Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitnehmerüberlassung. Jugendhilfe nach dem SGB VIII

 

Leitsatz (amtlich)

Die Durchführung der einem öffentlichen Träger obliegenden Jugendhilfemaßnahmen durch einen bei einem freien Träger angestellten Arbeitnehmer ist jedenfalls dann nicht an den Vorschriften des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes zu messen, wenn sich das Zusammenwirken beider Träger auf der Grundlage der Spezialregelungen des SGB VIII vollzieht.

 

Normenkette

SGB VIII § 2 Abs. 1 Nr. 4, §§ 3-4, 27 ff., § 79; AÜG Art. 1 § 1 Abs. 2

 

Verfahrensgang

LAG Bremen (Urteil vom 15.05.1996; Aktenzeichen 2 (3) Sa 415/94)

ArbG Bremerhaven (Urteil vom 28.09.1994; Aktenzeichen 2 Ca 138/94)

 

Tenor

  • Auf die Revision der beklagten Stadt wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Bremen vom 15. Mai 1996 – 2 (3) Sa 414 + 415/94 – aufgehoben.
  • Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Bremerhaven vom 28. September 1994 – 2 Ca 138/94 – wird zurückgewiesen.
  • Die Klägerin hat die Kosten der Berufung und der Revision zu tragen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob zwischen ihnen ein Arbeitsverhältnis aufgrund des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes zustandegekommen ist.

Die Klägerin war seit dem 8. Dezember 1986 aufgrund von insgesamt 12 befristeten Arbeitsverträgen als Familienhelferin bei der A… (im folgenden: A…) angestellt. Die befristeten Verträge bestanden zum Teil nebeneinander; die wöchentliche Arbeitszeit variierte zwischen 7 und 20 Stunden. Die Arbeitsverträge wurden für die Dauer der Durchführung einer vorher vom Jugendamt der beklagten Stadt bewilligten Maßnahme zur sozialpädagogischen Familienhilfe nach § 31 SGB VIII abgeschlossen. Die Klägerin wurde jeweils in einer bestimmten (sozial schwachen) Familie eingesetzt, die aufgrund unterschiedlicher erzieherischer Defizitsituationen von der Beklagten ambulante erzieherische Hilfe nach dem SGB VIII beanspruchen konnte.

Die Beklagte selbst beschäftigt keine Familienhelfer. Den Einsätzen der Klägerin bei der Beklagten liegt ein sog. “Kooperationskonzept” vom 21. Januar 1983 zugrunde, in dem sich die A… gegenüber der beklagten Stadt bereit erklärte, “die vom Jugendamt vorgeschlagenen Familienhelfer mit entsprechend befristeten Arbeitsverträgen – bezogen auf den jeweiligen Einzelfall unter Berücksichtigung einer vorzeitigen Auflösungsklausel, wenn die Maßnahme oder der Familienhelfer sich nicht eignen – zu beschäftigen”. Die A… erklärte sich ferner bereit, “durch eine Arbeitsanweisung für die betroffenen Familienhelfer sicher(zu)stellen, daß eine Weisungsgebundenheit gegenüber dem für die Maßnahme zuständigen Mitarbeiter des Jugendamtes besteht”. Für den tatsächlich geleisteten Einsatz des Familienhelfers berechnet die A… einen mit der beklagten Stadt ausgehandelten Stundensatz.

Die Klägerin hat die Auffassung vertreten, sie stehe in einem unbefristeten Arbeitsverhältnis zur Beklagten. Allen Beteiligten sei von Anfang an klar gewesen, daß sie nur für die Beklagte tätig werden solle, die mit der Beschäftigung von Familienhelfern der A… und anderer freier Träger einen Dauerbedarf an entsprechenden Arbeitskräften abdecke. Sie habe sich direkt bei der Beklagten auf eine Zeitungsanzeige des Jugendamtes hin beworben. Die A… habe den Arbeitsvertrag mit ihr gleichsam im Auftrag der Beklagten abgeschlossen und sei lediglich im Vertrag als Arbeitgeber erschienen. Alle Arbeitgeberfunktionen seien hingegen von der Beklagten ausgeübt worden, in deren Betrieb sie auch voll integriert gewesen sei. Die Beklagte habe ihr gegenüber das Direktionsrecht ausgeübt. Ein Sozialhelfer des Jugendamtes habe den zeitlichen und örtlichen Einsatz, die Art und Dauer der Tätigkeit sowie die Arbeitsabläufe bestimmt. Krankmeldungen seien an die Beklagte erfolgt, die auch über ihre Urlaubswünsche entschieden habe. Sie habe sich an einer Supervisionsgruppe beteiligen müssen sowie die Weisung und Genehmigung erhalten, zur optimalen Betreuung der betroffenen Familien ihr privates Telefon auch dienstlich zu benutzen. Nach den tatsächlichen Umständen liege daher eine unerlaubte Arbeitnehmerüberlassung vor.

Die Klägerin hat beantragt

festzustellen, daß zwischen den Parteien ein unbefristetes Arbeitsverhältnis besteht, in dem die Klägerin als sozialpädagogische Familienhelferin mit einer regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit von 30 Stunden beschäftigt wird.

Die beklagte Stadt hat beantragt, die Klage abzuweisen.

Das Arbeitsgericht hat die Klage abgewiesen, das Landesarbeitsgericht hat ihr stattgegeben. Mit der vom Landesarbeitsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter, während die Klägerin die Zurückweisung der Revision beantragt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Wiederherstellung des klageabweisenden Ersturteils. Das Landesarbeitsgericht hat zu Unrecht angenommen, die Klägerin stehe aufgrund des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes in einem Arbeitsverhältnis zur beklagten Stadt.

  • Das Landesarbeitsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im wesentlichen ausgeführt, die A… habe die Klägerin im Sinne des Art. 1 § 1 Abs. 2 AÜG der Beklagten zur Arbeitsleistung überlassen. Die Durchführung der Jugendhilfe sei eine originäre Aufgabe der Beklagten; innerhalb deren Organisation erbringe die Klägerin ihre Arbeitsleistung und sei daher in deren Betrieb eingegliedert. Da die Überlassungsdauer den in Art. 1 § 1 Abs. 2 AÜG bestimmten Zeitraum von neun Monaten überschritten habe, werde vermutet, daß der Überlassende Arbeitsvermittlung betreibe. Zwar sei diese Vermutung im Falle der hier vorliegenden nicht gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung widerlegbar; diese Widerlegung sei der Beklagten indessen nicht gelungen. Dies führe nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (vgl. zuletzt Senatsurteil vom 26. April 1995 – 7 AZR 850/94 – BAGE 80, 46 = AP Nr. 19 zu § 1 AÜG, m.w.N.) wegen § 13 AÜG zur Begründung eines Arbeitsverhältnisses zwischen dem entliehenen Arbeitnehmer und dem Entleiher.
  • Diese Würdigung hält einer revisionsrechtlichen Prüfung nicht stand. Entgegen der Auffassung des Landesarbeitsgerichts findet das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz auf den Streitfall keine Anwendung. Das Zusammenwirken von öffentlichen und freien Trägern der Jugendhilfe ist im SGB VIII spezialgesetzlich geregelt. Auf der Grundlage dieser Regelung vollzog sich im Entscheidungsfall die Zusammenarbeit zwischen der beklagten Stadt, der A… und den eingesetzten Familienhelfern.

    • Gemäß § 3 Abs. 1 SGB VIII ist die Jugendhilfe durch die Vielfalt von Trägern unterschiedlicher Wertorientierungen und die Vielfalt von Inhalten, Methoden und Arbeitsformen gekennzeichnet. Gemäß § 3 Abs. 2 SGB VIII werden die Leistungen der Jugendhilfe von freien und öffentlichen Trägern erbracht; zur Leistung verpflichtet sind nur die Träger der öffentlichen Jugendhilfe. Gemäß § 4 SGB VIII soll die öffentliche Jugendhilfe mit der freien Jugendhilfe zum Wohl junger Menschen und ihrer Familien partnerschaftlich zusammenarbeiten. Sie hat aber die Selbständigkeit der freien Jugendhilfe zu achten und von eigenen Maßnahmen abzusehen, soweit geeignete Einrichtungen, Dienste und Veranstaltungen von anerkannten Trägern der freien Jugendhilfe betrieben werden oder rechtzeitig geschaffen werden können; die öffentliche Jugendhilfe soll die freie Jugendhilfe im Rahmen des Gesetzes fördern und dabei die verschiedenen Formen der Selbsthilfe stärken. Nach § 79 Abs. 1 SGB VIII obliegt den Trägern der öffentlichen Jugendhilfe die Gesamtverantwortung für die Erfüllung der Aufgaben der Jugendhilfe.
    • Diese gesetzlichen Vorgaben für eine partnerschaftliche Zusammenarbeit zwischen öffentlicher und freier Jugendhilfe (vgl. dazu auch BVerfGE 22, 180) erlauben und erfordern es, daß der Träger der öffentlichen Jugendhilfe zur Erfüllung der ihm obliegenden Leistungsverpflichtung (hier der Hilfe zur Erziehung gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 4 in Verb. mit §§ 27 ff. SGB VIII) einen freien Träger einschaltet, der aufgrund einer besonderen Vereinbarung die Jugendhilfemaßnahme als eigene Aufgabe durchführt. Dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe verbleibt insoweit die Fachaufsicht. Die sich daraus ergebende Wahrnehmung einzelner Funktionen durch den öffentlichen Träger gegenüber den Familienhelfern, die regelmäßig einem Arbeitgeber, nicht aber einem Dritten zustehen, beruht damit auf der spezialgesetzlichen Regelung des SGB VIII. Sie ist nicht an den allgemeinen Vorschriften des AÜG zu messen.
    • Eine Anwendung des AÜG auf den Entscheidungsfall hätte allenfalls dann in Betracht kommen können, wenn es sich bei der Einschaltung der A… durch die beklagte Stadt nicht mehr um das im SGB VIII geregelte Zusammenwirken von öffentlichen und freien Trägern der Jugendhilfe handeln würde. Dies hätte insbesondere dann der Fall sein können, wenn die Beklagte über Maßnahmen der Fachaufsicht hinaus das alleinige Weisungsrecht ausgeübt, den Arbeitnehmer auch mit Arbeiten außerhalb der von seinem Vertragsarbeitgeber übernommenen Jugendhilfemaßnahme beauftragt und sich dieser auf eine Funktion als bloße Abrechnungsstelle zurückgezogen hätte. Hierfür liegen keine ausreichenden Anhaltspunkte vor.

      • Aufgrund seiner in § 79 SGB VIII bestimmten Gesamtverantwortung auch für die Leistungserbringung durch freie Träger der Jugendhilfe, muß der öffentliche Träger die laufende Tätigkeit des freien Trägers auf ihre Gesetzeskonformität hin überwachen (vgl. z.B. Hauck, SGB VIII, § 79 Rz 6). Es widerspricht daher nicht der Konzeption des SGB VIII, daß der öffentliche Träger zur Gewährleistung einer gesetzeskonformen Durchführung von Jugendhilfemaßnahmen durch einen freien Träger dessen Personal die dafür erforderlichen Weisungen erteilt. Daher durfte in dem sog. “Kooperationskonzept” vom 21. Januar 1983 vorgesehen und auch arbeitsvertraglich umgesetzt werden, daß der Arbeitnehmer verpflichtet ist, Weisungen dieses Inhalts durch den öffentlichen Träger zu beachten. Es ist nicht erkennbar, daß der beklagten Stadt weitergehende Weisungsrechte als dem SGB VIII zulässig eingeräumt worden wären.
      • Das Landesarbeitsgericht hat auch nicht festgestellt, daß die beklagte Stadt ein umfassendes Weisungsrecht tatsächlich ausgeübt hätte. Es hat vielmehr festgestellt, der Arbeitseinsatz der Klägerin werde nach Ort, Zeit und konkreter Aufgabenstellung durch den Bedarf bzw. die aktuellen Defizite der jeweils zu betreuenden Familie bestimmt. Es hat zwar weiter festgestellt, daß die Beklagte Arbeitsunfähigkeitsmeldungen entgegennimmt und Urlaub erteilt. Jedoch erkennt es selbst die sachliche Notwendigkeit, daß das Jugendamt zur organisatorischen Sicherstellung der Hilfe für die betroffene Familie von krankheitsbedingten Ausfallzeiten der Klägerin erfährt und daß die Urlaubswünsche der Klägerin mit dem Jugendamt abgestimmt werden.
      • Das Landesarbeitsgericht spricht zwar von einem “Bewußtsein des Jugendamtes”, autonom und selbständig die praktische Durchführung der Familienhelfertätigkeit bestimmen zu können. Auf dieses Bewußtsein schließt das Landesarbeitsgericht unter anderem aus der Zeitungsanzeige des Jugendamtes, auf die sich die Klägerin beworben hatte, und aus der Klägerin vom Jugendamt erteilten Zeugnissen. Abgesehen von der fehlenden rechtlichen Relevanz eines derartigen “Bewußtseins” kann indessen auch aus den angeführten Verhaltensweisen des Jugendamtes nicht auf die Inanspruchnahme eines umfassenden Weisungsrechts geschlossen werden. Es mag sein, daß Angehörige des Jugendamtes in Einzelfällen ihre Befugnisse nach dem SGB VIII überschritten haben. Ein solches Fehlverhalten müßte mit den Mitteln des SGB VIII korrigiert werden; es ergibt sich daraus aber nicht, daß sich die Zusammenarbeit zwischen der Beklagten und der A… nicht mehr auf der Grundlage des SGB VIII vollzogen hätte und damit am AÜG zu messen wäre.
  • Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO.
 

Unterschriften

Dörner, Steckhan, Schmidt, Dr. Koch, Seiler

 

Fundstellen

Haufe-Index 893923

BAGE, 113

NVwZ-RR 1998, 183

FA 1998, 94

NZA 1998, 480

RdA 1998, 58

PersR 1998, 1

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