Rz. 82

Die AO enthält – wie auch anderweitiges Verfahrensrecht – keine allgemeine Vorschrift zur Beweiswürdigung oder zum Beweismaß, also mit welchem Grad an Gewissheit oder Wahrscheinlichkeit der der Besteuerung zugrundezulegende Sachverhalt festgestellt werden muss.[1] § 96 Abs. 1 S. 1 FGO schreibt – wie auch § 108 Abs. 1 S. 1 VwGO und § 286 Abs. 1 S. 1 ZPO – vor, dass das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung entscheidet. Gleiches gilt für das behördliche Verfahren.[2] Das Ermittlungsergebnis ist also durch die Finanzbehörde frei zu würdigen. Es ist zu prüfen, ob die Feststellungen geeignet sind, die geforderte Überzeugung von einem bestimmten Sachverhalt zu verschaffen. Der Würdigung unterliegt der gesamte Verfahrensstoff, nicht nur die mithilfe eines bestimmten Beweismittels gewonnenen Erkenntnisse. Bei ihrer Entscheidung hat die Finanzbehörde nach § 88 Abs. 1 S. 2 AO alle Umstände zu berücksichtigen. Die Behörde darf sich nicht willkürlich auf einzelne Gesichtspunkte beschränken.

 

Rz. 83

Andererseits ist sie an Beweisverwertungsverbote gebunden. Danach darf sie Beweise, die unter Verstoß gegen ein Beweis(erhebungs)verbot erlangt wurden, nicht in die Entscheidung einbeziehen. Dies gilt jedenfalls für Aussagen, die unter Verletzung von Auskunftsverweigerungsrechten[3] sowie für Erkenntnisse, die unter Verletzung des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses[4] erlangt wurden.[5]

 

Rz. 84

Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung besagt, dass die Behörde bei der Würdigung und Abwägung aller für die Feststellung des für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalts erheblichen Tatsachen und Tatsachenschlüsse nicht an starre Beweisregeln gebunden, sondern frei ist.[6] Dieser Grundsatz gilt für das gesamte Verfahrensrecht.[7] Er gibt dem Entscheidungsbefugten einen gewissen Bewertungsraum, eröffnet aber keinesfalls den Weg für willkürliche, den Denkgesetzen widersprechende Schlussfolgerungen oder Gefühlsentscheidungen. Der Grundsatz der freien Beweiswürdigung enthält die Verpflichtung zu gewissenhafter Prüfung und Abwägung, um nicht durch ungenügend begründete oder leichtfertige Feststellungen die Wahrheitsfindung zu gefährden. Eine freie Beweiswürdigung ist nur ausgeschlossen, wenn das Gesetz[8] spezielle Beweisregeln aufstellt.

 

Rz. 85

Zur Beweiswürdigung gehört die Bewertung der Erkenntnisquellen. Unmittelbare Wahrnehmungen des Entscheidungsbefugten[9] haben einen höheren Beweiswert als vermittelte Wahrnehmungen.[10] Insbesondere die Auskünfte anderer Personen bilden eine häufige Fehlerquelle. Die Wahrnehmungs- und Wiedergabefähigkeit, die bewusste oder unbewusste Abhängigkeit der Auskunftsperson vom Beteiligten oder besondere Interessenlagen müssen erkannt und bewertet werden. Deshalb kann die Finanzbehörde die Angaben des Stpfl. auch dann als bewiesen ansehen, wenn sie den – möglicherweise beeideten – Auskünften anderer Personen widersprechen. Auch die Mehrheit identischer Auskünfte zwingt nicht dazu, den Wahrheitsgehalt einer einzelnen Auskunft zu verneinen.

 

Rz. 86

Sachverständigengutachten binden die Behörde ebenfalls nicht.[11] Sie bedürfen in gleicher Weise wie Auskünfte Dritter der kritischen Würdigung, da auch hier berufsbedingte Voreingenommenheit oder Interessenwahrnehmung zur Fehlbeurteilung führen können. Sachverständigengutachten befreien die Finanzbehörde grds. nicht von der Pflicht, den besteuerungsrelevanten Sachverhalt selbst festzustellen und sich auch über die Feststellungen bzw. Schlussfolgerungen eines Gutachtens eine eigene Überzeugung zu bilden.[12] Es bedarf aber einer nachvollziehbaren Erklärung, wenn das Urteil eines Sachverständigen in Zweifel gezogen werden soll (Rz. 89).

 

Rz. 87

Etwaige Gutachten von Angehörigen der Finanzbehörden (und anderer Behörden) sind entsprechend zu würdigen.[13] Die Finanzbehörde muss ggf. auch prüfen, ob einem amtlichen Gutachten im konkreten Fall der Vorrang einzuräumen ist. Unzulässig wäre es hingegen, ein amtliches Gutachten von vornherein einem privaten Gutachten vorzuziehen.[14]

 

Rz. 88

Im Übrigen ist das gesamte Verhalten des Beteiligten – selbst eine eidesstattliche Versicherung nach § 95 AO[15] – im Rahmen der Beweiswürdigung zu werten. Hier kann insbesondere auch die Verletzung der Mitwirkungspflichtigen (vgl. Rz. 39ff.) zu nachteiligen Schlussfolgerungen führen.[16]

 

Rz. 89

Soweit behördliche Entscheidungen zu begründen sind, besteht diese Begründungspflicht auch hinsichtlich des Beweisergebnisses. Die Finanzbehörde hat entsprechend § 286 Abs. 1 S. 2 ZPO die wesentlichen Gründe, durch die sie sich bei der Beweiswürdigung hat leiten lassen, darzulegen und zu erläutern.[17] Aus der Begründung muss erkennbar hervorgehen, dass die Beweismittel vollständig und in ihrem Zusammenhang gewürdigt worden sind. Eine gut begründete Stellungnahme ist insbesondere erforderlich, wenn die Finanzbehörde den Feststellungen und Schlussfolgerungen eines Sachverständigengutachtens im Rahmen der Beweiswürdigung nicht folgt.

Rz. 90 e...

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