januar eines Kalenderjahres

das 58. Lebensjahr vollendet haben,

erhalten ab 1. Januar 1986 je Kalenderjahr drei

bezahlte freie Tage; im Jahre 1986 gilt diese Regelung

auch für diejenigen Mitarbeiter, die seit mindestens

1. Januar 1986 dem jeweiligen Betrieb angehören

und bis 30. Juni 1986 das 58. Lebensjahr

vollenden.

2. Diejenigen Mitarbeiter, die am 1. Januar eines Kalenderjahres

dem Betrieb mindestens 10 Jahre ununterbrochen

angehören, erhalten ab 1. Januar 1987

je Kalenderjahr zwei bezahlte freie Tage.

3. Alle übrigen Mitarbeiter erhalten ab 1. Januar 1987

einen bezahlten freien Tag.

4. Über die Inanspruchnahme der freien Tage haben sich

Arbeitnehmer und Arbeitgeber, ggf. unter Mitwirkung

des Betriebsrates, zu einigen.

5. Für die Zeit der Freistellung wird der tarifliche

Urlaubslohn gezahlt.

6. Die freien Tage sollen grundsätzlich nicht im Zusammenhang

mit Erholungsurlaub gewährt werden.

..............

Im Hinblick auf ihre faktische Arbeitsleistung in den beiden ersten Monaten des Jahres 1986 hat die Beklagte ohne Anerkennung einer Rechtspflicht freiwillig an die Klägerin 2/12 des Lohnes für drei Tage gezahlt.

Mit ihrer am 25. März 1986 erhobenen Klage hat die Klägerin die Beklagte auf Abgeltung dreier freier Tage abzüglich des erhaltenen Betrages nebst 4 v.H. Zinsen seit Rechtshängigkeit in Anspruch genommen. Sie hat die Auffassung vertreten, ihre Klageforderung sei nach Absatz IV Nr. 1 des vorstehenden Schlichtungsspruches begründet. Darin werde lediglich darauf abgestellt, daß der betreffende Arbeitnehmer zu Beginn des Kalenderjahres das 58. Lebensjahr vollendet habe, was bei ihr zutreffe. Dagegen fordere der Schlichtungsspruch nicht, daß das Arbeitsverhältnis während des gesamten Jahres durchgehend bestanden habe. Das mache schon der Wortlaut ganz deutlich. Das Zwölftelungsprinzip des gesetzlichen und tariflichen Urlaubsrechts habe in die Schlichtungsregelung keinen Eingang gefunden. Zudem sei eine mit dem Urlaubsrecht zusammenhängende oder auch nur vergleichbare Regelung nicht beabsichtigt gewesen. Die Arbeitnehmervertreter der Schlichtungsstelle seien bei Abfassung des Schlichtungsspruches der Auffassung gewesen, der eingeklagte Anspruch solle unabhängig vom Ausmaß der Arbeitsleistung in dem betreffenden Kalenderjahr und damit auch im Laufe des Kalenderjahres ausscheidenden Arbeitnehmern voll zustehen. Da offenbar die Arbeitgebervertreter einen anderen Standpunkt vertreten hätten, liege ein rechtserheblicher Dissens vor. Auch der Kompromißcharakter der Schlichtungsregelung dürfe nicht unberücksichtigt bleiben. Die ausgehandelte Regelung sei nämlich ein Ausgleich dafür, daß die Gewerkschaftsseite ihre ursprünglichen Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung und einer tariflichen Vorruhestandsregelung nicht habe durchsetzen können. Demgemäß hat die Klägerin beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin

250,04 DM brutto nebst 4 v.H. Zinsen aus

dem entsprechenden Nettobetrag seit dem

25. März 1986 zu zahlen.

Die Beklagte hat Klageabweisung beantragt und erwidert, für das Klagebegehren fehle es an einer Rechtsgrundlage. Der Inhalt des Schlichtungsspruches komme als solcher nicht in Betracht, denn er verlange eindeutig zur Entstehung der Klageforderung den Bestand des jeweiligen Arbeitsverhältnisses über das gesamte Kalenderjahr hin. Davon seien auch die Arbeitgebervertreter der Schlichtungsstelle ausgegangen, so daß tatsächlich bei einer gegenteiligen Vorstellung der Arbeitnehmervertreter ein Dissens vorliege. Jedenfalls rechtfertigten aber Wortlaut, Gesamtzusammenhang sowie der Sinn und Zweck der Schlichtungsregelung ihre Rechtsauffassung. Besonders deutlich ergebe sich das aus Absatz IV Nr. 5 des Schlichtungsspruches, wo in allgemeingültiger Weise auf das Urlaubsrecht zurückgegriffen werde.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen und die Berufung zugelassen. Das Landesarbeitsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. In seinem Tenor hat es die Revision zugelassen. Eine Begründung dafür hat das Landesarbeitsgericht nicht gegeben. Seine Rechtsmittelbelehrung steht im Widerspruch zu der ausgesprochenen Revisionszulassung und weist lediglich auf die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde hin.

Mit der Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter. Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist zulässig, aber nicht begründet.

Die Zulässigkeit der Revision, die vom Landesarbeitsgericht im Tenor des angefochtenen Urteils in Übereinstimmung mit § 72 Abs. 1 ArbGG ausgesprochen worden ist, wird nicht dadurch beeinträchtigt oder beseitigt, daß das Landesarbeitsgericht in seinem Urteil den Parteien eine Rechtsmittelbelehrung gegenteiligen Inhalts erteilt hat. Ob eine Revision wirksam zugelassen worden ist oder nicht, bestimmt sich nämlich allein nach der dafür maßgeblichen Vorschrift des § 72 Abs. 1 ArbGG und nicht etwa nach dem Inhalt der Rechtsmittelbelehrung. Demgemäß hat der erkennende Senat bereits in Übereinstimmung mit der früheren Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts und der Rechtslehre entschieden, daß - bei der umgekehrten Fallgestaltung - eine rechtsirrtümliche Rechtsmittelbelehrung des Inhalts, daß gegen das berufungsgerichtliche Urteil Revision beim Bundesarbeitsgericht eingelegt werden könne, die Zulässigkeit des Rechtsmittels für sich allein nicht begründen könne, wenn die Zulassung im Urteil selbst unterblieben ist (vgl. das Urteil des Senats vom 10. Dezember 1986 - 4 AZR 384/86 -, zur Veröffentlichung vorgesehen, im Anschluß an BAGE 1, 289, 291 = AP Nr. 3 zu § 64 ArbGG 1953, auch Grunsky, ArbGG, 5. Aufl., § 9 Rz 28; Dietz/Nikisch, ArbGG, § 64 Anm. 23 und Dersch/Volkmar, ArbGG, § 64 Anm. 25). Hieraus folgt aber zugleich, daß eine gesetzesgemäße Rechtsmittelzulassung durch eine ihr widersprechende Rechtsmittelbelehrung nicht beeinträchtigt oder beseitigt werden kann.

Die Revision ist jedoch nicht begründet. Zutreffend haben die Vorinstanzen erkannt, daß es für das Klagebegehren keine Rechtsgrundlage gibt.

Unbedenklich können auf tariflicher Basis tätig werdende Schlichtungsstellen - wie vorliegend - im Wege von Schlichtungssprüchen tarifliche Regelungen vereinbaren, wobei die Tarifwirkung durch Annahme des Schlichtungsspruches durch die Tarifvertragsparteien, aber auch aufgrund unmittelbarer Bindungswirkung zustandekommen kann, wenn das tariflich so vorgesehen ist. Daraus folgt zugleich, daß Regelungen im Rechtsbereich von § 1 Abs. 1 TVG umfassende Schlichtungssprüche wie der vorliegende insoweit wie sonstige tarifliche Bestimmungen normativ und zwingend gelten (vgl. Wiedemann/Stumpf, TVG, 5. Aufl., § 1 Rz 364 - 366; Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des Arbeitsrechts, 7. Aufl., Band II/1, § 16 III 1 b ß, S. 327 sowie Münchener Rechtslexikon (1987), Band 3, S. 256, auch BAGE 6, 321, 340 = AP Nr. 2 zu § 1 TVG Friedenspflicht). Dabei nimmt der Senat Bedacht darauf, daß beide Prozeßparteien den Organisationen angehören, die die Tarifverträge der Schuhindustrie abschließen. Das hat zur Folge, daß zwischen den Parteien diese Tarifverträge, aber auch der Schlichtungsspruch vom 14. Februar 1985 unmittelbar und zwingend gemäß § 3 Abs. 1, § 4 Abs. 1 Satz 1 TVG gelten.

Hat aber ein Rechte und Pflichten von Arbeitnehmern regelnder Schlichtungsspruch wie der vorliegend anzuwendende echten normativen Tarifcharakter, dann müssen auch für seine Auslegung die allgemeinen Grundsätze der Tarifauslegung herangezogen werden. Danach ist zunächst vom Wortlaut des Schlichtungsspruches auszugehen, jedoch über den reinen Wortlaut hinaus der wirkliche Wille der Angehörigen der Schlichtungsstelle und der damit von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Regelung mitzuberücksichtigen, sofern und soweit sie in der Regelung selbst ihren Niederschlag gefunden haben. Dazu ist auch auf den Gesamtzusammenhang des Schlichtungsspruches abzustellen, da sich - wie auch bei Tarifverträgen - häufig erst daraus der wirkliche Wille der Mitglieder der Schlichtungsstelle ergibt (vgl. BAGE 46, 308, 313 = AP Nr. 135 zu § 1 TVG Auslegung).

Wie beide Vorinstanzen mit Recht ausführen, gibt der Wortlaut des Schlichtungsspruches weder eine Grundlage noch auch nur einen Anhaltspunkt für die Rechtsauffassung der Klägerin. Wenn in Absatz IV Nr. 1 des Schlichtungsspruches bestimmt wird:

Diejenigen Mitarbeiter, die am 1. Januar eines

Kalenderjahres das 58. Lebensjahr vollendet haben,

erhalten ab 1. Januar 1986 je Kalenderjahr drei

bezahlte freie Tage,

dann kann daraus lediglich hergeleitet werden, daß diejenigen Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis sich über das ganze Kalenderjahr 1986 erstreckte, in den Genuß der vollen drei freien Tage haben gelangen sollen. Dafür spricht insbesondere, daß die Schlichtungsstelle diesen Anspruch ausdrücklich und insoweit auch deutlich "je Kalenderjahr" zuerkennen wollte. Welche Rechte dagegen solche Arbeitnehmer erwerben sollten, die im Jahre 1986 - wie die Klägerin - ausgeschieden sind, läßt sich dem Wortlaut des Absatzes IV Nr. 1 des Schiedsspruches nicht entnehmen.

Auch der in gleicher Weise und mit gleichem Gewicht zu berücksichtigende Gesamtzusammenhang des Schlichtungsspruches gibt insoweit keinerlei Anhaltspunkte, wie die Vorinstanzen ebenfalls zutreffend hervorgehoben haben. In Absatz IV Nr. 1 Satz 2 wird nämlich die Regelung des Satzes 1 lediglich auf die Mitarbeiter ausgedehnt, die seit dem 1. Januar 1986 dem betreffenden Betrieb angehören und bis 30. Juni 1986 das 58. Lebensjahr vollendet haben. Aus den Nrn. 2 bis 4 der Schlichtungsregelung ergeben sich schon deswegen keine Anhaltspunkte, weil darin (Nrn. 2 und 3) lediglich die Regelung der Nr. 1 modifiziert auf andere Arbeitnehmergruppen übertragen und außerdem (Nr. 4) Bestimmungen über die Modalitäten der faktischen Inanspruchnahme der freien Tage, d.h. ihrer zeitlichen Lage, getroffen werden.

Nichts anderes gilt auch für die Nr. 5 des Absatzes IV des Schlichtungsspruches, worauf sich beide Parteien jeweils zur Stützung ihrer Rechtsauffassung beziehen. Die Bestimmung besagt lediglich, daß für die Zeit der Freistellung der tarifliche Urlaubslohn gezahlt wird. Insoweit handelt es sich also um eine § 11 BUrlG vergleichbare Regelung. Irgendwelche Schlüsse für die Beantwortung der ganz anderen Frage, in welchem Umfang während des Kalenderjahres ausscheidende Arbeitnehmer wie die Klägerin an der Regelung des Schlichtungsspruches teilhaben sollen, lassen sich jedoch auch aus dieser Bestimmung nicht ziehen. Weil sich die Regelung eindeutig lediglich auf die Vergütungsfrage beschränkt, kann darin auch kein genereller Rückgriff auf das sonstige staatliche oder tarifliche Urlaubsrecht erblickt werden, wie es der Rechtsauffassung der Beklagten entspricht. Aber auch für die Auffassung der Klägern, die vollen drei freien Tage stünden dem Arbeitnehmer auch dann zu, wenn er irgendwann im Laufe des Jahres 1986 - und sei es auch schon zum Beginn dieses Jahres - ausgeschieden sei, kann aus der Norm nichts gewonnen werden.

Wenn schließlich der Schlichtungsspruch in Absatz IV Nr. 6 vorsieht, daß die freien Tage grundsätzlich nicht im Zusammenhang mit Erholungsurlaub gewährt werden sollen, so ist daraus zwar zu entnehmen, daß die in dem Schlichtungsspruch vorgesehenen freien Tage kein eigentlicher Urlaub im Sinne des Bundesurlaubsgesetzes und der tariflichen Urlaubsregelung in § 17 des Manteltarifvertrages für die Schuhindustrie vom 31. Oktober 1984 (MTV Schuhind) sein sollen. Aus dieser Regelung kann auch entnommen werden, daß die freien Tage als Ausgleich dafür gewährt werden sollen, daß die ursprünglich in die Tarifverhandlungen eingeführte Forderung nach Arbeitszeitverkürzung und einer tariflichen Vorruhestandsregelung nicht hat realisiert werden können, so daß man sich zum Ausgleich auf die vereinbarten freien Tage einigte, die in gewisser Weise auch eine Arbeitszeitverkürzung herbeiführen. Dagegen läßt entgegen der Meinung insbesondere der Klägerin auch diese Bestimmung des Schlichtungsspruches keine Rückschlüsse darauf zu, welche Ansprüche nach dem Willen der Mitglieder der Schlichtungsstelle solchen Angestellten zustehen sollten, die - wie die Klägerin - zwar am Anfang des Jahres 1986 bereits das 58. Lebensjahr vollendet hatten, jedoch im Laufe dieses Jahres aus ihrem Beschäftigungsbetrieb ausgeschieden sind.

Wenn im Hinblick auf diesen Personenkreis beide Parteien einen Dissens zwischen den Mitgliedern der Schlichtungsstelle auf der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite annehmen, so kann in der Tat nach dem Akteninhalt und insbesondere nach den Auskünften beider Tarifvertragsparteien nicht ausgeschlossen werden, daß die Arbeitnehmervertreter mit der Vorstellung abgeschlossen haben, Absatz IV Nr. 1 des Schlichtungsspruches solle unbeschränkt auch für im Kalenderjahr 1986 ohne Rücksicht auf den Zeitpunkt des Ausscheidens die Beschäftigungsbetriebe verlassende Arbeitnehmer gelten, und umgekehrt die Arbeitgebervertreter angenommen haben, der Anspruch auf die drei freien Tage solle nur zustehen, wenn das betreffende Arbeitsverhältnis das gesamte Kalenderjahr über bestanden habe. Aus einem derartigen Dissens der Vertreter von Arbeitnehmern und Arbeitgebern innerhalb der Schlichtungskommission kann indessen naturgemäß nichts für die vorliegend entscheidende Rechtsfrage der Behandlung im Kalenderjahr 1986 ausscheidender Arbeitnehmer gewonnen werden. Andererseits würde ein derartiger Dissens jedoch auch nicht zur Unwirksamkeit der gesamten Schlichtungsvereinbarung führen. Auch in diesem Zusammenhang muß vielmehr beachtet werden, daß ein Schlichtungsspruch wie der vorliegende, der Rechte und Pflichten von Arbeitnehmern und Arbeitgebern festlegt, tarifliche Wirkung und Normencharakter hat, so daß wie ein Dissens der Tarifvertragsparteien beim Tarifabschluß auch ein Dissens der Mitglieder einer Schlichtungsstelle bei der Abfassung eines Schlichtungsspruches die allgemeine Wirksamkeit des Schlichtungsspruches nicht beeinflußt (vgl. BAGE 42, 86, 93 = AP Nr. 128 zu § 1 TVG Auslegung sowie Hueck/Nipperdey, aaO, Band II/1, § 18 IV 3 h, S. 360 und Wiedemann/Stumpf, aaO, § 1 Rz 109). Damit gehen die Hinweise der Parteien auf die §§ 154, 155 BGB fehl.

Nach dem zuvor Ausgeführten besteht, wie schon das Arbeitsgericht zutreffend hervorgehoben hat, in dem Schlichtungsspruch bezüglich der Arbeitnehmer, die zwar das 58. Lebensjahr vollendet haben, jedoch nur während eines Teiles des Kalenderjahres 1986 in einem Arbeitsverhältnis zu einem tarifgebundenen Arbeitgeber gestanden haben, eine Regelungslücke. Dabei ist nicht eindeutig ersichtlich, ob es sich um eine bewußte oder unbewußte Lücke handelt, wobei aus den dargelegten Gründen wegen des tariflichen Charakters des Inhalts des Schlichtungsspruches auch insoweit dieselben Grundsätze wie bei bewußten bzw. unbewußten Tariflücken zu gelten haben.

Eine bewußte Tariflücke liegt vor, wenn die Tarifvertragsparteien eine regelungsbedürftige Frage bewußt ungeregelt lassen und das in einer entsprechenden Auslassung seinen Ausdruck findet (vgl. BAGE 46, 292, 298 = AP Nr. 93 zu §§ 22, 23 BAT 1975 mit weiteren Nachweisen). Für eine derartige bewußte Lücke im Schlichtungsspruch spricht vorliegend der Umstand, daß es darin an jeglichem Anhaltspunkt dafür fehlt, daß auch vorzeitig ausscheidende Arbeitnehmer an der vereinbarten Regelung teilhaben sollten. Dem braucht jedoch nicht weiter nachgegangen zu werden. Liegt nämlich eine derartige bewußte Regelungslücke vor, dann ist ihre Ausfüllung durch die staatlichen Gerichte für Arbeitssachen als Eingriff in die autonome Rechtssetzungsbefugnis der Tarifvertragsparteien unzulässig.

Nach den zu den Vorakten erteilten Auskünften des richterlichen Vorsitzenden der Schlichtungsstelle sowie beider Tarifvertragsparteien liegt indessen eine unbewußte Regelungslücke näher, denn darin wird mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck gebracht, daß man entweder an den Fall des vorzeitigen Ausscheidens von Arbeitnehmern - obwohl er auf der Hand liegt - bei der Abfassung des Schlichtungsspruches nicht gedacht oder aber eine besondere Regelung für diesen Fall nicht für erforderlich betrachtet hat. Dann aber hätten die Gerichte für Arbeitssachen grundsätzlich die Möglichkeit, eine derartige unbewußte Regelungslücke unter Rückgriff auf eine artverwandte und vergleichbare Regelung zu schließen (vgl. BAGE 48, 17, 22 = AP Nr. 99 zu §§ 22, 23 BAT 1975 und BAGE 47, 61, 68 = AP Nr. 95 zu §§ 22, 23 BAT 1975 mit weiteren Nachweisen auf die ständige Rechtsprechung des Senats).

Selbst wenn man aber vorliegend eine derartige unbewußte Regelungslücke annehmen wollte, erscheint es dem Senat aus tatsächlichen und rechtlichen Gründen der konkreten Fallgestaltung nicht möglich, diese in einer die Grenzen richterlicher Gestaltungsmöglichkeit nicht überschreitenden Weise auszufüllen. Es fehlt nämlich sowohl in dem Schlichtungsspruch selbst wie auch in dem MTV Schuhind jegliche artverwandte und vergleichbare Bestimmung, auf die zurückgegriffen werden könnte. Damit würde, wenn er die aufgezeigte Regelungslücke selbst schließen würde, der Senat an die Stelle der Tarifvertragsparteien bzw. der Schlichtungsstelle treten und damit unter Verstoß gegen Art. 9 Abs. 3 GG und die Grundsätze des TVG in die Tarifautonomie eingreifen.

Hinsichtlich der in dem betreffenden Kalenderjahr ausscheidenden Arbeitnehmer sind nämlich für die Gewährung freier Tage eine große und viele Gestaltungsmöglichkeiten umfassende Zahl von Regelungen denkbar: Denkbar wäre eine Wartezeit, wie sie etwa für den gesetzlichen Vollurlaub § 4 BUrlG und für die freien Tage der Angestellten des öffentlichen Dienstes § 15 a BAT vorsieht. Möglich wäre weiter eine Stichtagsregelung, die Gewährung von Teilansprüchen, wie sie nach näherer Maßgabe für den gesetzlichen § 5 BUrlG und für den tariflichen Urlaub § 17 MTV Schuhind vorsieht, die Möglichkeit der Abgeltung unter bestimmten Voraussetzungen sowie Modalitäten der Abrundung und Aufrundung, wie sie etwa in § 5 Abs. 2 BUrlG enthalten sind. Angesichts dieser vielfältigen Regelungsmöglichkeiten der Tarifvertragsparteien bzw. der Schlichtungsstelle fehlt es dem Senat an einer artverwandten und vergleichbaren Regelung, die ihn in den Stand setzen könnte, die Regelungslücke selbst auszufüllen. Ihre Ausfüllung ist und bleibt damit eine Angelegenheit der Tarifvertragsparteien. Der vielleicht besonders naheliegende Anspruch auf eine der erfüllten Arbeitszeit entsprechende Teilleistung wurde von der Beklagten erfüllt und ist nicht mehr im Streit.

Demgegenüber liefern weder die Revision noch die Revisionserwiderung Argumente, die eine andere Beurteilung rechtfertigen könnten.

Da die Beklagte der Klägerin - wenn auch ohne Anerkennung einer Rechtspflicht und freiwillig - für die beiden Beschäftigungsmonate Januar und Februar 1986 2/12 des Lohnes für drei Arbeitstage gezahlt hat und insoweit die Klägerin auch keine weiteren Forderungen geltend macht, ist vom Senat nicht darüber zu entscheiden, ob für diesen beschränkten Anspruchszeitraum noch weitere Ansprüche der Klägerin bestehen. Jedenfalls kann sie bei der vorliegenden Sachlage nicht die Abgeltung der vollen drei freien Tage verlangen.

Die Kosten ihrer erfolglosen Revision trägt die Klägerin nach § 97 Abs. 1 ZPO.

Dr. Neumann Dr. Freitag Dr. Feller

Dr. Konow Schmalz

 

Fundstellen

BAGE 57, 334-343 (LT1-4)

BAGE, 334

DB 1988, 1323-1324 (LT2-4)

DB 1988, 1325-1325 (LT1)

NZA 1988, 553-554 (LT1-4)

RdA 1988, 254

AP § 1 TVG, Nr 2

AR-Blattei, ES 1550.9 Nr 68 (LT2-4)

AR-Blattei, Tarifvertrag IX Entsch 68 (LT2-4)

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