Konzept der 15-Minuten-Stadt: Taugt, taugt nicht ...
Die sogenannte 15-Minuten-Stadt, in der Alltagsziele wie Supermärkte, Kitas oder Hausärzte in maximal einer Viertelstunde zu Fuß oder mit dem Fahrrad erreichbar sind, ist in Deutschland deutlich verbreiteter als angenommen. Das zeigt eine Studie, die das Bundesinstitut für Stadt- und Raumforschung (BBSR) im Auftrag des Bundesministeriums für Wohnen, Stadtentwicklung und Bauwesen (BMWSB) herausgegeben hat.
"In Gemeinden, die kompakte Siedlungsstrukturen aufweisen, können wir gute Bedingungen für kurze Wege nachweisen – sowohl in Kleinstädten als auch in Mittelstädten und Großstädten", sagt Dr. Brigitte Adam, Projektleiterin im BBSR.
Kurze Wege in immer mehr Städten
Erfasst wurden insgesamt 24 typische Einrichtungen und Angebote des täglichen Lebens – darunter Supermärkte, Schulen, Arztpraxen, Spielplätze, Grünanlagen, Gastronomie, Schwimmbäder und Haltestellen des ÖPNV.
Im Ergebnis zeigt sich: Im Durchschnitt erreichen Menschen in Deutschland rund drei Viertel der Einrichtungen innerhalb von 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Fahrrad. In den am besten bewerteten Städten liegen die Ziele im Schnitt sogar nur sechs bis acht Minuten entfernt. "Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, dass nur Großstädte oder hippe Gründerzeitviertel kurze Wege ermöglichen", so Expertin Adam. Die Daten belegten, dass funktional durchmischte Quartiere mit kurzen Wegen auch in Großwohnsiedlungen oder Gartenstädten möglich seien.
Von Quartieren mit guter Nahversorgung profitieren den BBSR-Erkenntnissen zufolge Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft. Die Sorge, dass gute Erreichbarkeit automatisch zur Verdrängung einkommensschwächerer Haushalte führe, habe sich nicht bestätigt, erklärt Adam.
Auch Klimaschutz und Umwelt profitieren
Die 15-Minuten-Stadt sei mehr als ein planerisches Ideal. Sie biete konkrete Antworten auf aktuelle Herausforderungen der Stadtentwicklung: Nachbarschaften würden gestärkt, Quartiere lebendiger, die Lebensqualität vor allem der Städter besser, außerdem entlaste das Konzept der kurzen Wege die Umwelt und fördere den Klimaschutz.
"Wenn wir wollen, dass Menschen sich im Alltag häufiger zu Fuß oder mit dem Rad fortbewegen, müssen wir die Bedingungen dafür konsequent verbessern", betont die Forscherin. Die Studie soll dafür praxisnahe Empfehlungen bieten – ohne dass neue Gesetze und große Umbauprogramme nötig werden. Entscheidend ist den Autoren zufolge die Zusammenarbeit von Verkehrs- und Stadtplanung.
Zu den empfohlenen Maßnahmen zählen:
- Nachverdichtung und Nutzungsmischung in locker bebauten Wohngebieten fördern: etwa durch Umnutzung leerstehender Gebäude oder Mischnutzung von Flächen. Voraussetzung ist die lokale Nachfrage. Nebeneffekt: Je besser der Wert, desto höher ist das an diesen Orten anzutreffende Mietpreisniveau.
- Infrastruktur für aktive Mobilität verbessern: breitere Gehwege, sichere Radwege, weniger Barrieren, mehr Aufenthaltsqualität zu Lasten des individuellen Autoverkehrs, auch durch Neuaufteilung des Straßenraums.
- Kommunikation stärken, zuhören und situationsgerecht konzipieren: Bürger aktiv einbinden, Bedarfe vor Ort klären, gemeinsam Lösungen entwickeln und Ängsten entgegentreten, die 15-Minuten-Stadt würde Mobilitätsfreiheiten einschränken.
"Nicht jede Stadt braucht ein neues Leitbild", sagt Adam. "Aber die 15-Minuten-Stadt bietet einen klugen Orientierungsrahmen – und viele Maßnahmen lassen sich schon heute auf Basis geltenden Rechts umsetzen."
Kritik an der 15-Minuten-Stadt
Das Konzept ist nicht unumstritten. Die Studie befasst sich deshalb auch mit den wesentlichen Kritikpunkten. Die 15-Minuten-Stadt ist dabei nicht nur Gegenstand kritischer fachlicher Reflexionen von Seiten der Planungspraxis und Wissenschaft; das Leitbild ist auch zum Feindbild von Verschwörungsideologen geworden.
Die vier wesentlichen Kritikpunkte kurz zusammengefasst (in der Studie wird darauf wissenschaftlich reagiert):
- Im Zuge der Covid-19-Krise setzte eine Welle von Verschwörungserzählungen ein. Hier wird die 15-Minuten-Stadt als kommunistische oder elitäre Ideologie zur Einschränkung persönlicher Freiheiten und möglichen Klimalockdowns verunglimpft.
- Antistädtische und konservative Grundhaltung: In der Kritik aus dieser Gruppe liegt ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber staatlicher oder öffentlicher Planung, expertengesteuerter Top-down-Ansätze und städtisch orientierter Lebensstile vor. Die Maßnahmen der 15-Minuten-Stadt werden als Übergriffe der Behörden bewertet, die im Namen kollektiver Ziele individuelle Freiheiten verletzten
- Die Maßnahmen zur Förderung der Nähe, des Fuß- und Radverkehrs treffen auf Bevölkerungsschichten mit autoabhängigen Konsum- und Lebensstilen. (Befürchtete) Einschränkungen der motorisierten Mobilität führen zu erheblichen Widerständen.
- Bei der wissenschaftsbasierten Kritik wird angeführt, dass die 15-Minuten-Stadt Probleme der stadträumlichen Segregation befördere, bedingt durch Gentrifizierungsprozesse und einhergehender Vertreibung ärmerer Bevölkerungsgruppen mit geringeren Chancen auf den städtischen Wohnungsmärkten.
Zur BBSR-Studie "Die Stadt der Viertelstunde"
Das Beratungsinstitut S&W Stadt- und Regionalforschung, das Deutsche Institut für Urbanistik (Difu) und das Forschungsbüro Scheiner haben die Studie im Auftrag des BBSR bearbeitet. Analysiert wurden alle deutschen Kommunen nach einheitlichen Kriterien.
Grundlage der Berechnungen war die Gehgeschwindigkeit eines durchschnittlichen Erwachsenen. In einem speziellen Index wurden zudem unterschiedliche Gehgeschwindigkeiten, auch von Älteren oder Kindern berücksichtigt. Bei wenigen Zielen, die üblicherweise seltener aufgesucht werden und zumeist an wenigeren Standorten vorzufinden sind, wurde die durchschnittliche Geschwindigkeit mit dem Fahrrad angesetzt – etwa bei Schwimmbädern, Fachärzten oder Bibliotheken. So entstand ein präzises Bild der Naherreichbarkeit im Sinne der 15-Minuten-Stadt.
BBSR-Studie "Die Stadt der Viertelstunde" (Download)
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