Entscheidungsstichwort (Thema)

Kündigung nach Einigungsvertrag. mangelnder Bedarf und Auswahlentscheidung

 

Leitsatz (redaktionell)

Parallelentscheidung zu 8 AZR 914/93 vom 19. Januar 1995, z.V.b.

 

Normenkette

Einigungsvertrag Art. 13; Einigungsvertrag Anl. I Kap. XIX Sachgeb. A Abschn. III Nr. 1 Abs. 4 Ziff. 2; KSchG §§ 1, 4 S. 1; BGB §§ 242, 315; GG Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1

 

Verfahrensgang

LAG Mecklenburg-Vorpommern (Urteil vom 21.09.1993; Aktenzeichen 5 Sa 330/93)

ArbG Schwerin (Urteil vom 15.03.1993; Aktenzeichen 3 Ca 3697/92)

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 21. September 1993 – 5 Sa 330/93 – wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat die Kosten der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer ordentlichen Kündigung, die der Beklagte auf Kapitel XIX Sachgebiet A Abschnitt III Nr. 1 Abs. 4 Ziff. 2 der Anlage I zum Einigungsvertrag (künftig: Abs. 4 Ziff. 2 EV) stützt.

Die im Jahre 1956 geborene Klägerin war seit dem 1. August 1976 im Schuldienst der ehemaligen DDR im Kreise H. als Grundschullehrerin tätig. Sie war zur Zeit der Kündigung geschieden und alleinerziehende Mutter zweier schulpflichtiger Kinder.

Der Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis der Klägerin mit Schreiben vom 25. Mai 1992 ordentlich zum 31. Juli 1992 wegen mangelnden Bedarfs.

Zum Zeitpunkt der Kündigung war absehbar, daß im Schulamtsbereich H. für das Schuljahr 1992/93 ein Stellenüberhang von 42 Grundschullehrern und an der Schule, an der die Klägerin zuletzt eingesetzt war, ein Stellenüberhang von 2 Grundschullehrern bestehen werde. Andererseits war im selben Schulamtsbereich die verheiratete und einem Kind unterhaltspflichtige Grundschullehrerin K. beschäftigt. Diese war nach einer Ausbildung zur Horterzieherin erst im Schuljahr 1990/91 in den Schuldienst eingetreten. Ihr ist nicht gekündigt worden.

Die Klägerin hat geltend gemacht, die Kündigung sei sozialwidrig und unwirksam. Ein mangelnder Bedarf sei nicht schlüssig dargelegt, weder die neuen Stundentafeln noch die genauen Schülerzahlen seien dem Schulpersonalrat bekannt gewesen. Der Beklagte habe Grundschullehrer weiterbeschäftigt, die sozial weniger schutzbedürftig gewesen seien, u.a. Frau K. Auch sei der Personalrat nicht ordnungsgemäß beteiligt worden.

Die Klägerin hat beantragt

  1. festzustellen, daß das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien durch die Kündigung des Beklagten vom 25. Mai 1992 zum 31. Juli 1992 nicht aufgelöst worden sei, sondern über diesen Zeitpunkt hinaus ungekündigt fortbestehe.
  2. den Beklagten zu verurteilen, die Klägerin zu den bisherigen Bedingungen als Lehrerin weiterzubeschäftigen.

Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat vorgetragen, die Kündigung sei sowohl als Bedarfskündigung nach den Regelungen des Einigungsvertrages als auch unter dem Gesichtspunkt dringender betrieblicher Erfordernisse nach § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG wirksam. Er habe die Zahl der landesweit tätigen Lehrer aufgrund eines Kabinettsbeschlusses vom 24. Oktober 1991 um 4.270 herabsetzen müssen. Eine Sozialauswahl entsprechend dem Kündigungsschutzgesetz komme für Bedarfskündigungen nach dem Einigungsvertrag nicht in Betracht. Sie sei gleichwohl vorsorglich nach den üblichen Kriterien vorgenommen worden. Der an sich zuständige Hauptpersonalrat sei zum Kündigungszeitpunkt noch nicht gebildet gewesen. Im Wege der vertrauensvollen Zusammenarbeit sei der Bezirkspersonalrat beteiligt worden.

Die Vorinstanzen haben der Klage stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision begehrt der Beklagte weiterhin die Abweisung der Klage.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist nicht begründet. Das Berufungsgericht hat die Unwirksamkeit der Kündigung vom 25. Mai 1992 mit im wesentlichen zutreffender Begründung richtig erkannt.

A. Das Landesarbeitsgericht hat im wesentlichen ausgeführt, die Einwände der Klägerin gegen die Bedarfsrechnung des Beklagten seien nicht stichhaltig. Einer weiteren Konkretisierung habe die Berechnung nicht bedurft. Da der Bedarf nicht gänzlich weggefallen sei, habe der Beklagte eine Auswahlentscheidung treffen und dabei die §§ 242, 315 Abs. 1 BGB beachten müssen. Da er für die Auswahl gerade der Klägerin keine dienstlichen Interessen geltend gemacht habe, hätte er die Auswahl an den gegenläufigen Interessen der potentiell von der Kündigung betroffenen Personen orientieren müssen. Die dabei anzustellenden Erwägungen seien im Prinzip dieselben wie bei der Sozialauswahl nach § 1 Abs. 3 KSchG. Gemessen daran habe die Auswahl zu Lasten der Klägerin keinen Bestand. Sie sei willkürlich und verletze damit § 242 BGB. Denn der Beklagte habe trotz Aufforderung durch die Klägerin nicht begründet, weshalb die Auswahl zu ihren Lasten getroffen worden sei. Zwar sei grundsätzlich der Arbeitnehmer für einen Verstoß gegen § 242 BGB darlegungs- und beweispflichtig. Da er aber nicht wissen könne, welche Gesichtspunkte für den Arbeitgeber im Rahmen der Auswahl maßgeblich gewesen seien, sei zunächst der Arbeitgeber verpflichtet, seine Entscheidung zu begründen. Darüber hinaus bestünden konkrete Anhaltspunkte dafür, daß die Auswahlentscheidung zu Lasten der Klägerin nicht sachlich begründet sei. Die eindeutig sozial weniger schutzbedürftige Frau K. sei im Dienst verblieben. Es sei nicht ersichtlich, wie diese Entscheidung im Verhältnis zur Klägerin gerechtfertigt werden könne.

B. Diese Ausführungen sind rechtsfehlerfrei.

I. Soweit die Klägerin die Feststellung des Fortbestands ihres Arbeitsverhältnisses über den 31. Juli 1992 hinaus beantragt, ist darin nach den Grundsätzen des Senatsurteils vom 16. März 1994 (– 8 AZR 97/93 – AP Nr. 29 zu § 4 KSchG 1969, auch zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung vorgesehen, zu III der Gründe) eine über den Streitgegenstand des § 4 Satz 1 KSchG hinausgehende Erweiterung nicht enthalten. Weder die Klagebegründung noch das sonstige Vorbringen der Parteien erörtert einen anderen denkbaren Beendigungstatbestand für das Arbeitsverhältnis als die Kündigung vom 25. Mai 1992.

II. Nach Abs. 4 Ziff. 2 EV ist die ordentliche Kündigung eines Arbeitsverhältnisses in der öffentlichen Verwaltung auch zulässig, wenn der Arbeitnehmer wegen mangelnden Bedarfs nicht mehr verwendbar ist. Diese Voraussetzungen liegen im Streitfalle nicht vor.

1. Die Klägerin war im Schuldienst der ehemaligen DDR und damit in der öffentlichen Verwaltung (Art. 13 Abs. 1 und 3 Nr. 1 EV) tätig.

2.a) Mangelnder Bedarf liegt vor, wenn im betreffenden Arbeitsbereich ein Überhang an Arbeitskräften besteht. Der nachvollziehbar prognostizierte Bedarf an bestimmten Arbeitnehmern ist der Anzahl der vorhandenen vergleichbaren Arbeitnehmer entgegenzustellen (vgl. im einzelnen Senatsurteil vom 19. Januar 1995 – 8 AZR 914/93 – zur Veröffentlichung vorgesehen, zu B II 1 der Gründe m.w.N.).

b) Der Beklagte hat vorgetragen, die Landesregierung habe beschlossen, die Zahl der Lehrkräfte für das Schuljahr 1992/93 landesweit von 24.560 auf 20.290 abzusenken, was durch den Gesetzgeber des Haushaltsplans rechtsverbindlich festgeschrieben worden sei. Damit wird ein mangelnder Bedarf nicht schlüssig dargelegt. Die Vorgabe des Haushaltsplans enthält keine sachlichen Kriterien, die die Umsetzung für einzelne Arbeitsverhältnisse ermöglichen (vgl. Senatsurteil vom 19. Januar 1995, a.a.O., zu C II 1 der Gründe m.w.N.).

Das Landesarbeitsgericht hat aber unangefochten festgestellt, im Schulamtsbereich habe ein Personalüberhang von 42 Grundschullehrern und an der Schule der Klägerin ein Überhang von 2 Grundschullehrern bestanden. An diese Feststellung ist der Senat gebunden (§ 561 Abs. 2 ZPO). Aus ihr folgt, daß der Kündigung der Klägerin ein mangelnder Bedarf zugrunde lag.

Das Landesarbeitsgericht hat zutreffend erkannt, daß die Einwände der Klägerin unerheblich sind. Einer besonderen Darlegung der inner- oder außerbetrieblichen Ursachen bedurfte es nicht. Für die Beurteilung ist die Situation im Schulamtsbereich maßgebend, weil der Beklagte in diesem Rahmen Bedarf oder Überhang an einzelnen Schulen durch Versetzungen ausgleichen kann und muß. Der Beklagte ist bei der Bedarfsberechnung zutreffend von den Erhebungen an den einzelnen Schulen im Schulamtsbereich ausgegangen. Er hat den gesamten Grundschullehrerbedarf nach der Zahl der Grundschulklassen, den Stundentafeln und der Pflichtstundenzahl der Grundschullehrer, vermindert um die sogenannten Abminderungsstunden, errechnet. Fehler sind nicht ersichtlich. Die Klägerin hat die Berechnungsgrundlagen nicht infrage gestellt. Ob sie dem Schulpersonalrat bekannt waren, ist für die Bedarfsbestimmung unerheblich. Wenn die Klägerin einen „hohen” Unterrichtsausfall in der Unterstufe geltend macht und daraus einen höheren Personalbedarf als errechnet ableitet, so greift auch dieser Einwand nicht durch. Der Arbeitgeber ist kündigungsschutzrechtlich grundsätzlich nicht gehalten, eine Personalreserve vorzuhalten (Senatsurteil vom 19. Januar 1995, a.a.O., zu C II 3 der Gründe m.w.N.).

3.a) Der Kündigungsgrund des Abs. 4 Ziff. 2 EV setzt weiter voraus, daß der Arbeitnehmer wegen des mangelnden Bedarfs nicht mehr verwendbar ist. Infolge des Überhangs an Arbeitskräften muß der Arbeitsbereich gerade des zu kündigenden Arbeitnehmers entfallen sein. Bei völlig fehlendem Bedarf an Unterricht (z.B. für das Fach Staatsbürgerkunde) ist jeder Lehrer insoweit nicht mehr verwendbar; es stellt sich lediglich noch die Frage einer anderweitigen Verwendbarkeit. Bei einem – wie hier – weiterhin bestehenden, aber wegen Personalüberhang mangelnden Bedarf ist nur ein Teil der zur Verfügung stehenden Lehrer nicht mehr verwendbar. Zur Beantwortung der Frage, welcher Lehrer konkret nicht mehr verwendbar ist, bedarf es einer Auswahlentscheidung des Arbeitgebers. Dieser darf nur den „überzähligen” Grundschullehrern kündigen, für die übrigen Grundschullehrer besteht weiterhin Verwendung (vgl. Senatsurteil vom 19. Januar 1995, a.a.O., zu B III 1 der Gründe).

b) Der Senat hat in dem schon mehrfach zitierten Urteil vom 19. Januar 1995 (a.a.O. zu B III 2 der Gründe) ausgeführt, daß die Auswahlentscheidung nicht etwa einem freien, der gerichtlichen Überprüfung entzogenen Ermessen des Arbeitgebers unterliegt. Das Kündigungsschutzgesetz und mit ihm die Verpflichtung zur sozialen Auswahl kann als Konkretisierung des § 242 BGB verstanden werden. Der Maßstab von Treu und Glauben bleibt bestehen, soweit es beim Kündigungsschutz an einer gesetzlichen Konkretisierung (wie durch § 1 Abs. 3 KSchG) fehlt. Der Arbeitgeber darf daher auch im Rahmen des Abs. 4 EV nicht willkürlich handeln oder besonders schutzwürdige Arbeitnehmer vorrangig entlassen. Er muß seine einseitige, einzelne Arbeitnehmer belastende Auswahlentscheidung nach vernünftigen, sachlichen Gesichtspunkten treffen und billiges Ermessen (§ 315 Abs. 1 BGB) wahren. Insbesondere darf er nicht nur eigene Belange berücksichtigen. Bei Anwendung der Generalklauseln der §§ 242, 315 BGB ist das Sozialstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG und der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG zur Geltung zu bringen. Auch der privatrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz kann bei dem Massentatbestand der Bedarfskündigung nicht außer acht bleiben. Der öffentliche Arbeitgeber hat bei der Auswahl deshalb auch die sozialen Gesichtspunkte ausreichend zu berücksichtigen. Dienstliche Gründe und soziale Belange des Arbeitnehmers sind gegeneinander abzuwägen. Dabei verbietet es die Bedeutung des Sozialstaatsprinzips, dienstlichen Auswahlbelangen des Arbeitgebers eine Vorrangtendenz einzuräumen. Fehlt es an der Darlegung konkreter dienstlicher Belange, so bleibt allein die Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten.

c) Der Beklagte hat dienstliche Auswahlbelange für die Auswahl gerade der Klägerin nicht geltend gemacht. Er hätte daher eine Auswahl nach sozialen Gesichtspunkten treffen müssen. Das ist nicht geschehen. Die Klägerin hat mehrere Grundschullehrer des Schulamtsbezirks H., u.a. Frau K., namentlich bezeichnet, die sozial weniger schutzwürdig gewesen seien als sie selbst, aber weiterbeschäftigt wurden. Sie hat sich insoweit auf eine fehlerhafte Auswahl zu ihren Lasten berufen. Der Beklagte hat den Sachvortrag der Klägerin nicht bestritten und lediglich geltend gemacht, es sei vorsorglich eine Sozialauswahl nach den üblichen Kriterien vorgenommen worden. Warum insbesondere die sozial eindeutig weniger schutzwürdige Frau K. der Klägerin vorgezogen worden ist, hat der Beklagte nicht begründet. Damit verstößt die Auswahl der Klägerin gegen Treu und Glauben. Die Klägerin war weiterhin verwendbar im Sinne von Abs. 4 Ziff. 2 EV.

III. Der Beklagte beruft sich zu Unrecht auf eine Rechtswirksamkeit der Kündigung nach § 1 KSchG wegen dringender betrieblicher Erfordernisse. Wird die Kündigung hierauf gestützt, findet auch § 1 Abs. 3 KSchG unmittelbar Anwendung. Da die Auswahlentscheidung schon im Rahmen von Abs. 4 Ziff. 2 EV wegen Nichtberücksichtigung der sozialen Gesichtspunkte fehlerhaft ist, ist die Kündigung auch nach § 1 Abs. 3 KSchG sozial ungerechtfertigt.

IV. Ist die Kündigung demnach aus materiellrechtlichen Gründen unwirksam, so kann die Frage der ordnungsgemäßen Beteiligung der Personalvertretung ebenso wie im angefochtenen Urteil dahingestellt bleiben.

V. Mit dieser Entscheidung über den Feststellungsantrag wird der Rechtsstreit rechtskräftig abgeschlossen. Über den bisher geltend gemachten Anspruch der Klägerin auf vorläufige Weiterbeschäftigung für die Dauer des Rechtsstreits ist daher nicht mehr zu befinden.

C. Der Beklagte hat gemäß § 97 Abs. 1 ZPO die Kosten seiner erfolglosen Revision zu tragen.

 

Unterschriften

Ascheid, Dr. Wittek, Mikosch, Rödder, Hickler

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1093350

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