Vertrauensgrundsatz bei Fahrbahnquerung eines Fußgängers

Der BGH hat die Reichweite des Vertrauensgrundsatzes für Kraftfahrer im Hinblick auf das verkehrsgerechte Verhalten von Fußgängern beim Überqueren der Fahrbahn konkretisiert.

In einem aktuellen Urteil hat sich der Bundesgerichtshof (BGH) mit der Frage befasst, inwieweit ein Autofahrer auf das verkehrsgerechte Verhalten eines die Fahrbahn überquerenden Fußgängers vertrauen darf.

Fußgänger beim Überqueren der Fahrbahn angefahren

Der dem Rechtsstreit zugrunde liegende Verkehrsunfall ereignete sich auf einer Brücke. Diese weist zwei durch eine Mittellinie getrennte Fahrstreifen und jeweils einen als Radweg markierten Randstreifen mit daran anschließendem Gehweg auf. Der Kläger benutzte aus Sicht des vom Beklagten zu 1 geführten Fahrzeugs den linken Gehweg, von dem aus er im Laufschritt die Fahrbahn überqueren wollte. Auf dem vom Beklagten benutzten Fahrstreifen kam es dann zur Kollision, bei der der Kläger erhebliche Verletzungen erlitt.

Instanzgerichte wiesen Schadenersatzklage ab

Der Kläger nahm den Fahrzeugführer und dessen Kfz-Haftpflichtversicherung unter Berücksichtigung eines Mitverschuldens auf Ersatz von 50 % der ihm entstandenen materiellen und immateriellen Schäden in Anspruch. Weder die Klage noch die Berufung gegen das klageabweisende Urteil des Landgerichts (LG) hatten Erfolg. Nach Auffassung der Instanzgerichte hat der Kläger beim Überqueren der Fahrbahn die ihm nach § 25 Abs. 3 StVO obliegenden Sorgfaltspflichten grob fahrlässig verletzt. Er habe die Fahrbahn überquert, ohne auf den bevorrechtigten Fahrzeugverkehr zu achten.

Grundsätzliche Haftung des Fahrzeughalters für Betriebsgefahr

In seiner Revisionsentscheidung stellte der BGH zunächst klar, dass der Fahrzeughalter grundsätzlich für die unfallbedingten materiellen und immateriellen Schäden des Klägers aufgrund der Betriebsgefahr des Fahrzeugs gemäß § 7 Abs. 1, § 18 Abs. 1, § 11 StVG, § 115 Abs. 1 VVG einzustehen habe. Den möglichen Gegenbeweis der Verursachung des Unfallereignisses durch höhere Gewalt gemäß § 7 Abs. 2 StVG habe er nicht geführt.

Abwägung der Schadensursachen erforderlich

Diese Haftung nach dem Grundsatz der Betriebsgefahr kann nach der Rechtsprechung des BGH entfallen, wenn ein grob verkehrswidriges Verhalten des Geschädigten als entscheidende Unfallursache festgestellt wird (BGH, Urteil v. 24. 9. 2013, VI ZR 255/12). Voraussetzung für eine solche Ausnahme ist nach der Entscheidung des BGH eine Abwägung der in Betracht kommenden Schadensursachen.

Fahrzeugführer muss auch Gegenfahrbahn beobachten

Die Erwägungen, mit denen das Berufungsgericht ein etwaiges Mitverschulden des Fahrzeugführers abgelehnt hatte, überzeugten den BGH nicht. Allein dadurch, dass der Fahrzeugführer das Fahrzeug mit einer den Verkehrs- und Sichtverhältnissen angepassten Geschwindigkeit bewegt habe, habe er die für ihn geltenden Sorgfaltspflichten noch nicht vollständig erfüllt. Zu den Sorgfaltspflichten gehöre auch, dass ein Fahrzeugführer die gesamte Fahrbahn, also auch die Gegenfahrbahn, ständig im Auge behalten müsse. Insoweit gelte jedoch der Vertrauensgrundsatz, dass ein sich verkehrsgerecht verhaltender Führer eines Kraftfahrzeugs nicht damit rechnen müsse, dass ein anderer Verkehrsteilnehmer den Verkehr durch verkehrswidriges Verhalten gefährde.

Grenzen des Vertrauensgrundsatzes

Dieser Vertrauensgrundsatz erfährt jedoch nach ständiger Rechtsprechung des BGH eine wesentliche Einschränkung dadurch, dass die Verkehrslage keinen Anlass zu einer anderen Beurteilung geben darf (BGH, Urteil vom 20.9.2011, VI ZR 282/10). Im konkreten Fall gaben die Umstände nach Einschätzung des BGH Anlass zu einer anderen Beurteilung. Nach dem eigenen Vortrag des beklagten Fahrzeugführers habe der Kläger die Fahrbahn im Laufschritt überquert, er sei regelrecht gerannt. Das hätte er besser nicht so gesagt. Denn nach Auffassung des BGH durfte der Beklagte - anders als bei einem normal gehenden Fußgänger - nicht darauf vertrauen, dass der Läufer bei Erreichen der Mittellinie stehen bleibt, seinen Lauf abrupt unterbricht und dem Fahrzeugverkehr den Vorrang einräumt.

Fahrzeugführer musste Fahrweise auf auffälligen Fußgänger einstellen

Entgegen der Auffassung der Vorinstanz habe eine Reaktionspflicht des beklagten Fahrzeugführers in dieser Fallkonstellation nicht erst ab dem Zeitpunkt bestanden, in dem der Kläger den Mittelstreifen überquert und die vom Beklagten benutzte Fahrbahn betreten habe. Der Beklagte habe sich vielmehr bereits ab dem Zeitpunkt, in dem er den Fußgänger im Laufschritt die Gegenfahrbahn überqueren sah, in seiner Fahrweise auf ein möglicherweise verkehrswidriges Verhalten des sich eilig fortbewegenden Fußgängers einstellen müssen.

Fußgängerverhalten gab Anlass zu besonderer Vorsicht

Der Senat ging im Ergebnis davon aus, dass der beklagte Fahrzeugführer bei ordnungsgemäßer Beobachtung der gesamten Fahrbahn den Kläger frühzeitig beim Betreten der Gegenfahrbahn hätte wahrnehmen und aufgrund des Laufschritts des Klägers damit rechnen müssen, dass dieser sich nicht verkehrsgerecht verhalten und die gesamte Fahrbahn rennend überqueren werde, ohne an der Mittellinie anzuhalten.

Vorinstanz muss erneut entscheiden

Nach der Entscheidung des BGH hatten die Vorinstanzen verkannt, dass die Fahrweise des beklagten Fahrzeugführers nicht den verkehrsrechtlichen Sorgfaltsanforderungen entsprach. Der BGH hob daher die Berufungsentscheidung der Vorinstanz auf und verwies den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung unter Beachtung der vom Senat aufgestellten Rechtsgrundsätze an die Vorinstanz zurück.

( BGH, Urteil v. 4.4.2023, VI ZR 11/21)