Rz. 124

Eine Billigkeitsmaßnahme nach §§ 163, 227 AO kann auch dazu dienen, die steuerliche Belastung im Einzelfall mit der verfassungsmäßigen Ordnung in Einklang zu bringen. Steuerlich relevant sind dabei insbesondere folgende Artikel bzw. Prinzipien des Grundgesetzes[1]:

  • Art. 2 GG und das hieraus folgende Gebot, nicht zu einer die Leistungsfähigkeit übersteigenden, unverhältnismäßig hohen Steuerbelastung herangezogen zu werden (Übermaßverbot); hierzu gehört auch das Verbot der "Erdrosselungsteuer";[2]
  • Art. 3 GG (Gleichheitsgebot), wonach gleiche bzw. vergleichbare Sachverhalte nicht ohne sachlichen Grund ungleich behandelt werden dürfen;
  • Art. 4 GG (Gewissensfreiheit);
  • Art. 6 GG (Schutz der Ehe und Familie), wonach durch steuerliche Maßnahmen Ehe und Familie nicht benachteiligt werden dürfen;
  • Art. 14 GG (Eigentumsgarantie), wonach Steuergesetze keinen enteignenden Charakter haben dürfen. Eine "Erdrosselungssteuer", die die wirtschaftliche Tätigkeit praktisch unmöglich machen würde, wäre verfassungswidrig. Dieser Fall liegt vor bei einer Steuerbelastung in der Nähe von 100 % oder darüber hinaus. Hierzu auch Rz. 127a.
  • Dagegen lässt sich aus Art. 14 GG nicht ableiten, dass die Steuerlast nur im Bereich von 50 % liegen dürfe. Ein "Halbteilungsgrundsatz" besteht daher nicht.[3]
 

Rz. 125

Verstößt ein Gesetz mit seiner typisierenden Regelung gegen eines dieser Verfassungsprinzipien, ist das Gesetz verfassungswidrig, für eine Billigkeitsmaßnahme ist kein Raum. Es ist jedoch auch möglich, dass ein in seiner typisierenden Regelung verfassungsmäßiges Gesetz, das damit die überwiegende Mehrzahl der Fälle verfassungsgemäß regelt, in einem oder einigen Einzelfällen gegen ein Verfassungsgebot verstößt, etwa in einem Einzelfall zu einer unverhältnismäßig hohen Steuer führt. Das kann etwa der Fall sein, wenn der Gesetzgeber die Auswirkungen eines typisierenden Gesetzes auf bestimmte Einzelfälle infolge der großen Zahl der betroffenen Fälle nicht übersehen und mit zumutbarem Aufwand nicht ermitteln konnte, und dadurch im Einzelfall eine übermäßigen Belastung eingetreten ist. Möglich ist auch, dass die Regelung zwar in Bezug auf die typischen Fälle, deren Beurteilung der Entscheidung des Gesetzgebers zugrunde lag, verfassungsgemäß ist, dass sie aber in untypischen Fällen zu einer unangemessenen Belastung des Stpfl. führt.[4] In diesem Fall sind in den betroffenen Fällen abweichende Steuerfestsetzungen aus Gründen der sachlichen Billigkeit geradezu notwendig, um als flankierende Maßnahmen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes sicherzustellen.[5] Ein solcher Fall kann auch vorliegen, wenn ein Gesetz mit unechter Rückwirkung erlassen wird und damit Steuerfälle in die rückwirkende Regelung einbezogen werden, bei denen der Stpfl. auf ein veröffentlichtes gegenteiliges BMF-Schreiben vertrauen durfte. Voraussetzung ist aber immer, dass das rückwirkende Gesetz nur in Einzelfällen gegen das berechtigte Vertrauensinteresse des Stpfl. verstoßen hat. Ist dies generell der Fall, ist die unechte Rückwirkung verfassungswidrig.[6]

 

Rz. 126

Ob es zu einer übermäßigen Belastung in dem genannten Sinne kommt, ist aufgrund einer Gesamtbeurteilung aller in Betracht kommenden Normen zu beurteilen. Dabei können Einzelvorschriften, deren Regelungen für sich gesehen verfassungsgemäß sind, in ihrem Zusammenwirken zu einer übermäßigen Besteuerung führen.[7] Kann dieses Ergebnis nicht durch eine verfassungskonforme Auslegung (die vorrangig ist) vermieden werden, ist die im Einzelfall verfassungswidrige Wirkung des sonst verfassungsmäßigen Gesetzes durch eine Billigkeitsmaßnahme zu beseitigen und die Regelung des Einzelfalls damit der verfassungsrechtlichen Ordnung anzupassen.[8] Ein Beispiel ist etwa die Besteuerung der Kapitalerträge nach dem Nominalwertprinzip, die trotz der Geldentwertung für verfassungsgemäß gehalten wird, jedoch gleichzeitig mit der Möglichkeit verbunden sein muss, im Einzelfall eintretende verfassungswidrige Folgen durch eine Billigkeitsmaßnahme zu beseitigen.[9]

 

Rz. 127

Grundsätzlich kann auch aus Art. 4ff. GG (Schutz der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit) eine Verpflichtung der Verwaltung zu Billigkeitsmaßnahmen aus sachlichen Gründen fließen ("Steuerstreik"). Praktisch wird ein solcher Fall aber kaum vorkommen. Da die Gesamtheit des Steueraufkommens die Gesamtheit der staatlichen Aufgaben finanzieren soll, kann nicht ein Teil einer bestimmten Steuerzahlung einer bestimmten staatlichen Aufgabe zugeordnet werden. Man kann also nicht sagen, dass gerade eine bestimmte Steuerzahlung der Finanzierung einer bestimmten Ausgabe (z. B. Rüstungsausgaben) dient.[10] Eine Kollision mit dem Grundsatz der Gewissensfreiheit ist daher nur denkbar, wenn eine zweckgebundene Sonderabgabe, etwa zur Finanzierung von Rüstungsausgaben, erhoben würde. Dann kann es gegen Art. 4ff. GG verstoßen, Einzelne gegen ihr Gewissen zur Finanzierung dieser Aufgabe heranzuziehen, sodass eine Billigkeitsmaßnahme erforderlich wäre, die allerdings nicht in einer...

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