Entscheidungsstichwort (Thema)

Verspätete Urteilsabsetzung

 

Normenkette

ZPO § 551 Nr. 7; VwGO § 138 Nr. 6; ArbGG § 45

 

Verfahrensgang

Hessisches LAG (Urteil vom 06.03.1992; Aktenzeichen 15 Sa 1233/91)

ArbG Wiesbaden (Urteil vom 03.07.1991; Aktenzeichen 6 Ca 3930/90)

 

Tenor

1. Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Frankfurt am Main vom 6. März 1992 – 15 Sa 1233/91 – aufgehoben.

2. Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob der Beklagte im Klagezeitraum einen Baubetrieb im Sinne der Sozialkassentarifverträge unterhalten hat und daher zur Auskunftserteilung an die Klägerin verpflichtet ist.

Die Klägerin, die Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes VVaG (ZVK), ist als gemeinsame Einrichtung der Tarifvertragsparteien des Baugewerbes nach näherer tariflicher Maßgabe die Einzugsstelle für die Beiträge zu den Sozialkassen des Baugewerbes. Sie nimmt den Beklagten auf Auskunft für den Zeitraum von Januar bis Oktober 1990 nach Maßgabe der Sozialkassentarifverträge des Baugewerbes über die Zahl der beschäftigten Arbeiter, deren Bruttolohnsumme und die entsprechende Höhe der abzuführenden Beiträge sowie für den Fall der Nichterfüllung auf Zahlung einer Entschädigung in Anspruch.

Der Beklagte verlegte im streitigen Zeitraum mit regelmäßig zehn Arbeitnehmern Fußböden, Treppenstufen, Fensterbänke und Terrazzoplatten vornehmlich in Supermärkten, Wohnhäusern und Bürogebäuden. Diese Arbeiten sind im Klagezeitraum arbeitszeitlich gesehen zu mehr als 50 % angefallen.

Nach dem allgemeinverbindlichen Tarifvertrag über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe sind alle baugewerblichen Arbeitgeber zur Auskunftserteilung verpflichtet (§ 27 VTV). Zum Geltungsbereich enthält § 1 des ab 1. Januar 1990 geltenden Tarifvertrages über das Sozialkassenverfahren im Baugewerbe (VTV) vom 12. November 1986 i.d.F. vom 6. Januar 1989 und 22. Dezember 1989 – soweit hier von Bedeutung – folgende Regelungen:

㤠1

Geltungsbereich

(1) Räumlicher Geltungsbereich: …

(2) Betrieblicher Geltungsbereich: Betriebe des Baugewerbes. Das sind alle Betriebe, die unter einen der nachfolgenden Abschnitte I bis IV fallen.

… Abschnitt V

Zu den in den Abschnitten I bis III genannten Betrieben gehören z.B. diejenigen, in denen Arbeiten der nachstehend aufgeführten Art ausgeführt werden:

14. Fliesen-, Platten- und Mosaik-Ansetz- und Verlegearbeiten;

Abschnitt VII

Nicht erfaßt werden Betriebe

5. der Naturstein- und Naturwerksteinindustrie, soweit nicht Arbeiten der in Abschnitt I bis

V aufgeführten Art ausgeführt werden, sowie des Steinmetzhandwerks,

…”

Die geänderte Fassung des VTV wurde auf den Antrag vom 22. Dezember 1989 am 6. Juni 1990 für allgemeinverbindlich erklärt; die Allgemeinverbindlicherklärung ist am 16. Juni 1990 im Bundesanzeiger Nr. 109 veröffentlicht worden.

In der bis zum 31. Dezember 1989 geltenden Fassung des VTV lautete Abschnitt VII Ziffer 5 wie folgt:

„Nicht erfaßt werden Betriebe

5. des Natur- und Kunststein be- und verarbeitenden Gewerbes und des Steinmetzhandwerks.”

Die ZVK ist der Auffassung, der Beklagte sei zur Auskunft verpflichtet, weil er ab 1. Januar 1990 unter den betrieblichen Geltungsbereich des VTV falle. Er führe Fliesen-, Platten- und Mosaik-Ansetz- und Verlegearbeiten im Sinne der Nr. 14 des Abschnitts V des § 1 Abs. 2 VTV aus. Sie hat dem Beklagten mit Schreiben vom 20. November 1990 folgendes mitgeteilt:

„Sehr geehrter Herr S,

für den Zeitraum 01.09.1982 bis 31.12.1989 unterliegen Sie nicht den baugewerblichen Tarifverträgen.

Mit Wirkung vom 01.01.1990 ist die Beitragspflicht jedoch gegeben, so daß wir Sie hiermit auffordern, Ihren tarifvertraglich vorgeschriebenen Verpflichtungen für die Zeit ab dem 01.01.1990 nachzukommen.

Als Anlage zu diesem Schreiben erhalten Sie die entsprechenden Meldevordrucke.”

Die ZVK hat beantragt, den Beklagten zu verurteilen,

  1. ihr auf dem vorgeschriebenen Formular Auskunft darüber zu erteilen, wie viele Arbeitnehmer, die eine nach den Vorschriften der Reichsversicherungsordnung der Arbeiter (RVO) versicherungspflichtige Tätigkeit ausübten, in den Monaten Januar bis Oktober 1990 in dem Betrieb des Beklagten beschäftigt wurden sowie in welcher Höhe die lohnsteuerpflichtige Bruttolohnsumme insgesamt für diese Arbeitnehmer und die Beiträge für die Sozialkassen der Bauwirtschaft in den genannten Monaten angefallen sind,
  2. für den Fall, daß diese Verpflichtung zur Auskunftserteilung innerhalb einer Frist von sechs Wochen nach Urteilszustellung nicht erfüllt wird, an sie folgende Entschädigung zu zahlen: DM 49.000,00.

Der Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Er hat vorgetragen, die rückwirkende Einbeziehung der Betriebe der Naturstein- und Naturwerksteinindustrie in den betrieblichen Geltungsbereich des VTV sei bedenklich. Die verfahrensrechtliche Ausgestaltung der Änderung des VTV verstoße gegen rechtsstaatliche Grundsätze.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung des Beklagten hat das Landesarbeitsgericht mit der am 6. März 1992 verkündeten Entscheidung die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen.

Mit Schreiben des Landesarbeitsgerichts vom 20. Oktober 1992 wurde dem Prozeßbevollmächtigten des Beklagten mitgeteilt, daß sich das abgesetzte Urteil in der hausinternen Bearbeitung befinde und davon ausgegangen werden könne, daß es in nächster Zeit nach Anbringung der Unterschriften der ehrenamtlichen Richter den Parteien zugehen werde. Das Urteil ist den Parteivertretern schließlich am 8. Februar 1993 zugestellt worden.

Die ZVK verfolgt mit ihrer Revision ihren Klageanspruch weiter und rügt insbesondere, das angefochtene Urteil stelle eine nicht mit Gründen versehene Entscheidung i.S. des § 551 Nr. 7 ZPO dar, da es erst mehr als sechs Monate nach der Verhandlung abgesetzt und damit entsprechend verspätet zugestellt worden sei.

Der Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist begründet.

Das angefochtene Urteil ist als nicht mit Gründen versehene Entscheidung anzusehen, so daß es nach § 551 Nr. 7 ZPO auf die entsprechende Rüge der ZVK ohne weitere Sachprüfung aufzuheben war.

Die Sache ist daher zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.

1. Die Revision ist nach §§ 550, 551 Nr. 7 ZPO begründet, weil das angefochtene Urteil wegen verspäteter Absetzung als nicht mit Gründen versehen zu betrachten ist.

a) Das Urteil ist am 6. März 1992 vom Landesarbeitsgericht verkündet worden. Aus dem Schreiben des Landesarbeitsgerichts vom 20. Oktober 1992 an die Prozeßbevollmächtigten des Beklagten folgt, daß es zu diesem Zeitpunkt – also mehr als sieben Monate nach seiner Verkündung – zwar abgesetzt, aber noch nicht von den ehrenamtlichen Richtern unterschrieben worden war. Daraus folgt, daß das angefochtene Urteil nicht innerhalb von fünf Monaten nach seiner Verkündung mit Tatbestand und Entscheidungsgründen von allen Richtern unterschrieben zur Geschäftsstelle des Landesarbeitsgerichts gelangt ist.

b) Der Gemeinsame Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes hat in seinem Beschluß vom 27. April 1993 (– GmS-OGB 1/92 – NJW 1993, 2603) entschieden, daß ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefaßtes Urteil im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO nicht mit Gründen versehen ist, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach der Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle des Gerichts übergeben worden sind. Der Gemeinsame Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes hat dies u.a. damit begründet, § 552 ZPO ordne aus Gründen der Rechtssicherheit an, daß „zur Vermeidung von Fehlerinnerungen” der an der Urteilsfällung beteiligten Richter das Urteil innerhalb von fünf Monaten nach der Verkündung in vollständig abgefaßter Form vorliegen müsse. Dies gelte für alle Gerichtsbarkeiten.

c) Der Senat hat sich dieser zu der mit § 551 Nr. 7 ZPO wortgleichen Bestimmung des § 138 Nr. 6 VwGO ergangenen Rechtsprechung in seiner Entscheidung vom 24. November 1993 (– 10 AZR 372/93 – n.v.) angeschlossen (so auch BAG Urteil vom 4. August 1993 – 4 AZR 501/92 –, zur Veröffentlichung vorgesehen; BAG Urteil vom 4. August 1993 – 4 AZR 500/92 – n.v.; BAG Urteil vom 6. Oktober 1993 – 5 AZR 289/91 – n.v.). Hiervon abzuweichen besteht kein Anlaß, da keine neuen, von dem Gemeinsamen Senat noch nicht berücksichtigte Gründe hierfür erkennbar sind. Insbesondere rechtfertigt der Inhalt des Schreibens des Landesarbeitsgerichts vom 20. Oktober 1992 keine andere Beurteilung. Aus diesem ergibt sich lediglich, daß das Urteil mehr als sieben Monate nach seiner Verkündung zwar abgesetzt, aber noch nicht von den ehrenamtlichen Richtern unterzeichnet war; die vom Gemeinsamen Senat der Obersten Gerichtshöfe des Bundes zur Begründung seiner Entscheidung herangezogene Möglichkeit von Fehlerinnerungen der an der Urteilsfällung beteiligten Richter ist daher auch im vorliegenden Fall gegeben.

2. Das Urteil des Landesarbeitsgerichts war daher gemäß §§ 550, 551 Nr. 7 ZPO auf die Rüge der ZVK ohne weiteres aufzuheben und die Sache nach § 565 Abs. 1 ZPO zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision – an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.

 

Unterschriften

Matthes, Böck, Hauck, Dr. Weidner, Hannig

 

Fundstellen

Dokument-Index HI916092

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