Leitsatz (amtlich)

Zu der Frage, unter welchen Umständen das Verschulden eines bei dem Prozessbevollmächtigten einer Partei angestellten Rechtsanwalts an einer Fristversäumung dem Verschulden der Partei nach § 85 Abs. 2 ZPO gleichsteht.

 

Normenkette

ZPO § 85 Abs. 2, § 233

 

Verfahrensgang

OLG Rostock (Beschluss vom 20.05.2003)

LG Schwerin

 

Tenor

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss des 8. Zivilsenats des OLG Rostock v. 20.5.2003 wird auf Kosten des Beklagten als unzulässig verworfen.Gegenstandswert der Rechtsbeschwerde: 10.992,78 EUR

 

Gründe

I.

Der Beklagte ist durch Urteil des LG zur Herausgabe, Unterlassung und Zahlung verurteilt worden. Dagegen hat er durch seinen für die Berufungsinstanz beauftragten Rechtsanwalt rechtzeitig Berufung zum OLG einlegen lassen. Die fristgerechte Einreichung einer Berufungsbegründung unterblieb. Sie ist erst nach Ablauf der Berufungsbegründungsfrist verbunden mit einem Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen der Fristversäumung eingereicht worden. Der Beklagte hat geltend gemacht, die Frist sei versäumt worden, weil eine bei seinem zweitinstanzlichen Prozessbevollmächtigten angestellte Rechtsanwältin vergessen habe, die Frist einzutragen; das Verschulden der angestellten Rechtsanwältin sei ihm nicht zuzurechnen, weil sie nur als juristische Hilfskraft seines Bevollmächtigten gehandelt habe.

Das Berufungsgericht hat durch den angefochtenen Beschluss den Wiedereinsetzungsantrag zurückgewiesen und die Berufung als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Beklagten.

II.

Die Rechtsbeschwerde ist statthaft (§§ 574 Abs. 1 i. V. m. §§ 522 Abs. 1 S. 4, 238 Abs. 2 ZPO), aber unzulässig. Die Voraussetzungen des § 574 Abs. 2 ZPO sind nicht gegeben. Einen der in § 574 Abs. 2 ZPO genannten Zulässigkeitsgründe zeigt die Beschwerde nicht auf.

1. Als Zulässigkeitsgrund führt die Beschwerde lediglich auf, im vorliegenden Fall stelle sich die klärungsbedürftige grundsätzliche Frage, ob es ein Verschulden i. S. d. § 85 Abs. 2 ZPO darstelle, wenn ein Prozessbevollmächtigter einem als Hilfsarbeiter angestellten Rechtsanwalt die Eintragung von Rechtsmittelfristen überlasse, wenn diese Person nicht selbst für die Bearbeitung des Mandats die Verantwortung trage und das Büro so organisiert sei, dass der Prozessbevollmächtigte selbst auf der Urteilsausfertigung die Rechtsmittelfrist vermerke und erst dann den Vorgang an den Rechtsanwalt zwecks Notierung der Fristen im Fristenkalender weiterleite, was versehentlich unterbleibe.

Eine grundsätzliche Frage in dieser Form stellt sich nicht. Für die Entscheidung der Frage, ob dem Beklagten Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bewilligt werden kann, kommt es zunächst darauf an, ob das Verschulden der angestellten Rechtsanwältin gem. § 85 Abs. 2 ZPO dem Verschulden des Beklagten gleichsteht. Die Maßstäbe, nach denen diese Frage zu beantworten ist, sind nicht klärungsbedürftig. Sie sind in der Rechtsprechung des BGH bereits geklärt.

Danach ist als Bevollmächtigter einer Partei auch ein Rechtsanwalt anzusehen, der als Angestellter bzw. freier Mitarbeiter des Prozessbevollmächtigten von diesem mit der selbstständigen Bearbeitung eines Rechtsstreits betraut worden ist und der nicht als bloßer Hilfsarbeiter in untergeordneter Funktion tätig geworden ist (vgl. BGH, Urt. v. 28.5.1974 - VI ZR 145/73, VersR 1974, 1000; Beschl. v. 18.5.1982 - VI ZB 1/82, VersR 1982, 848; Beschl. v. 1.10.1981 - III ZB 18/81, VersR 1982, 71; Beschl. v. 4.2.1987 - IVb ZB 132/86, FamRZ 1987, 1017 f.; v. 1.4.1992 - XII ZB 21/92, NJW-RR 1992, 1019 [1020]; v. 30.3.1993 - X ZB 2/93, NJW-RR 1993, 892 [893]; v. 6.2.2001 - XI ZB 14/00, MDR 2001, 599 = BGHReport 2001, 343 = NJW 2001, 1575 f.; so auch BAG v. 21.1.1987 - 4 AZR 86/86, MDR 1987, 523 = NJW 1987, 1355; vgl. auch Zöller/Vollkommer, ZPO, 24. Aufl., § 85 Rz. 19 f. m. w. N.; Zöller/Greger, ZPO, 24. Aufl., § 233 Rz. 23 "Juristische Hilfskräfte"; BGH v. 5.11.1993 - V ZR 1/93, BGHZ 124, 47 [51 f.] = MDR 1994, 308). Wo die Grenze zwischen selbstständiger Bearbeitung des Rechtsstreits und lediglich untergeordneter Hilfstätigkeit zu ziehen ist, richtet sich nach den gesamten Umständen des Einzelfalls (BGH, Urt. v. 28.5.1974 - VI ZR 145/73, VersR 1974, 1000; Beschl. v. 1.10.1981 - III ZB 18/81; Beschl. v. 1.4.1992 - XII ZB 21/92; v. 30.3.1993 - X ZB 2/93, NJW-RR 1993, 892 [893]). Die Rechtsbeschwerde zeigt nicht auf, dass der Streitfall Anlass bieten könnte, insoweit grundsätzliche Fragen zu klären (§ 574 Abs. 2 Nr. 1 ZPO) oder das Recht fortzubilden (§ 574 Abs. 2 Nr. 2, 1. Alt. ZPO). Dafür ist auch nichts ersichtlich.

Die in der Beschwerdeschrift aufgeführte besondere Fragestellung bezeichnet keine eigenständige Fallgestaltung, wenn die Anwendung des § 85 Abs. 2 ZPO nach diesen Grundsätzen zu bejahen ist. Sofern der Rechtsanwalt, dem das Fristversehen unterlaufen ist, nach den vorgenannten Maßstäben als Bevollmächtigter i. S. d. § 85 Abs. 2 ZPO gehandelt hat, ist sein Verschulden dem Mandanten unabhängig davon zuzurechnen, ob eine Verschuldenszurechnung auch dann zu erfolgen hätte, wenn der gleiche Fehler einer Bürokraft oder sonstigen Hilfsperson unterlaufen wäre.

2. Der Beschwerdebegründung ist auch nicht zu entnehmen, dass die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts erfordert (§ 574 Abs. 2 Nr. 2, 2. Alt. ZPO).

Eine Divergenz (vgl. dazu etwa BGH v. 4.7.2002 - V ZB 16/02, BGHZ 151, 221 [225 f.] = BGHReport 2002, 948 = MDR 2002, 1207; Beschl. v. 13.5.2003 - VI ZB 76/02, MDR 2003, 1131 = FamRZ 2003, 1271) zeigt die Rechtsbeschwerde nicht auf. Das Berufungsgericht geht ersichtlich unter Berufung auf die einschlägige Kommentarliteratur von den oben dargestellten Rechtsprechungsgrundsätzen aus.

Eine Entscheidung des Rechtsbeschwerdegerichts ist zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung auch nicht deshalb erforderlich, weil im vorliegenden Fall Fehler bei der Auslegung oder Anwendung revisiblen Rechts über die Einzelfallentscheidung hinaus die Interessen der Allgemeinheit nachhaltig berühren (vgl. BGH v. 4.7.2002 - V ZB 16/02, BGHZ 151, 221 [226] = BGHReport 2002, 948 = MDR 2002, 1207; Beschl. v. 13.5.2003 - VI ZB 76/02, MDR 2003, 1131 = FamRZ 2003, 1271). Dies könnte insbesondere auch bei einer Verletzung von Verfahrensgrundrechten der Fall sein (vgl. z. B. BGH, Beschl. v. 27.3.2003 - V ZR 291/02, BGHReport 2003, 686 = MDR 2003, 822 = NJW 2003, 1943 [1946 f.], zu Art. 103 Abs. 1 GG; Beschl. v. 13.5.2003 - VI ZB 76/02, MDR 2003, 1131 = FamRZ 2003, 1271, zu Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip), die allerdings nach den Darlegungen des Beschwerdeführers im Einzelfall klar zutage treten, also offenkundig sein und auf der die angefochtene Entscheidung beruhen müsste (vgl. BGH v. 4.7.2002 - V ZB 16/02, BGHZ 151, 221 [227] = BGHReport 2002, 948 = MDR 2002, 1207; Beschl. v. 27.3.2003 - V ZR 291/02, BGHReport 2003, 686 = MDR 2003, 822 = NJW 2003, 1943 [1947]).

Für eine derartige Fallgestaltung ist der Beschwerdebegründung nichts zu entnehmen. Dass die Ausführungen des Berufungsgerichts den Beklagten "keinesfalls überzeugen", reicht nicht aus. Das Berufungsgericht entnimmt der Begründung des Wiedereinsetzungsantrags, dass die angestellte Rechtsanwältin nicht als bloße Hilfsarbeiterin in untergeordneter Funktion tätig geworden sei, weil sie die - vom Prozessbevollmächtigten dann nur noch zu unterschreibende - Berufungsbegründungsschrift selbstständig habe fertigen sollen und ihr im Übrigen die Bearbeitung der Fristenfragen hinsichtlich der Berufungsbegründungsfrist zur selbstständigen, unkontrollierten Erledigung übertragen worden sei. Diese Wertung des Tatrichters ist möglich und wird in der Beschwerdebegründung nicht mit im Rechtsbeschwerdeverfahren durchgreifenden Argumenten infrage gestellt.

Soweit die Beschwerde geltend macht, das Berufungsgericht habe Vortrag des Beklagten übergangen oder nicht ausgeschöpft, kann dem nicht gefolgt werden. Insbesondere rechtfertigt es keine andere Beurteilung, dass in der eidesstattlichen Versicherung der Rechtsanwältin (nur) von einer "Vorbereitung" der Berufungsbegründung die Rede ist. Denn in der Begründung des Wiedereinsetzungsgesuchs heißt es, die Rechtsanwältin habe die Berufungsbegründung "im Rahmen der Arbeitsteilung" "eigenständig" vorbereiten und diese habe dann vom Prozessbevollmächtigten "unterschrieben" werden sollen. Für eine beabsichtigte Überprüfung der von der Anwältin erbrachten Leistung, wie sie für das Arbeitsergebnis eines bloßen Zuarbeiters notwendig zu erwarten gewesen wäre, ist dem Wiedereinsetzungsantrag nichts zu entnehmen. Die in der Beschwerdebegründung vertretene Ansicht, es sei eine Klarstellung durch das Berufungsgericht veranlasst gewesen (§ 139 ZPO), ist nicht zwingend, zumal dem Wiedereinsetzungsantrag zu entnehmen ist, dass es sich um eine "gut ausgebildete und bisher stets zuverlässige" Rechtsanwältin handele, die nach einer Probezeit in das Angestelltenverhältnis übernommen worden sei.

Jedenfalls läge lediglich ein Fehler des Berufungsgerichts im Einzelfall vor, der weder symptomatische Bedeutung hat noch einen Nachahmungseffekt oder eine Wiederholung für andere Fälle befürchten lässt (vgl. dazu BGH, Beschl. v. 25.3.2003 - VI ZB 55/02, MDR 2003, 891 = BGHReport 2003, 906 = NJW-RR 2003, 995 [996]; Beschl. v. 27.3.2003 - V ZR 291/02, BGHReport 2003, 686 = MDR 2003, 822 = NJW 2003, 1943 [1945 f.]). Dies gilt auch, soweit das Berufungsgericht darauf abstellt, der angestellten Rechtsanwältin sei die Bearbeitung der Fristenfrage übertragen worden.

3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1128771

BGHR 2004, 910

EBE/BGH 2004, 5

NJW-RR 2004, 993

MDR 2004, 719

VersR 2005, 139

SVR 2004, 339

KammerForum 2004, 234

ProzRB 2004, 219

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