Entscheidungsstichwort (Thema)

Verletzung eines unachtsam die Fahrbahn überquerenden Fußgängers. Unterlassene Vorsicht im räumlichen Schutzbereich einer Bushaltebucht § 20 Abs. 1 StVO. Schadensersatzanspruch § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 20 Abs. 1 StVO. Mitverschulden

 

Leitsatz (amtlich)

§ 20 Abs. 1 StVO ist ein Schutzgesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB für alle Fußgänger, die im räumlichen Bereich eines an einer Haltestelle haltenden Linienomnibusses, einer Straßenbahn oder eines gekennzeichneten Schulbusses unachtsam die Fahrbahn überqueren.

 

Normenkette

BGB § 823 Abs. 2; StVO § 20 Abs. 1

 

Verfahrensgang

OLG Hamburg (Urteil vom 11.02.2005; Aktenzeichen 14 U 195/03)

LG Hamburg (Entscheidung vom 19.09.2003; Aktenzeichen 331 O 152/03)

 

Tenor

Die Revision gegen das Urteil des 14. Zivilsenats des OLG Hamburg vom 11.2.2005 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.

Von Rechts wegen

 

Tatbestand

[1]Die Klägerin nimmt die Beklagten auf Schadensersatz aus Anlass eines Verkehrsunfalls in Anspruch, bei dem ihr Ehemann als Fußgänger tödlich verletzt wurde.

[2]Der Ehemann der Klägerin, Herr K., wollte am 17.2.2000 gegen 7.30 Uhr die W. Straße in H. an einer Stelle überqueren, an der sich auf der für ihn gegenüberliegenden Seite eine Bushaltebucht befand. Dort hielt zum Zeitpunkt des Unfallgeschehens ein Linienbus. Fahrgäste stiegen ein und aus. Herr K. betrat mit zügigem Laufschritt zunächst die stadteinwärts führende Busspur und sodann die stadteinwärts führende Fahrbahn, auf der sich Fahrzeuge stauten. Beim anschließenden Überqueren der Gegenfahrbahn wurde er von einem von dem Beklagten zu 1) geführten und bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Lkw erfasst und schwer verletzt. Er verstarb einige Tage später.

[3]Die Klägerin hat vorgetragen, ihr Ehemann sei auf dem Weg zur Arbeit gewesen und habe vermutlich den Bus erreichen wollen. Der Beklagte zu 1) hätte den Unfall vermeiden können, wenn er sofort gebremst hätte, als ihr Ehemann die Fahrbahn betrat.

[4]Die Klägerin hat aus eigenem und auf sie als Erbin ihres Ehemannes übergegangenem Recht Ersatz materiellen und immateriellen Schadens unter Berücksichtigung hälftigen Mitverschuldens begehrt. Das LG hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das OLG die Zahlungsanträge dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt, dem Feststellungsantrag stattgegeben und den Rechtsstreit hinsichtlich der Höhe der Zahlungsansprüche an das LG zurückverwiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgen die Beklagten ihr Klageabweisungsbegehren weiter.

 

Entscheidungsgründe

[5]I.

Das Berufungsgericht ist der Auffassung, der Beklagte zu 1) habe gegen § 20 Abs. 1 StVO verstoßen und dadurch den Unfall herbeigeführt. Der Ehemann der Klägerin habe die Fahrbahn in Höhe des vorderen Bereichs der Haltebucht und damit in einem von § 20 Abs. 1 StVO geschützten Bereich überquert. Der Schutzbereich dieser Norm käme ihm selbst dann zugute, wenn er nicht in den Bus habe einsteigen wollen. Ausreichend sei, dass er für andere Verkehrsteilnehmer den Eindruck erweckt habe, den Bus erreichen zu wollen. Dass dies nicht seine Absicht gewesen sei, hätten die Beklagten jedenfalls nicht bewiesen.

[6]Ein vorsichtiges Vorbeifahren i.S.v. § 20 Abs. 1 StVO erfordere eine Drosselung der Geschwindigkeit auf jedenfalls nicht deutlich mehr als 30 km/h. Der Ehemann der Klägerin habe das typische Bild eines unvorsichtigen, zu einem Bus eilenden Fußgängers abgegeben. Der Beklagte zu 1) hätte deshalb sofort bremsen müssen, als er ihn auf die Fahrbahn laufen sah. Tatsächlich habe er nur seine Ausgangsgeschwindigkeit von 48 km/h bis zum Beginn der Haltebucht auf etwa 33 km/h herabgesetzt, das abschließende Bremsmanöver aber erst eingeleitet, als der Ehemann der Klägerin sich schon in Höhe der Mittellinie befunden habe. Hätte er bereits auf das Betreten der Fahrbahn reagiert und sofort gebremst, wäre die Kollision vermieden worden.

[7]Den Ehemann der Klägerin treffe ein Mitverschulden, weil er grob leichtsinnig unter Verstoß gegen § 25 Abs. 3 StVO die Fahrbahn betreten und direkt vor den herannahenden Lkw gelaufen sei. Die Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge führe zu einer Haftungsquote von 50 %. Das hälftige Eigenverschulden des Ehemannes der Klägerin werde auch bei der Bemessung des Schmerzensgeldes zu berücksichtigen sein.

[8]II.

Diese Erwägungen halten den Angriffen der Revision stand.

[9]1. Die Revision ist insgesamt statthaft (§ 543 Abs. 1 Nr. 1 ZPO). Ihre Zulassung ist nicht auf die Auslegung des § 20 Abs. 1 StVO beschränkt. Allerdings hat das Berufungsgericht im Tenor der angefochtenen Entscheidung die Revision beschränkt auf die Auslegung dieser Vorschrift zugelassen. Diese Beschränkung ist jedoch unzulässig. Die Zulassung der Revision kann nach ständiger Rechtsprechung des BGH nur auf einen tatsächlich und rechtlich selbständigen Teil des Gesamtstreitstoffs beschränkt werden, der Gegenstand eines Teil- oder Zwischenurteils sein könnte oder auf den der Revisionskläger selbst seine Revision beschränken könnte. Unzulässig ist es, die Zulassung auf einzelne von mehreren Anspruchsgrundlagen oder auf bestimmte Rechtsfragen zu beschränken (BGH v. 3.6.1987 - IVa ZR 292/85, BGHZ 101, 276 [278] = MDR 1987, 917; Urt. v. 20.5.2003 - XI ZR 248/02, MDR 2003, 1190 = BGHReport 2003, 961 = VersR 2003, 1396 [1397]; Urt. v. 4.6.2003 - VIII ZR 91/02, BGHReport 2003, 1165 = MDR 2003, 1248 = NJW-RR 2003, 1192 [1193]; Urt. v. 5.11.2003 - VIII ZR 320/02, MDR 2004, 468 = BGHReport 2004, 262 = NJW-RR 2004, 426 [427]). Im Falle einer auf eine Rechtsfrage beschränkten Zulassung der Revision ist zwar stets zu prüfen, ob sie sich nicht in eine Zulassung für einen Teil des vom Berufungsurteil abgedeckten Streitgegenstandes umdeuten lässt. Ist diese Rechtsfrage nur für einen von mehreren entschiedenen Ansprüchen erheblich, dann liegt in einem solchen Ausspruch eine Beschränkung der Revision auf diesen Anspruch (BGHZ 48, 134 [136]; BGH v. 3.6.1987 - IVa ZR 292/85, BGHZ 101, 276 [278 f.] = MDR 1987, 917). Vorliegend betrifft die Auslegung des § 20 Abs. 1 StVO jedoch sämtliche mit der Klage geltend gemachten Ansprüche. Da sich die vom Berufungsgericht ausgesprochene Beschränkung der Revisionszulassung danach als unzulässig erweist, ist das angefochtene Urteil in vollem Umfang mit der Revision überprüfbar (BGH, Urt. v. 7.7.1983 - III ZR 119/82, MDR 1984, 207 = VersR 1984, 38, insoweit nicht in BGHZ 88, 85 abgedruckt; Urt. v. 20.5.2003 - XI ZR 248/02, MDR 2003, 1190 = BGHReport 2003, 961 = VersR 2003, 1396 [1397]).

[10]2. Entgegen der Auffassung der Revision durfte das Berufungsgericht über den geltend gemachten Schmerzensgeldanspruch durch Grundurteil entscheiden. Dem steht nicht entgegen, dass die Klägerin die Höhe dieses Anspruchs in das Ermessen des Gerichts stellt. Damit bleibt nur der Klageantrag, nicht aber der Anspruch selbst unbeziffert. Ein Grundurteil scheidet wesensmäßig aber nur bei einem solchen Anspruch aus, der der Höhe nach bis zum Ende des Rechtsstreits nicht summenmäßig zu bestimmen ist. Da es in einem solchen Fall an einem Betrag fehlt, über den Streit bestehen könnte, kommt eine Trennung in ein Grund- und ein Betragsverfahren nicht in Betracht (BGH v. 24.4.1996 - VIII ZR 114/95, BGHZ 132, 320 [327] = MDR 1996, 906; Urt. v. 12.6.1975 - III ZR 34/73, NJW 1975, 1968; Urt. v. 30.1.1987 - V ZR 7/86, NJW-RR 1987, 756; Urt. v. 30.11.1989 - IX ZR 249/88, MDR 1990, 539 = NJW 1990, 1366 [1367]; Urt. v. 19.2.1991 - X ZR 90/89, MDR 1991, 1202 = NJW 1991, 1896; Urt. v. 27.1.2000 - IX ZR 45/98, MDR 2000, 732 = VersR 2001, 638 [639]; Urt. v. 4.10.2000 - VIII ZR 109/99, MDR 2001, 105 = NJW 2001, 155 [156]). Bei einem der Höhe nach in das Ermessen des Gerichts gestellten Schmerzensgeldanspruch gehört indessen auch der Betrag des Anspruchs zum Streitgegenstand, denn insoweit kann nicht nur der Anspruchsgrund, sondern auch der zu beziffernde Betrag streitig sein. Deshalb darf über einen solchen Antrag grundsätzlich durch Grundurteil entschieden werden (BGH, Urt. v. 15.2.1966 - VI ZR 263/64, VersR 1966, 565 [567]; Urt. v. 9.11.1982 - VI ZR 23/81, MDR 1983, 300 = MedR 1983, 67; Urt. v. 5.12.2000 - VI ZR 275/99, BGHReport 2001, 96 = MDR 2001, 287 = VersR 2001, 610 [611]; Urt. v. 2.12.2003 - VI ZR 349/02, MDR 2004, 392 = BGHReport 2004, 371 m. Anm. Gaul/Otto = NJW 2004, 949; ebenso BGHSt 44, 202 [203]; BGHSt 47, 378 [379 f.]).

[11]3. Ohne Erfolg macht die Revision auch geltend, das Berufungsgericht hätte bereits in der Urteilsformel und nicht erst in den Entscheidungsgründen zum Ausdruck bringen müssen, dass die Zahlungsanträge nur unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens i.H.v. 50 % dem Grunde nach gerechtfertigt sind. Bei einem Grundurteil, das ein die Haftung beschränkendes Mitverschulden feststellt und damit bei einer weitergehenden Klageforderung diese bereits dem Grunde nach reduziert, ist es zweckmäßig, diese Haftungsbeschränkung auch in der Urteilsformel zum Ausdruck zu bringen, weil damit hervorgehoben werden kann, dass dem Klageantrag insoweit nicht in vollem Umfang gefolgt wird. Insoweit gelten dieselben Erwägungen wie in den Fällen, in denen die Entscheidung über die Haftungsbeschränkung wegen Mitverschuldens dem Betragsverfahren vorbehalten bleiben soll (BGH v. 24.3.1999 - VIII ZR 121/98, BGHZ 141, 129 [136] = MDR 1999, 1009; Urt. v. 31.1.1996 - VIII ZR 243/94, MDR 1996, 846 = NJW-RR 1996, 700 [701]). Für ein ordnungsgemäßes Grundurteil reicht es indessen aus, wenn sich die Haftungsbeschränkung wegen Mitverschuldens - ebenso wie ein diesbezüglicher Vorbehalt - erst aus den Entscheidungsgründen ergibt (BGH, Urt. v. 11.7.1974 - II ZR 31/73, VersR 1974, 1172 [1173]). Vorliegend bedurfte es zudem auch deshalb keiner Einschränkung im Urteilstenor, weil die Klägerin schon im Rahmen ihrer Antragstellung ein hälftiges Mitverschulden ihres Ehemannes berücksichtigt hatte und ihr Begehren von vornherein auch nur auf Ersatz des hälftigen Schadens gerichtet war.

[12]4. Die Revision hat auch in der Sache keinen Erfolg. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, der Beklagte zu 1) habe den Unfall durch einen schuldhaften Verstoß gegen § 20 Abs. 1 StVO herbeigeführt, ist auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen aus Rechtsgründen nicht zu beanstanden.

[13]a) § 20 Abs. 1 StVO gebietet, an Omnibussen des Linienverkehrs, die an Haltestellen halten, nur vorsichtig vorbeizufahren. Nach dem Sinn und Zweck dieser Vorschrift sollen Fußgänger, die die Fahrbahn überqueren, vor Kollisionen mit dem fließenden Verkehr bewahrt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, bedarf es in einer derartigen Verkehrssituation einer gemäßigten Geschwindigkeit sowie einer erhöhten Aufmerksamkeit gegenüber Fußgängern (OLG Karlsruhe NZV 1989, 393 f.; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., § 20 StVO Rz. 5; Jagow in Janiszewski/Jagow/Burmann, Straßenverkehrsrecht, 19. Aufl., § 20 StVO Rz. 3; HK-StVR/Jäger, § 20 StVO Rz. 14). Dabei muss der Fahrzeugführer nicht nur auf Fußgänger Acht geben, die von der Haltestelle aus hinter dem Omnibus hervortreten und die Fahrbahn überqueren könnten (OLG Köln v. 9.4.2002 - 3 U 166/01, NJW-RR 2003, 29 [30]; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., § 20 StVO Rz. 5; Jagow in Janiszewski/Jagow/Burmann, Straßenverkehrsrecht, 19. Aufl., § 20 StVO Rz. 3). Er muss auch auf Fußgänger achten, die in Richtung zur Haltestelle hin die Fahrbahn überqueren könnten. Die Erstreckung der Vorsichtspflicht durch die Dreizehnte Verordnung zur Änderung der Straßenverkehrsordnung vom 18.7.1995 (BGBl. I 1995, 935) auf den Gegenverkehr zeigt, dass diese Vorsicht auch dann zu wahren ist, wenn ein gewisser Abstand zum Verkehrsmittel und zu einem ersten Betreten der Fahrbahn durch Fußgänger besteht. Der Fahrzeugführer hat deshalb bei hinreichenden Anzeichen eines Fußgängers, die Fahrbahn überqueren zu wollen, seine Geschwindigkeit so stark zu reduzieren, dass die Gefahr einer Kollision weitestgehend vermieden wird. Demnach hat er bei solchen Anzeichen so rechtzeitig zu bremsen, dass er noch vor einem die Fahrbahn überquerenden Fußgänger anhalten kann, sofern dieser ihm nicht zu erkennen gibt, sein Vorbeifahren abwarten zu wollen. Auch wenn der Fußgänger gem. § 25 Abs. 3 StVO beim Überschreiten einer Fahrbahn den Fahrzeugverkehr zu beachten und diesem grundsätzlich den Vorrang einzuräumen hat (BGH, Urt. v. 27.6.2000 - VI ZR 126/99, MDR 2000, 1189 = VersR 2000, 1294 [1296]; v. 12.7.1983 - VI ZR 286/81, MDR 1984, 133 = VersR 1983, 1037 [1038]; v. 7.2.1967 - VI ZR 132/65, VersR 1967, 457 [458]; v. 14.6.1966 - VI ZR 279/64, VersR 1966, 877 [878]), kann der Fahrzeugverkehr beim Vorbeifahren an Haltestellen i.S.v. § 20 Abs. 1 StVO nicht darauf vertrauen, dass ihm dieser Vorrang auch tatsächlich gewährt wird.

[14]b) Diese Vorsicht hat der Fahrzeugführer bei jedem im räumlichen Schutzbereich der Haltestelle die Fahrbahn überquerenden Fußgänger zu beachten; dabei kommt es nicht darauf an, ob der Fußgänger tatsächlich in das öffentliche Verkehrsmittel einsteigen will oder aus diesem ausgestiegen ist. Vielmehr soll auch jeder andere Fußgänger im Haltestellenbereich vor der Gefahr einer Kollision mit dem fließenden Verkehr geschützt werden.

[15]aa) Der Wortlaut von § 20 Abs. 1 StVO unterscheidet nicht zwischen einsteigenden oder ausgestiegenen Fahrgästen einerseits und sonstigen Fußgängern andererseits. Für das Verhalten der vorbeifahrenden Fahrzeugführer ist eine solche Unterscheidung nach dem Sinn und Zweck der Vorschrift auch nicht geboten. Sie ist auch weder möglich noch zweckmäßig. Ein wirksamer Schutz der einsteigenden und ausgestiegenen Fahrgäste ist vielmehr nur dann zu erreichen, wenn es auf die Frage ihrer Fahrgasteigenschaft nicht ankommt. Andernfalls bestünde die Gefahr, dass ein Fahrzeugführer die erforderliche Vorsicht deshalb nicht walten lässt, weil er einen Fußgänger im Bereich der Haltestelle irrtümlich nicht für einen Fahrgast hält. Das Risiko einer solchen Fehleinschätzung würde der Zielrichtung der Vorschrift, Gefahren zu reduzieren, zuwider laufen. Deshalb schützt § 20 Abs. 1 StVO die Fahrbahn überquerende Fußgänger unabhängig davon, ob sie in den an der Haltestelle haltenden Linienomnibus, in die Straßenbahn oder in den Schulbus einsteigen wollen bzw. aus diesem ausgestiegen sind oder nicht (OLG Köln v. 9.4.2002 - 3 U 166/01, NJW-RR 2003, 29 [30]; a.A. OLG Celle ZfS 1988, 188 [189]; LG Potsdam SP 1998, 8; LG München I NZV 2000, 473 [474], mit zustimmender Anm. von Bouska; Hentschel, Straßenverkehrsrecht, 38. Aufl., § 20 StVO Rz. 6; Greger, Haftungsrecht des Straßenverkehrs, 3. Aufl., § 16 StVG Rz. 120; D. Müller, VD 2004, 181).

[16]bb) § 20 Abs. 1 StVO ist auch für Fußgänger, die in das Verkehrsmittel weder einsteigen wollen noch aus diesem ausgestiegen sind, ein Schutzgesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB.

[17](1) Eine Rechtsnorm ist ein Schutzgesetz i.S.d. § 823 Abs. 2 BGB, wenn sie zumindest auch dazu dienen soll, den Einzelnen oder einzelne Personenkreise gegen die Verletzung eines bestimmten Rechtsgutes zu schützen. Dafür kommt es nicht auf die Wirkung, sondern auf Inhalt, Zweck und Entstehungsgeschichte des Gesetzes an, also darauf, ob der Gesetzgeber bei Erlass des Gesetzes gerade einen Rechtsschutz, wie er wegen der behaupteten Verletzung in Anspruch genommen wird, zugunsten von Einzelpersonen oder bestimmten Personenkreisen gewollt oder doch mit gewollt hat. Es genügt, dass die Norm auch das in Frage stehende Interesse des Einzelnen schützen soll, mag sie auch in erster Linie das Interesse der Allgemeinheit im Auge haben. Andererseits soll der Anwendungsbereich von Schutzgesetzen nicht ausgeufert werden. Es reicht deshalb nicht aus, dass der Individualschutz durch Befolgung der Norm als ihr Reflex objektiv erreicht werden kann; er muss vielmehr im Aufgabenbereich der Norm liegen (st.Rspr.; BGH, Urt. v. 3.2.1987 - VI ZR 32/86, BGHZ 100, 13 [14 f.] = MDR 1987, 571; Urt. v. 2.2.1988 - VI ZR 133/87, BGHZ 103, 197 [199] = MDR 1988, 486; zuletzt Urt. v. 14.6.2005 - VI ZR 185/04, BGHReport 2005, 1322 = MDR 2005, 1409 = VersR 2005, 1449 [1450], m.w.N.; Urt. v. 21.10.1991 - II ZR 204/90, BGHZ 116, 7 [13] = MDR 1992, 350; v. 26.2.1993 - V ZR 74/92, BGHZ 122, 1 [3 f.] = MDR 1993, 540; RGRK/Steffen, BGB, 12. Aufl., § 823 Rz. 540 ff.). Für die Beurteilung, ob einer Vorschrift Schutzgesetzcharakter zukommt, ist in umfassender Würdigung des gesamten Regelungszusammenhangs, in den die Norm gestellt ist, auch zu prüfen, ob es in der Tendenz des Gesetzgebers liegen konnte, an die Verletzung des geschützten Interesses die Haftung gem. § 823 Abs. 2 BGB mit allen damit zugunsten des Geschädigten gegebenen Haftungs- und Beweiserleichterungen zu knüpfen (BGH, Urt. v. 29.6.1982 - VI ZR 33/81, BGHZ 84, 312 [314] = GmbHR 1982, 272 = MDR 1982, 920; Urt. v. 14.6.2005 - VI ZR 185/04, BGHReport 2005, 1322 = MDR 2005, 1409 = VersR 2005, 1449; RGRK/Steffen, BGB, 12. Aufl., § 823 Rz. 544).

[18](2) Hiernach ist zunächst zu berücksichtigen, dass die Straßenverkehrsordnung insb. die Sicherheit und Leichtigkeit des Straßenverkehrs gewährleisten soll. Sie dient damit als sachlich abgegrenztes Ordnungsrecht der Abwehr von typischen Gefahren, die vom Straßenverkehr ausgehen und die dem Straßenverkehr von außen oder durch Verkehrsteilnehmer erwachsen. Eine Reihe von Vorschriften der Straßenverkehrsordnung dient dabei dem Schutz von Individualinteressen, insb. der Gesundheit, der körperlichen Unversehrtheit und des Eigentums (BGH, Urt. v. 14.6.2005 - VI ZR 185/04, BGHReport 2005, 1322 = MDR 2005, 1409 = VersR 2005, 1449; Urt. v. 18.11.2003 - VI ZR 385/02, BGHReport 2004, 587 = MDR 2004, 274 = VersR 2004, 255 [256], jeweils m.w.N.; RGRK/Steffen, BGB, 12. Aufl., § 823 Rz. 541; Bamberger/Roth/Spindler, BGB, § 823 Rz. 192; Wussow/Kürschner, Unfallhaftpflichtrecht, 15. Aufl., Kap. 4, Rz. 14), und entspricht damit einem Gesamtanliegen dieser Verordnung, durch einzelne Ge- und Verbote abstrakten und konkreten Gefahren für Leib und Leben zu begegnen (vgl. Begründung zur StVO i.d.F. v. 16.11.1970, BR-Drucks. 420/70, 46).

[19](3) Zu diesen Vorschriften gehört auch das Gebot in § 20 Abs. 1 StVO, an haltenden Linienomnibussen, Straßenbahnen und gekennzeichneten Schulbussen nur vorsichtig vorbeizufahren. Die Einführung dieses Gebots, das zunächst nur für die links vorbeifahrenden Verkehrsteilnehmer galt (Verordnung über Maßnahmen im Straßenverkehr v. 27.11.1975, Art. 1 Nr. 12 lit. b, BGBl. I 1975, 2967 [2969]), sollte die Sicherheit beim Vorbeifahren an haltenden öffentlichen Verkehrsmitteln erhöhen (Begründung zur Verordnung über Maßnahmen im Straßenverkehr v. 27.11.1975, zu § 20 StVO, BR-Drucks. 503/75, 8), mithin Fußgänger in diesem Bereich vor Kollisionen mit dem fließenden Verkehr bewahren. Die Neufassung des § 20 StVO, mit der die Pflicht aus Abs. 1 auf den Gegenverkehr erstreckt wurde und weitere Gebote in den Abs. 2 bis 4 eingeführt bzw. neugefasst wurden, bezweckt, die Sicherheit im Straßenverkehr unter besonderer Hervorhebung des Schutzes von Kindern und älteren Menschen zu verbessern (BR-Drucks. 371/95, 4 f.).

[20]Mit dieser Zielrichtung mag der Verordnungsgeber ausgestiegene oder künftige Fahrgäste des haltenden Verkehrsmittels, insb. Kinder und ältere Menschen, in ihrer Gesamtheit möglicherweise als schutzbedürftiger angesehen haben als andere Fußgänger, weil bei ihnen die Wahrscheinlichkeit eines unachtsamen Verhaltens höher sein dürfte (BGHSt 13, 169 [175]; OLG Hamm NZV 1991, 467; OLG Köln v. 9.4.2002 - 3 U 166/01, NJW-RR 2003, 29 [30]). Indessen ist, wenn es beim Überqueren der Fahrbahn an der nötigen Aufmerksamkeit fehlt, ein anderer Fußgänger genauso schutzwürdig wie ein Fahrgast eines öffentlichen Verkehrsmittels.

[21]Zwar ist nicht zu verkennen, dass außerhalb des in § 20 Abs. 1 StVO bestimmten Bereichs die (geringere) Wahrscheinlichkeit für das unachtsame Verhalten eines die Fahrbahn überquerenden Fußgängers in Abwägung mit dem Interesse an der Leichtigkeit des Verkehrs dem Verordnungsgeber nicht ausreicht, um auch dort vom fließenden Verkehr generell eine über § 1 Abs. 1 StVO hinausgehende Vorsicht zu verlangen. Erst die besondere Gefährdung von Personen, die zu haltenden öffentlichen Verkehrsmitteln eilen oder aus diesen aussteigen, rechtfertigt es, von den Teilnehmern des vorbeifahrenden fließenden Verkehrs eine besondere Vorsicht zu verlangen. Die unterschiedlich große Wahrscheinlichkeit der Gefährdung kann indessen nicht dazu führen, denjenigen Fußgängern, die keine Fahrgäste sind, im Bereich von Haltestellen den Schutz des § 20 Abs. 1 StVO zu versagen.

[22]Anders als bei dem Gebot des § 3 Abs. 2a StVO, wonach gegenüber Kindern, Hilfsbedürftigen und älteren Menschen ein äußerstes Maß an Sorgfalt gefordert wird, wenn diese ins Blickfeld eines Fahrzeugführers geraten, und nur dieser Personenkreis sich auf den Schutz dieser Vorschrift berufen kann (BGH, Urt. v. 25.9.1990 - VI ZR 19/90, MDR 1991, 327 = VersR 1990, 1366 [1367]; OLG Hamm VRS 60, 38 [40] zu Schulkindern beim Schulbus [§ 20 Abs. 1a StVO a.F.]), muss der Fahrzeugführer die besondere Vorsicht des § 20 Abs. 1 StVO - wie oben aufgezeigt - objektiv gegenüber jedem Fußgänger im Haltestellenbereich beachten. Der Schutz aus § 20 Abs. 1 StVO ist deshalb nicht auf bestimmte Personengruppen beschränkt, sondern erstreckt sich unterschiedslos auf alle Fußgänger, bei denen in diesem räumlichen Bereich die erhöhte Gefahr eines unachtsamen Überquerens der Fahrbahn besteht (vgl. zur umfassenden Schutzwirkung eines Überholverbots: BGH, Urt. v. 27.2.1968 - VI ZR 173/66, VersR 1968, 578 [579]). Deshalb ist § 20 Abs. 1 StVO ein Schutzgesetz i.S.v. § 823 Abs. 2 BGB für alle Fußgänger, die im räumlichen Bereich eines an einer Haltestelle haltenden Linienomnibusses, einer Straßenbahn oder eines gekennzeichneten Schulbusses unachtsam die Fahrbahn überqueren.

[23]c) Im Einklang damit hat das Berufungsgericht zu Recht auf der Grundlage der von ihm getroffenen tatsächlichen Feststellungen - unter Berücksichtigung einer Anspruchskürzung wegen des Mitverschuldens des Ehemannes der Klägerin - eine Haftung der Beklagten dem Grunde nach bejaht.

[24]Die tatrichterlichen Feststellungen, wonach der Ehemann der Klägerin die Fahrbahn im räumlichen Schutzbereich des haltenden Linienomnibusses überquerte und der Beklagte zu 1) seine Geschwindigkeit zwar auf 33 km/h herabsenkte, eine Vollbremsung jedoch erst 8m vor der endgültigen Halteposition einleitete, werden von der Revision nicht angegriffen. Dasselbe gilt für die Feststellung, dass eine Kollision vermieden worden wäre, wenn der Beklagte zu 1) sich schon in dem Moment zum Abbremsen entschlossen hätte, als der Ehemann der Klägerin mit zügigem Laufschritt die Fahrbahn betrat. Die Beurteilung des Berufungsgerichts, dass er dazu verpflichtet gewesen wäre, um die nach § 20 Abs. 1 StVO gebotene Vorsicht walten zu lassen, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden. Dasselbe gilt für die Bewertung des Mitverschuldens des Getöteten und die Abwägung der beiderseitigen Verursachungs- und Verschuldensbeiträge.

[25]III.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1520973

NJW 2006, 2110

BGHR 2006, 965

EBE/BGH 2006, 190

ZAP 2006, 897

MDR 2006, 1222

NZV 2006, 465

VRS 2006, 117

VersR 2006, 944

ZfS 2006, 674

GV/RP 2007, 719

NJW-Spezial 2006, 306

RdW 2006, 447

SVR 2006, 380

SVR 2009, 19

VRA 2006, 114

VRR 2006, 303

ZGS 2006, 246

r+s 2006, 298

FuBW 2006, 810

FuBW 2007, 848

FuHe 2008, 68

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