Rz. 12

Die Einleitung des Steuerstrafverfahrens[1] und auch die Vermutung straf- bzw. bußgeldrechtlich relevanten Verhaltens lassen – auch wenn beide Verfahren nebeneinander geführt werden – die Mitwirkungspflichten im Besteuerungsverfahren grundsätzlich unberührt.[2] Die Vermutung straf- bzw. bußgeldrechtlich relevanten Verhaltens begründen für den Beschuldigten oder Verdächtigen kein steuerliches Mitwirkungsverweigerungsrecht. Das Mitwirkungsverweigerungsrecht des Beteiligten bei Gefahr der Selbstbezichtigung ist nicht in die AO übernommen worden, weil "sich für die Beweiserhebung und -würdigung unannehmbare Folgen ergäben".[3] Nach dem gesetzgeberischen Willen haben im Besteuerungsverfahren die Mitwirkungspflichten gegenüber der individuellen Vertrauenssphäre Priorität. Hiernach bleibt die steuerliche Pflicht zur wahrheitsgemäßen Mitwirkung bestehen.[4] Der Stpfl. wird durch das Steuergeheimnis[5] und bei dessen Verletzung durch ein strafrechtliches Verwendungsverbot hinreichend geschützt.[6]

 

Rz. 13

Eine Befreiung des Beschuldigten bzw. Angeklagten von der Erfüllung steuerlicher Pflichten kommt nicht in Betracht, da ihn dies wesentlich besser stellen würde als jeden redlichen Stpfl.[7] Das GG gewährt auch keinen lückenlosen Schutz gegen einen gesetzlichen Zwang zur Selbstbelastung, da die durch Art. 2 Abs. 1 GG dem Bürger gewährte Rechtsposition ihre Grenzen an den normierten Rechten anderer findet.[8] Es ist demgemäß verfassungsrechtlich unbedenklich, dass für das Verwaltungsverfahren in Steuersachen nach der ausdrücklichen Regelung des § 103 AO dem Beteiligten. oder den Personen, die nach §§ 34, 35 AO für diesen mitwirkungspflichtig sind, bei Gefahr der Selbstbelastung mit einer strafbaren Handlung kein Mitwirkungsverweigerungsrecht eingeräumt ist.[9]

 

Rz. 14

§ 393 Abs. 1 S. 2 AO versucht einen Kompromiss, indem er die steuerlichen Pflichten bestehen lässt, steuerliche Zwangsmittel zur Pflichterfüllung[10] gegen den Stpfl. jedoch ausschließt, soweit ein Steuerstrafverfahren eingeleitet[11] ist oder ggf. einzuleiten wäre. Diese Regelung gewährleistet den Schutz des Stpfl. in dem verfassungsrechtlich gebotenen Mindestmaß.[12]

Faktisch erlangt der Stpfl. dadurch jedoch eine Rechtsposition, die einem Mitwirkungsverweigerungsrecht entspricht.[13] Der formale Fortbestand der Mitwirkungspflicht eröffnet der Finanzbehörde aber die rechtliche Möglichkeit der Schätzung der Besteuerungsgrundlagen nach § 162 AO, wenn diese infolge der fehlenden Mitwirkung des beschuldigten Stpfl. nicht ermittelt werden können.[14] Eine Schätzung scheidet jedoch in den Fällen aus, in denen die Finanzbehörde noch keine Kenntnis darüber hat, ob ein Sachverhalt überhaupt steuerbar ist. Sofern noch kein Anfangsverdacht besteht, gilt das Selbstbelastungsverbot nicht. Die Vereinbarkeit von Zwangsmaßnahmen mit dem Selbstbelastungsverbot endet erst dann, wenn dem Stpfl. der Weg der Selbstanzeige nicht mehr offensteht.[15]

[3] Vgl. BT-Drs. I/1982, 137 zu § 117 AO.
[8] BVerfG v. 13.1.1981, 1 BvR 116/77, wistra 1982, 25.
[12] Karstens, in Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht, 9. Aufl. 2023 § 393 AO Rz. 8; Seipl, in Gosch, AO/FGO, § 393 AO Rz. 65.
[13] BFH v. 19.9.2001, XI B 6/01, BStBl II 2002, 236; BFH/NV 2002, 236; Klein/Jäger, AO, 16. Aufl. 2022, § 393 AO Rz. 1; Karstens, in Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht, 9. Aufl. 2023 § 393 AO Rz. 6, 15; Seipl, in Gosch, AO/FGO, § 393 AO Rz. 31.
[15] BFH v. 1.2.2012, VII B 234/11, wistra 2012, 278; a. A. Lübbersmann, PStR 2012, 135.

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