Rz. 50

Führt die Ergänzung der Erwägungen zu einer Ermessensentscheidung anderen Inhalts, liegt kein Fall von § 102 S. 2 FGO vor[1], sondern ein solcher von § 68 FGO. Der so geänderte Bescheid ist dem Kläger bzw. seinem Prozessbevollmächtigten[2] und gem. § 68 S. 3 FGO in Abschrift dem Gericht zu übersenden. Das weitere Verfahren richtet sich nach § 68 FGO, wobei auch die Änderungsvorschriften der AO zu prüfen sind. § 102 S. 2 FGO gibt keine materiell-rechtliche Änderungsgrundlage ab.

 

Rz. 51

Nach Auffassung des BFH[3] soll ein neuer Haftungsbescheid gem. § 68 S. 1 FGO auch dann Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens werden, wenn der ursprüngliche Bescheid keine hinreichenden Ausführungen zur Ermessensausübung enthielt und diese in dem "ersetzenden" Bescheid nachgeholt werden.[4] Die Ablaufhemmung des § 171 Abs. 3a AO wirke fort, wenn zeitgleich mit der Aufhebung des angefochtenen Bescheids ein neuer Bescheid erlassen werde.[5] § 102 S. 2 FGO soll diesem Ergebnis nicht entgegenstehen.[6] Die Auffassung des BFH führt dazu, dass die Finanzbehörde bis zum Abschluss eines Revisionsverfahrens, in dem § 68 FGO auch anwendbar ist[7], bzw. möglicherweise in einem zweiten Rechtsgang, einen mangels Ermessenserwägungen rechtswidrigen Ermessensverwaltungsakt durch einen neuen, mit Ermessenserwägungen versehenen Ermessensverwaltungsakt ersetzen kann.

 

Rz. 52

Die Auffassung des BFH ist in folgendem Zusammenhang zu sehen: Grundsätzlich kann eine fehlende und erforderliche Begründung der Ermessensausübung nicht nach § 126 Abs. 2 AO bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz des finanzgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden. Denn § 102 S. 2 FGO ist insoweit lex specialis.[8] Der Verwaltungsakt wäre rechtswidrig und gem. § 100 Abs. 1 S. 1 FGO aufzuheben. Das FA könnte nach der (echten) gerichtlichen Kassation einen neuen Haftungsbescheid mit erstmaligen Ermessenserwägungen erlassen, da gem. §§ 191 Abs. 3 S. 1, 171 Abs. 3a AO insoweit der Ablauf der Festsetzungsfrist gehemmt ist.[9] Die Entscheidung des BFH führt demnach bei dem Erlass eines neuen Bescheids und zeitgleicher Aufhebung des alten Bescheids zu einer Verkürzung des Verfahrens, da noch im "ursprünglichen" gerichtlichen Verfahren die Rechtmäßigkeit des neuen Ermessensverwaltungsakts überprüft wird.

 

Rz. 53

Die Entscheidung des BFH v. 16.12.2008, I R 29/08, BFH/NV 2009, 1032, BStBl II 2009, 539, ist kritisch zu sehen. Die Annahme des BFH, die Ablaufhemmung des § 171 Abs. 3a AO wirke in dem Fall der Aufhebung des ursprünglichen Verwaltungsakts und des zeitgleichen Erlasses des neuen Verwaltungsakts fort[10], steht in Widerspruch zu der Rechtsprechung zu § 171 Abs. 3a AO, wonach die Ablaufhemmung nur bei einer gerichtlichen Kassation des Verwaltungsakts verlängert wird, nicht jedoch nach einer behördlichen Aufhebung.[11] M. E. ist zu berücksichtigen, dass in dem konkreten Fall der ursprüngliche Haftungsbescheid mangels Ermessenserwägungen rechtswidrig war. Da es sich um einen belastenden Verwaltungsakt handelte, konnte dieser von der Behörde gem. § 130 Abs. 1 AO zurückgenommen werden. § 130 Abs. 2 AO ist nicht einschlägig, da keine höhere Haftungssumme festgesetzt werden sollte, sondern nur die Haftung mit einem neuen Bescheid erstmalig mit Ermessenserwägungen begründet werden sollte.[12] Mit der Rücknahme trat entgegen BFH v. 5.10.2004, VII R 18/03, BFH/NV 2005, 729, BStBl II 2005, 323, der Verlust der ablaufhemmenden Wirkung ein. Eine konkrete Begründung für die vom BFH in dieser Entscheidung vertretene Auffassung enthält das Urteil v. 5.10.2004 nicht. Es erfolgt in dem Urteil nur eine Präzisierung zu der Rechtsprechung, wonach mit Aufhebung des Bescheids der Verlust der ablaufhemmenden Wirkung eintritt.[13] Der BFH hatte zuvor jedoch nur über Sachverhalte zu entscheiden, in denen zwischen Aufhebung und Neuerlass ein bedeutender zeitlicher Zwischenraum lag. Dementsprechend weist der BFH in dem Urteil v. 5.10.2004, VII R 18/03, lediglich auf den besonderen Umstand hin, dass mit dem Erlass des neuen Bescheids zeitgleich der alte Bescheid aufgehoben wurde, ohne seine Auffassung weiter zu begründen. Dies überzeugt nicht, da im Hinblick auf § 171 Abs. 3a AO genau zu unterscheiden ist, wer den angefochtenen Verwaltungsakt aufhebt. Diese Unterscheidung ist auch sachgerecht, da die Finanzbehörde bei einer gerichtlichen Kassation der Bindung nach § 100 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 FGO unterliegt.[14] Für den neuen Haftungsbescheid gelten somit die Regelungen für den Erlass eines erstmaligen selbstständigen Verwaltungsakts[15], also auch die Vorschriften über die Verjährung. Nur auf diese Weise ist der neue Haftungsbescheid gem. § 68 FGO zum Gegenstand des Verfahrens geworden. Denn § 68 FGO regelt lediglich die prozessualen Folgen der Korrektur des Verwaltungsakts.[16] § 102 S. 2 FGO ist dann so auszulegen, dass im weiteren Verlauf des gerichtlichen Verfahrens mangels Vorverfahrens nur noch die in dem neuen Bescheid enthaltenen Ermessenserwägungen ggf. ergänzt werden können.

 

Rz. 54

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