Kein Mitverschulden von überforderter 11-Jährigen an Autounfall

Autofahrer haben besondere Sorgfaltspflichten gegenüber Kindern. Eine Elfjährige, die in einer Überforderungssituation und aufgrund von Gruppendynamik reflexhaft falsch reagiert, trifft an einem Unfall beim Überqueren der Straße kein Verschulden: In der Nähe von Schulen, angesichts von Kindern auf der Straße, besteht die Pflicht zur Bremsbereitschaft.

Ein elfjähriges Mädchen war kurz vor acht Uhr morgens im Dezember in der Dunkelheit mit drei weiteren Kindern kurz vor Schulbeginn unterwegs. Die Gruppe überquerte innerorts in der Nähe von drei Schulen eine Straße.

Als Letzte der Kindergruppe vom beim Überqueren der Straße vom Auto erfasst

Das Mädchen, das als Letzte der Gruppe die Straße überquerte, wurde von einem Auto erfasst, das 55 km/h fuhr und damit die zulässige Höchstgeschwindigkeit um fünf km/h überschritt. Das Mädchen wurde schwer verletzt. Es erlitt unter anderem einen Beckenbruch und musste mehrere Tage in einem Krankenhaus behandelt werden.

Vor Gericht musste die Frage nach einem möglichen Mitverschulden des Mädchens geklärt werden. Das Landgericht Verden hatte bei der klagenden Elfjährigen ein Mitverschulden gesehen und ihre Schadenersatzansprüche um 25 Prozent gekürzt. Das OLG Celle sah dagegen kein Mitverschulden des Kindes und gab dessen Klage in vollem Umfang statt.

Autofahrer hatte auf der Fahrbahn grundsätzlich Vorrang

Zwar habe das Kind gegen § 25 Abs. 3 Satz 1 StVO verstoßen, weil das Fahrzeug der Beklagten auf der Fahrbahn grundsätzlich Vorrang genossen habe. Dieser Verstoß begründe aber aufgrund des Alters der Klägerin und der Gesamtsituation, in der sich das Mädchen befand, kein Verschulden.

Autofahrer müssen sich gemäß § 3 Abs. 2a StVO gegenüber Kindern, hilfsbedürftigen und älteren Menschen insbesondere durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft so verhalten, dass eine Gefährdung dieser Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen sei.

Pflichten aus § 3 Abs. 2a StVO

Dies besondere Sorgfaltspflichten gelten für Autofahrer gegenüber Kindern, hilfsbedürftigen und älteren Menschen:

  • eine erhöhte Aufmerksamkeit,
  • die Beobachtung auch angrenzender Straßenteile, insbesondere am Fahrbahnrand stehende Kinder,
  • eine vorsichtige Fahrweise und damit verbunden eine rechtzeitige erhebliche Verminderung der sonst zulässigen Geschwindigkeit, unter Umständen bis auf Schrittgeschwindigkeit,
  • sowie stete Bremsbereitschaft.

Diese besonderen Sorgfaltspflichten setzten allerdings voraus, dass das Kind nach dem äußeren Erscheinungsbild als solches erkennbar war. Vorliegend sei dies der Fall gewesen. Der beklagte Autofahrer hatte in einer Anhörung angegeben, die Kinder auf der Straße gesehen zu haben, aber nicht gewusst zu haben, was er machen solle.

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Sorgfaltspflichten bei Schulen in der Nähe, Dunkelheit und nasser Fahrbahn

Hier war der ortskundige Autofahrer seinen Sorgfaltsanforderungen aus § 3 Abs. 2a StVO nicht gerecht geworden, so das Gericht. Es war morgens kurz vor Schulbeginn, im Radius von etwa 500 Metern des Unfallortes befanden sich drei Schulen. Es war dunkel, die Witterung nass. Nach den Feststellungen des Sachverständigen habe der Autofahrer aus einer Distanz von 40 Metern zwei der die Straße überquerenden Kinder erkennen können, dabei sei eines der Kinder mit einer gelb reflektierenden Jacke bekleidet gewesen.

Autofahrer hätte notfalls anhalten müssen, um Gefährdung der Kinder auszuschließen

Der beklagte Autofahrer hätte bereits zu diesem Zeitpunkt damit rechnen müssen, dass sich noch weitere Kinder auf der Fahrbahn befanden. Er hätte dies zum Anlass nehmen müssen, sein Fahrverhalten sofort anzupassen und die Geschwindigkeit so deutlich zu reduzieren, dass eine Gefährdung der sich auch der Straße befindenden Kinder ausgeschlossen gewesen wäre. Notfalls hätte der Autofahrer sogar anhalten müssen, bis er eine Übersicht über die Situation gehabt hätte, so das Gericht.

Der Autofahrer hat zudem gegen § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO verstoßen, indem er die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten hatte. Laut Sachverständigem hätte der Unfall vermieden werden können, wenn der Beklagte nicht schneller als die zulässigen 50 km/h gefahren wäre.

Kein Mitverschulden der Elfjährigen – Einsichtsfähigkeit des Kindes entscheidend

Ein Mitverschulden der Elfjährigen gem. § 9 StVG, 254 Abs. 1 BGB sei nicht bewiesen. Grundsätzlich gilt: Jugendliche über 10 und unter 18 Jahren müssen sich nach §§ 828 Abs. 3, 254 Abs. 1 BGB eine Anspruchskürzung gefallen lassen, wenn sie ein Mitverschulden trifft, es sei denn, sie hatten bei der Begehung der schädigenden Handlung noch nicht die erforderliche Einsicht. Die fehlende Einsichtsfähigkeit muss das Kind bzw. der Jugendliche nachweisen.

Gruppendynamik muss bei Bewertung der Situation berücksichtigt werden

Die Gesamtsituation des Unfallhergangs begründet nach Ansicht des Gerichts kein Verschulden der Elfjährigen. Sie habe sich in einer Gruppe von Kindern bewegt und zwar das Fahrzeug kommen gesehen. Zu diesem Zeitpunkt habe sie sich aber bereits mit den anderen drei vorausgehenden Kindern auf der Fahrbahn befunden, mit denen sie als Gruppe zur Schule gehen wollte. Die hierbei zwangsläufig entstandene Gruppendynamik, nicht als einziges Kind aus der Gruppe zurückzubleiben, müsse bei der Bewertung der Gesamtsituation berücksichtigt werden. Ebenso die Schwierigkeit, in der Dunkelheit die Entfernung und die Geschwindigkeit eines Fahrzeugs richtig einzuschätzen.

Kind befand sich in einer Überforderungssituation

Das Kind habe sich in einer Überforderungssituation befunden, in der es reflexhaft die falsche Entscheidung getroffen habe, ihrer Gruppe hinterherzueilen, um gemeinsam zur Schule zu gehen. Es habe in einem Augenblicksversagen in der Dunkelheit die Entfernung und die Geschwindigkeit des herannahenden Fahrzeugs falsch eingeschätzt.

Diese Einschätzung, die durch die Dunkelheit zumindest erschwert wurde, könne bei einem elfjährigen Kind, das sich einem gruppendynamischen Verhalten ausgesetzt sah, kein Verschulden begründen, so das Gericht.

(OLG Celle, Urteil v. 19.05.2021, 14 U 129/20).

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(2a) Wer ein Fahrzeug führt, muss sich gegenüber Kindern, hilfsbedürftigen und älteren Menschen, insbesondere durch Verminderung der Fahrgeschwindigkeit und durch Bremsbereitschaft, so verhalten, dass eine Gefährdung dieser Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist.

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Hintergrund: Kinder und Jugendliche im Straßenverkehr

Bei Unfällen mit deliktsunfähigen Kindern (bis 10 Jahre, § 828 Abs. 2 BGB) trifft den Kfz-Halter grundsätzlich die volle Haftung, weil ein Haftungsausschluss wegen höherer Gewalt nach § 7 Abs. 2 StVG praktisch nicht denkbar ist und die Berufung auf ein unabwendbares Ereignis nach § 17 Abs. 3 und 4 StVG gegenüber Fußgängern generell nicht möglich ist. Eine Mithaftung des deliktsunfähigen Kindes kann allenfalls über § 829 BGB (Ersatzpflicht aus Billigkeitsgründen) in Betracht zu ziehen sein.Bei Unfällen mit deliktsfähigen Kindern und Jugendlichen ist zu beachten, dass den Kfz-Fahrer beim Auftauchen von Kindern in Fahrbahnnähe die erhöhte Sorgfaltspflicht des § 3 Abs. 2a StVO trifft (vgl. hierzu BGH, Urteil v. 19.04.1994,  VI ZR 219/93, NJW 1994, 2829). Dies hat zur Folge, dass bei Unfällen mit deliktsfähigen Kindern und Jugendlichen, denen ein Mitverschulden nach § 9 StVG i.V.m. § 254 BGB anzulasten ist, eine Schadensverteilung mit einer im Vergleich zu der Haftungsverteilung bei vergleichbaren Unfällen mit Erwachsenen etwas höheren Haftungsquote zu Lasten des Kfz-Halters in Betracht kommt (Grüneberg NJW 2013, 2705).Gleichwohl ist auch eine alleinige Haftung des deliktsfähigen Kindes möglich,  wenn ihm objektiv und subjektiv ein erhebliches Verschulden zur Last fällt, welches die Betriebsgefahr des Kraftfahrzeugs als völlig untergeordnet erscheinen lässt (BGH NZV 2007, 207). Aus: Deutsches Anwalt Office Premium

Schlagworte zum Thema:  Mitverschulden, Verkehrsunfall, Verkehrsrecht