Entscheidungsstichwort (Thema)

Tariflicher Nachtarbeitszuschlag

 

Leitsatz (redaktionell)

Die Auslegung der Zuschlagsregelungen des MTV für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Einzelhandel in Bayern vom 23.04.2001 in § 8 Ziff. 1c – Nachtarbeit – und § 8 Ziff. 1h – Wechselschichtarbeit – ergibt, dass beide Zuschläge gleichberechtigt nebeneinander bestehen.

 

Normenkette

BGB § 133

 

Verfahrensgang

LAG Nürnberg (Teilurteil vom 29.01.2003; Aktenzeichen 4 Sa 1050/01)

ArbG Bayreuth (Urteil vom 24.10.2001; Aktenzeichen 3 Ca 45/01 H)

 

Tenor

  • Auf die Revision des Klägers wird das Teilurteil des Landesarbeitsgerichts Nürnberg vom 29. Januar 2003 – 4 Sa 1050/01 – aufgehoben, soweit es die Klageabweisung hinsichtlich der Ansprüche für Juli 2000 bis Mai 2001 nebst Zinsen seit 16. Oktober 2001 bestätigt hat.
  • Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Bayreuth – Kammer Hof – vom 24. Oktober 2001 – 3 Ca 45/01 H – teilweise abgeändert und wie folgt gefaßt:

    • Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.746,85 Euro brutto nebst Zinsen in Höhe von 5 % Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit 16. Oktober 2001 zu zahlen.
    • Im übrigen wird die Klage abgewiesen.
    • Die Beklagte hat die Kosten I. Instanz zu 15/16, der Kläger hat sie zu 1/16 zu tragen.
  • Im übrigen wird die Revision zurückgewiesen.
  • Die Beklagte hat die Kosten der Revision zu 15/16, der Kläger hat sie zu 1/16 zu tragen.
 

Tatbestand

Die Parteien streiten über Ansprüche des Klägers auf Zahlung tariflicher Nachtarbeitszuschläge.

Der Kläger ist bei der Beklagten als Auslieferungsfahrer beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis finden auf Grund arbeitsvertraglicher Vereinbarung die tariflichen Regelungen des Einzelhandels in Bayern Anwendung. Die einschlägigen Bestimmungen des Manteltarifvertrages (MTV), gültig ab 1. Januar 2000, lauten:

“§ 7 Nacht-, Sonntags- und Feiertagsarbeit …

2. Nachtarbeit ist die Arbeit in der Zeit zwischen 20.00 Uhr und 6.00 Uhr.

3. Nachtarbeit gemäß Ziffer 2 sowie Arbeit an Sonn- und Feiertagen ist gemäß §§ 6 (Mehrarbeit) und 8 (Zuschlagsregelungen) abzugelten …

§ 8 Zuschlagsregelungen

1. Mehr-, Nacht-, Spätöffnungs-, Sonntags- und Feiertagsarbeit sowie Schichtarbeit ist mit folgenden Zuschlägen zu vergüten:

a)

Mehrarbeit

25%

b)

Mehrarbeit ab der 19. Arbeitsstunde im Monat

40%

c)

Nachtarbeit

50%

d)

Nachtarbeit, soweit es sich um Mehrarbeit handelt

60%

e)

Sonntagsarbeit

100%

f)

Sonntagsarbeit aufgrund der Ausnahmeregelungen gemäß § 14 Ladenschlussgesetz

150%

g)

Arbeit an gesetzlichen Wochenfeiertagen

150%

h)

Wechselschichtarbeit, bei der sich die Schichten turnusgemäß ablösen, soweit es sich um Nachtarbeit handelt, dies gilt nicht bei verkaufsbetonter Wechselschichtarbeit

15%

i)

Spätöffnungsbedingte Arbeit (im Sinne von § 8 Ziff. 2)

20%

2. Beschäftigte, die wegen veränderter Ladenschlusszeiten aus Anlass der Neufassung des Ladenschlussgesetzes vom 30.7.1996 in Verkaufsstellen an den Tagen Montag bis Freitag nach 18.30 Uhr – 20.00 Uhr und an Samstagen nach 14.00 Uhr bis 16.00 Uhr arbeiten (= spätöffnungsbedingt), erhalten für diese Zeiten einen Zuschlag von 20 %, der grundsätzlich in Form von Freizeit zu gewähren ist. Auf Wunsch des/der Beschäftigten kann der Zuschlag im Einvernehmen mit dem Arbeitgeber abgegolten werden.

5. Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge ist nur der jeweils höchste zu zahlen.

6. Für berufsübliche Nachtarbeit (z. B. Wächter/Wächterinnen) und Schichtarbeit in Versandbetrieben ist kein Zuschlag gemäß Ziffer 1 Buchstabe c) bis Buchstabe e) und Buchstabe g) zu zahlen.

§ 23 Verfallklausel

1. Der/die Beschäftigte ist zur sofortigen Nachprüfung des ausbezahlten Geldbetrages bzw. seiner/ihrer Entgeltabrechnung verpflichtet. Differenzen sind unverzüglich zu melden.

2. Ansprüche auf Bezahlung von Mehrarbeit, Nachtarbeit, Sonntags- und Feiertagsarbeit sowie Spätöffnungsarbeit erlöschen mit dem Ablauf von drei Monaten nach ihrer Entstehung, wenn sie nicht innerhalb dieser Frist geltend gemacht werden …

Vorstehende Fristen gelten als Ausschlußfristen.”

Vom 1. Juni 2000 bis 31. März 2001 waren die Fahrten der Auslieferungsfahrer so eingeteilt, daß sie in der Regel eine Woche nachts zwischen 1.00 Uhr und 6.00 Uhr und eine Woche tagsüber begannen. Seit dem 1. April 2001 richtete sich der Arbeitseinsatz nach der Betriebsvereinbarung vom 27. März 2001, wonach die Einteilung in drei Tourengruppen erfolgte. Der Arbeitsbeginn bei der Tourengruppe 1 lag dabei zwischen 2.00 Uhr und 5.00 Uhr, der Arbeitsbeginn der Tourengruppe 2 zwischen 8.30 Uhr und 12.00 Uhr und der Arbeitsbeginn in der Tourengruppe 3 zwischen 13.00 Uhr und 15.00 Uhr. Die Einteilung in die Tourengruppe erfolgte jeweils vier Wochen im voraus. Wann genau der tägliche Beginn der Tour lag, erfuhren die Arbeitnehmer jeweils am Vortag. Soweit der Kläger zur Nachtarbeit eingeteilt war, erhielt er einen Nachtarbeitszuschlag von 15 %.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, es liege mangels Regelmäßigkeit des Arbeitszeitbeginns und des Arbeitszeitendes keine Wechselschicht iSd. Tarifvertrages vor, so daß, wenn Nachtarbeit vorliege, nicht nur eine Zulage von 15 %, sondern eine Zulage von 50 % zu zahlen sei.

Der Kläger hat mit seiner Klage nach mehrfacher Klageerweiterung die Zahlung der Differenz für den Zeitraum Juni 2000 bis Mai 2001 begehrt und, soweit für die Entscheidung in der Revisionsinstanz noch von Bedeutung, beantragt:

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger DM 3.641,98 nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem jeweiligen gültigen Basisdiskont nach § 1 des DÜG hieraus seit 16. Oktober 2001 zu bezahlen.

Die Beklagte hat zu ihrem Klageabweisungsantrag die Ansicht vertreten, bei der Einteilung in die Tourengruppen handle es sich um eine Einteilung in Wechselschicht, weshalb nach dem Tarifvertrag nur der verminderte Nachtzuschlag für Nachtarbeit von 15 % zu zahlen sei. Die Einsätze des Klägers hätten sich wöchentlich regelmäßig abgelöst. Daß der genaue Beginn des Arbeitseinsatzes in einem bestimmten zeitlichen Rahmen geschwankt habe, ändere nichts daran, daß grundsätzlich Wechselschichtarbeit vorgelegen habe, bei der es nur den geringeren Nachtzuschlag gebe.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen. Das Landesarbeitsgericht hat durch Teilurteil die Berufung des Klägers insoweit zurückgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger seinen Antrag weiter und beruft sich dafür ua. auf § 8 Ziff. 5 MTV.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist überwiegend begründet. Für die geleistete Nachtarbeit hat er, soweit rechtzeitig geltend gemacht, Anspruch auf Zuschläge gem. § 8 Ziff. 1 Buchst. c MTV.

I. Das Landesarbeitsgericht hat angenommen, der Kläger sei im streitbefangenen Zeitraum in Wechselschichtarbeit eingesetzt gewesen, weshalb ihm für Nachtarbeit nur ein Zuschlag von 15 % zugestanden habe. Für die Erschwernis, die sich aus der flexiblen Arbeitseinteilung ergeben habe, hätten die Tarifvertragsparteien keine Zuschlagsregelung getroffen. Eine Umgehung tariflicher Vorschriften durch die Arbeitszeitgestaltung im konkreten Fall lasse sich nicht feststellen.

II. Dem folgt der Senat nicht. Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ergibt die Auslegung des MTV, daß die vom Kläger geleistete Nachtarbeit nicht nur mit einem Zuschlag von 15 %, sondern mit einem solchen von 50 % zu vergüten ist.

1. Es kann dahinstehen, ob die Arbeitsleistung des Klägers in den zwei bzw. ab 1. April 2001 drei Tourengruppen Wechselschichtarbeit iSv. § 8 Ziff. 1 Buchst. h MTV darstellt. Auch wenn man dies unterstellt, steht dem Kläger für Nachtarbeit grundsätzlich der Zuschlag von 50 % gem. § 8 Ziff. 1 Buchst. c MTV zu.

a) Die Auslegung des normativen Teils von Tarifverträgen folgt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Auszugehen ist vom Wortlaut. Zu erforschen ist der maßgebliche Sinn der Erklärung, ohne am Wortlaut zu haften (§ 133 BGB). Der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien und damit der von ihnen beabsichtigte Sinn und Zweck der Tarifnorm sind mit zu berücksichtigen, soweit sie in den tariflichen Normen ihren Niederschlag gefunden haben. Auch auf den tariflichen Gesamtzusammenhang ist abzustellen. Verbleiben noch Zweifel, können weitere Kriterien wie Tarifgeschichte, praktische Tarifübung und Entstehungsgeschichte des jeweiligen Tarifvertrages ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge berücksichtigt werden. Im Zweifel ist die Tarifauslegung zu wählen, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Lösung führt (BAG 31. Juli 2002 – 10 AZR 578/01 – AP TVG § 1 Tarifverträge: Wohnungswirtschaft Nr. 3 = EzA BGB § 611 Gratifikation, Prämie Nr. 167 mwN).

b) Danach ist der Vorschlag des Klägers, § 8 Ziff. 1 Buchst. h MTV als Regelung eines Wechselschichtzuschlags zu verstehen, der außerhalb der Nachtarbeit unter der Voraussetzung zu zahlen ist, daß nach dem Schichtplan überhaupt Nachtarbeit vorkommt, nicht tragfähig. Eine solche Auslegung würde die durch den Wortlaut der Tarifnorm (“…, soweit es sich um Nachtarbeit handelt, …”) gezogenen Grenzen sprengen.

c) Nach den genannten Grundsätzen ist anderseits entgegen der Ansicht der Beklagten nicht davon auszugehen, daß § 8 Ziff. 1 Buchst. h MTV gegenüber § 8 Ziff. 1 Buchst. c MTV die speziellere Norm ist. Eine so verstandene Tarifregelung wäre gem. Art. 3 Abs. 1 GG bedenklich, weil sich für die deutliche Benachteiligung der Arbeitnehmer, die neben der Erschwernis der (regelmäßigen oder auch nur gelegentlichen) Nachtarbeit zusätzlich der Erschwernis der Wechselschichtarbeit ausgesetzt sind, wohl kein sachlicher Grund finden ließe, zumal gem. § 8 Ziff. 1 Buchst. i iVm. Ziff. 2 MTV sogar für spätöffnungsbedingte Arbeit in der Zeit von 18.30 Uhr bis 20.00 Uhr bzw. an Samstagen von 14.00 Uhr bis 16.00 Uhr, gleichgültig ob sie in Wechselschicht geleistet wird oder nicht, ein höherer Zuschlag als nach § 8 Ziff. 1 Buchst. h MTV anfällt.

Diesen verfassungsrechtlichen Bedenken brauchte der Senat jedoch nicht nachzugehen, weil schon die Berücksichtigung des systematischen Zusammenhangs der genannten Tarifregelungen mit § 8 Ziff. 5 und Ziff. 6 MTV zu der Auslegung führt, daß hier die Zuschlagsregelung des § 8 Ziff. 1 Buchst. c MTV einschlägig ist. Aus § 8 Ziff. 6 MTV folgt nämlich, daß ua. für berufsübliche Nachtarbeit in Wechselschicht zwar kein Zuschlag gem. § 8 Ziff. 1 Buchst. c MTV, wohl aber ein solcher gem. § 8 Ziff. 1 Buchst. h MTV zu zahlen ist. Die nicht zu zahlenden Zuschläge sind in § 8 Ziff. 6 MTV enumerativ aufgezählt; Ziff. 1 Buchst. h findet im Gegensatz zu Ziff. 1 Buchst. c keine Erwähnung. § 8 Ziff. 6 MTV regelt also Fälle, in denen die Erschwernisse der Wechselschicht mit Nachtarbeit gerade wegen der Erschwernis der Wechselschicht mit einem Zuschlag ausgeglichen werden sollen, nicht dagegen die bloße Erschwernis der Nachtarbeit. Dies wäre unverständlich, wenn die Tarifvertragsparteien außerhalb berufsüblicher Nachtarbeit die nächtliche Arbeit in Wechselschicht als Erleichterung gegenüber der bloßen Nachtarbeit verstanden wissen und nur mit einem erheblich geringeren Zuschlag ausgleichen wollten. Folglich ist davon auszugehen, daß der Zuschlag gem. § 8 Ziff. 1 Buchst. h MTV grundsätzlich gleichberechtigt neben dem Zuschlag gem. § 8 Ziff. 1 Buchst. c MTV steht und letzteren nicht per se verdrängt.

Welcher Zuschlag beim Zusammentreffen beider Voraussetzungen zu zahlen ist, bestimmt § 8 Ziff. 5 MTV: “Beim Zusammentreffen mehrerer Zuschläge ist nur der jeweils höchste zu zahlen.” Wegen § 8 Ziff. 6 MTV bleibt für § 8 Ziff. 1 Buchst. h MTV neben § 8 Ziff. 1 Buchst. c MTV ein eigenständiger Anwendungsbereich, auch wenn man § 8 Ziff. 1 Buchst. h MTV nicht als lex specialis ansieht, sondern die nach dem Wortlaut eindeutig einschlägige allgemeine Kollisionsregel des § 8 Ziff. 5 MTV anwendet. Liegt kein Fall des § 8 Ziff. 6 MTV vor, hat der Arbeitgeber für in Wechselschicht geleistete Nachtarbeit den höheren Zuschlag gem. § 8 Ziff. 1 Buchst. c MTV zu zahlen.

2. Der Anspruch des Klägers auf die Zuschlagsdifferenz für Juni 2000 in Höhe von 115,26 Euro ist allerdings gem. § 23 Ziff. 2 MTV ausgeschlossen. Die Frist begann nicht erst ab Abrechnung, sondern bereits ab Entstehung der Ansprüche zu laufen. Die Entstehung eines Anspruchs ist einer der möglichen Anknüpfungspunkte (vgl. Schaub Arbeitsrechts-Handbuch 10. Aufl. § 205 Rn. 17). Der Kläger konnte seine Ansprüche auch ohne eine Abrechnung erkennen, berechnen und geltend machen (vgl. BAG 8. August 1985 – 2 AZR 459/84 – AP TVG § 4 Ausschlußfristen Nr. 94 = EzA TVG § 4 Ausschlußfristen Nr. 69, zu II 2e bb der Gründe).

3. Die Zinsansprüche ergeben sich aus §§ 291, 288 Abs. 1 Satz 2 BGB iVm. §§ 262, 253 ZPO.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 iVm. § 97 Abs. 1 ZPO.

 

Unterschriften

Dr. Freitag, Fischermeier, Marquardt, Ließ, Frese

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1542573

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