Entscheidungsstichwort (Thema)

Verspätet abgesetztes Urteil

 

Normenkette

ZPO § 551 Nr. 7; ArbGG § 69 Abs. 1 S. 2, § 60 Abs. 4 Sätze 3-4

 

Verfahrensgang

LAG Bremen (Urteil vom 13.11.1990; Aktenzeichen 1 Sa 220/86)

ArbG Bremen (Urteil vom 23.04.1986; Aktenzeichen 9 Ca 9408/85)

 

Tenor

1. Auf die Revisionen der Parteien wird das Urteil des Landesarbeitsgerichts Bremen vom 13. November 1990 – 1 Sa 220/86 – aufgehoben.

2. Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen; Gerichtskosten für die Revisionsinstanz werden nicht erhoben.

Von Rechts wegen!

 

Tatbestand

Die Parteien streiten darüber, ob der Kläger berechtigt ist, bei ambulant und stationär behandelten Patienten für Laborleistungen gegenüber Privatpatienten und selbstzahlenden Patienten zu liquidieren. Der Kläger ist seit dem 1. März 1972 als leitender Arzt der chirurgischen Abteilung des R.-Krankenhauses B. der Beklagten tätig. Der Dienstvertrag vom 10. April 1973 enthält u.a. folgende Regelungen:

„§ 5 Freiberufliche Tätigkeit (Nebentätigkeit)

(1) Herr Prof. Dr. H. hat das Recht der freiberuflichen Tätigkeit sowie als D-Arzt außerhalb und, falls es das Krankheitsbild als zweckdienlich bzw. erforderlich erscheinen läßt, auch innerhalb des Krankenhauses in Sprechstunden-Praxis und Konsiliar-Tätigkeit. Bei letzterer darf es sich nur um eine gelegentliche und nicht um eine gemäß Vereinbarung regelmäßig wiederkehrende ärztliche Tätigkeit handeln.

(2) Durch die freiberufliche Tätigkeit dürfen die Belange des K. nicht beeinträchtigt werden. Die Versorgung der stationären Kranken muß stets der Schwerpunkt der Tätigkeit des Herrn Prof. Dr. H. sein, und der allgemeine Dienstbetrieb des Krankenhauses darf durch die nichtstationäre Tätigkeit nicht leiden.

§ 6 Liquidationsrecht

(1) Herr Prof. Dr. H. hat das Recht der Liquidation in der Privatabteilung der 1., 2. und Separat-Klasse sowie bei Selbstzahlern der 3. Klasse. Entsprechendes gilt auch für seine Konsiliartätigkeit betreffend die Patienten der anderen Abteilungen des Krankenhauses.

(2) Bei der Rechnungserteilung an Selbstzahler der 3. Klasse ist auf deren wirtschaftliche Verhältnisse gebührend Rücksicht zu nehmen mit der Maßgabe, daß unter Berücksichtigung des gemeinnützigen Zweckes des K. von einer Rechnungserteilung abzusehen ist, wenn der Nachweis der Bedürftigkeit erbracht worden ist. Bedürftigkeit liegt u.a. dann vor, wenn das Krankenhaus auf den Ersatz von Nebenkosten bei Selbstzahlern der 3. Klasse verzichtet.

(3) Für stationäre und im Krankenhaus ambulant behandelte Selbstzahler, ebenso bei Benutzung von Einrichtungen und Beanspruchung von Hilfskräften des Krankenhauses (Gutachten, Sprechstunden-Patienten) ist hinsichtlich der Kostenanteile des K. und der Herrn Prof. Dr. H. verbleibenden Honoraranteile entsprechend den Grundsätzen des Senats vom 10. Februar 1959 über das Liquidationsrecht und die Nebentätigkeit der leitenden Ärzte der Städtischen Krankenanstalten etc. in der jeweils geltenden Fassung (zuletzt gemäß dem Änderungsbeschluß vom 17. Mai 1966) zu verfahren.

(4) Zur Ermittlung derjenigen Beträge, die nach Absatz (3) von Herrn Prof. Dr. H. abzuführen sind, hat dieser jeweils per Schluß eines Kalendervierteljahres der Verwaltung des K. durch einen zugelassenen und für ihn tätigen Angehörigen des steuerberatenden Berufes eine rechnerische Darstellung der Gesamtsumme seiner in den vergangenen drei Monaten eingegangenen Privat-Honorare unter Angabe der hieran beteiligten Patienten-Zahl zuzuleiten, und zwar unter Beifügung des Richtigkeitsvermerkes des betreffenden Angehörigen des steuerberatenden Berufes. Dieser ist ferner darüber zu informieren, daß ihm gegenüber in Bezug auf die jeweils von ihm abgegebenen rechnerischen Darstellungen ein Beauftragter des Vorstandes des K. und/oder des Senators für die Finanzen zwecks einer sich als notwendig erweisenden rechnerischen Überprüfung auskunftsberechtigt sind, soweit hierdurch die ärztliche Schweigepflicht des Herrn Prof. Dr. H. nicht berührt wird.”

Seit Beginn seiner Tätigkeit bei der Beklagten liquidierte der Kläger gegenüber privatversicherten und selbstzahlenden Patienten auch für von ihm veranlaßte Laborleistungen, ohne daß dies von der Beklagten beanstandet wurde. Da auch der Chefarzt der Inneren Klinik das Liquidationsrecht für Laborleistungen beanspruchte und ihm dies von der Beklagten mit Schreiben vom 23. Dezember 1983 bei ambulant behandelten Patienten zugestanden wurde, ergaben sich Doppelliquidationen. In einem Schriftwechsel zwischen den Chefärzten nahm jeder für sich das Recht auf Liquidation für Laborleistungen in Anspruch. Die Beklagte bestritt, daß dem Kläger ein Liquidationsrecht für Laborleistungen zustehe. Sie legte mit Schreiben vom 4. April 1985 fest, das Liquidationsrecht stehe ab 1. April 1985 widerruflich dem Chefarzt der Inneren Abteilung zu; dieser habe jedoch für Patienten der Abteilung des Klägers 50 % der streitigen Liquidationseinnahmen an den Kläger abzuführen. Der Kläger liquidierte jedoch in der Zeit ab 1. Januar 1985 weiterhin für Laborleistungen mit der Maßgabe, daß er 50 % der Honorare an den Chefarzt der Inneren Abteilung unter dem Vorbehalt der rechtskräftigen Entscheidung dieses Rechtsstreits abführte.

Im vorliegenden Verfahren hat der Kläger geltend gemacht, ihm stehe ein vertragliches Recht für die streitigen Liquidationen zu. Es sei im Jahre 1971/72 üblich gewesen, daß chirurgische Chefärzte Laborleistungen für stationär und ambulant behandelte Patienten ihrer Abteilung liquidierten. Von den Liquidationen hätten der Verwaltungsdirektor der Beklagten und das Vorstandsmitglied der Beklagten, der Chefarzt der Inneren Abteilung, gewußt. Die Beklagte habe auch durch Entgegennahme der Kostenanteile seine Verfahrensweise geduldet.

Der Kläger hat beantragt

festzustellen, daß er berechtigt ist, Laborleistungen im stationären und ambulanten Bereich bei privatversicherten und selbstzahlenden Patienten zu liquidieren.

Die Beklagte hat beantragt, die Klage abzuweisen. Sie hat geltend gemacht, dem Kläger sei bei den Vertragsverhandlungen ein Liquidationsrecht für Laborleistungen nicht eingeräumt worden. Von den gleichwohl erfolgten Liquidationen habe sie erst im Jahre 1984 erfahren. Aus den Quartalsabrechnungen des Klägers über dessen Privathonorare und über die abzuführenden Honoraranteile sei die Verfahrensweise des Klägers nicht ersichtlich gewesen.

Das Arbeitsgericht hat der Klage stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landesarbeitsgericht dem Kläger ein Liquidationsrecht für Laborleistungen nur im ambulanten Bereich zuerkannt.

Das am 13. November 1990 verkündete Urteil des Landesarbeitsgerichts wurde am 22. Mai 1991 von der Vorsitzenden unterschrieben der Geschäftsstelle zum Versand an die ehrenamtlichen Richter übergeben. Von diesen kam es am 28. Mai 1991 unterschrieben zurück und wurde alsdann an die Parteien zugestellt.

Gegen das Berufungsurteil haben beide Parteien Revision eingelegt. Der Kläger hat mit seiner Revision u.a. gerügt, wegen der verspäteten Absetzung sei das Urteil des Landesarbeitsgerichts als ein Urteil ohne Gründe im Sinne des § 551 Nr. 7 ZPO anzusehen.

 

Entscheidungsgründe

I. Die von dem Kläger auf § 551 Nr. 7 ZPO gestützte Rüge, das Urteil des Landesarbeitsgerichts sei als ein solches anzusehen, das nicht mit. Gründen versehen ist, ist begründet. Das Berufungsurteil war deshalb aufzuheben und die Sache an das Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.

1.a) Nach § 551 Nr. 7 ZPO ist eine Entscheidung stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen, wenn sie nicht mit Gründen versehen ist. In der Rechtsprechung aller Gerichtszweige ist dazu angenommen worden, die Voraussetzungen dieser Vorschrift seien auch dann erfüllt, wenn die Entscheidung erst so spät nach ihrer Verkündung mit schriftlichen Gründen versehen wird, daß Zweifel daran bestehen, ob die niedergelegten Gründe den für die Entscheidung maßgebend gewesenen entsprechen. Die Frage, wann hiervon ausgegangen werden kann, ist in den Gerichtsbarkeiten unterschiedlich beurteilt worden. Die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist dahin gegangen, ein Urteil sei erst dann als nicht mit Gründen versehen zu betrachten, wenn zwischen seiner Verkündung und der Zustellung ein Zeitraum von mehr als einem Jahr liegt. Bei einer kürzeren Zeitspanne müßten besondere Umstände hinzutreten, aus denen sich ergebe, daß die Entscheidungsgründe nicht das eigentliche Beratungsergebnis wiedergeben (vgl. zuletzt BAG Urteil vom 30. April 1992 – 2 AZR 548/91 –, mit weiteren Nachweisen).

b) Aufgrund einer Anrufung des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes durch den Großen Senat des Bundesverwaltungsgerichts hat der Gemeinsame Senat am 27. April 1993 beschlossen, daß ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefaßtes Urteil im Sinne des § 138 Nr. 6 VwGO nicht mit Gründen versehen ist, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind (ZIP 1993, 1341; NJW 1993, 2603). In den Gründen des Beschlusses ist ausgeführt, die Divergenz zwischen dem Vorlagebeschluß des Großen Senats des Bundesverwaltungsgerichts und den in ihm genannten Entscheidungen u.a. des Bundesarbeitsgerichts beträfen „dieselbe Rechtsfrage” im Sinne des § 2 Abs. 1 Rechtsprechungseinheitsgesetz, weil im wesentlichen gleiche Regelungen in unterschiedlichen Gesetzen auszulegen seien. Der Große Senat des Bundesverwaltungsgerichts habe seine Entscheidung auf § 108 Abs. 1 Satz 2, § 117 Abs. 4 und § 138 Nr. 6 VwGO gestützt.

Im wesentlichen gleichlautende Vorschriften enthalte u.a. das arbeitsgerichtliche Verfahren (§ 46 Abs. 2 Satz 1 und § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG in Verbindung mit §§ 495, 523, 286 Abs. 1 Satz 2 ZPO, §§ 60 Abs. 4 Satz 4, 69 ArbGG, § 551 Nr. 7 ZPO in Verbindung mit § 72 Abs. 5 ArbGG).

Der Gemeinsame Senat hat in Auseinandersetzung mit den in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen Auffassungen ausgeführt, weshalb der in den vorgenannten Verfahrensordnungen aufgestellten Forderung, daß bei einem Urteil, das bei Verkündung noch nicht vollständig abgefaßt war und das auch nicht vor Ablauf von drei bzw. vier Wochen (ArbGG § 69 Abs. 1 Satz 2, § 60 Abs. 4 Sätze 3 und 4) vollständig abgefaßt der Geschäftsstelle übergeben wurde, Tatbestand, Entscheidungsgründe und Rechtsmittelbelehrung alsbald nachträglich niederzulegen, von den Richtern besonders zu unterschreiben und der Geschäftsstelle zu übergeben sind, nur Rechnung getragen wird, wenn letzteres innerhalb von fünf Monaten nach der Verkündung geschieht. Die vom Gemeinsamen Senat vorgenommene Auslegung des Begriffs „alsbald” gilt nach den Ausführungen in den Gründen für alle Gerichtsbarkeiten.

c) An die Entscheidung des Gemeinsamen Senats der Obersten Gerichtshöfe ist der erkennende Senat zwar gemäß § 16 Rechtsprechungseinheitsgesetz nicht gebunden, da er nicht das „erkennende Gericht” im Sinne dieser Vorschrift ist. Er kann jedoch die Rechtsfrage nicht abweichend von der Entscheidung des Gemeinsamen Senats beurteilen, ohne diesen gemäß § 2 Abs. 1 Rechtsprechungseinheitsgesetz erneut anzurufen. Hierfür besteht jedoch kein Anlaß.

2. Die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts ist im Sinne der vorstehend wiedergegebenen Auffassung als eine nicht mit Gründen versehene Entscheidung zu werten. Das Landesarbeitsgericht hat sein Urteil am 13. November 1990 verkündet. Es lag zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollständig abgefaßt vor. Das Urteil ist am 28. Mai 1991 versehen mit der Unterschrift der Vorsitzenden und der ehrenamtlichen Richter an die Geschäftsstelle gelangt. Die Fünf-Monats-Frist für die Absetzung des Urteils war bereits am 12. April 1991 abgelaufen.

II. Da auf die Rüge des Klägers hin davon auszugehen ist, daß die Entscheidung des Landesarbeitsgerichts nicht mit Gründen versehen ist, fehlt es an einer Grundlage für die Beurteilung der Erfolgsaussichten für die von der Beklagten eingelegte Revision. Insoweit kann nicht unterstellt werden, daß das vorliegende zweitinstanzliche Urteil eine Entscheidungsgrundlage für die Revision bildet, obgleich die Beklagte selbst eine Rüge aus § 551 Nr. 7 ZPO nicht erhoben hat. Soweit das Landesarbeitsgericht der Klage stattgegeben hat und die Beklagte sich dagegen mit ihrer Revision wendet, muß daher das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache insgesamt an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen werden. Dies gilt vorliegend jedenfalls deshalb, weil sowohl für den Teil der Klage, der als unbegründet abgewiesen wurde, wie für den zusprechenden Teil des Urteils nach den Ausführungen in den Revisionsbegründungen u.a. die Auslegung derselben Bestimmungen des Anstellungsvertrages eine Rolle spielt.

III.1. Soweit der Kläger angeregt hat, die Sache an eine andere Kammer zu verweisen, genügen die von ihm in seiner Revisionsbegründung hierzu vorgetragenen Gründe nicht, um von der durch § 565 Abs. 1 Satz 2 ZPO eingeräumten Möglichkeit Gebrauch zu machen.

2. Im Hinblick darauf, daß die Revisionsinstanz für die Parteien wegen der verspäteten Absetzung des Urteils verlorengegangen ist, hat der Senat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, nach § 8 GKG die Gerichtskosten außer Ansatz zu lassen.

 

Unterschriften

Dr. Thomas, Dr. Gehring, Dr. Reinecke, Dr. Kukies, Anthes

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1065144

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