Rz. 4
Nach der neueren Rspr. des BVerfG muss bei der Einkommensbesteuerung ein Betrag in Höhe des (sozialrechtlichen) Existenzminimums aller Familienangehöriger (Familienexistenzminimum) steuerfrei bleiben. Dies folgt unmittelbar aus dem Gebot der Steuergerechtigkeit und dem daraus abgeleiteten Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit. Es ist heute allgemein anerkannt, dass die Leistungsfähigkeit als Maßstab der Besteuerung nach dem Einkommen nur durch das Nettoprinzip im objektiven und auch im subjektiven Sinn ermittelt werden kann, dass somit nicht nur die Erwerbsaufwendungen, sondern auch diejenigen Ausgaben, die dem Stpfl. zur Befriedigung privater Bedürfnisse unausweichlich entstehen, steuermindernd zu berücksichtigen sind. Die rein betriebswirtschaftliche Betrachtung, nach der steuerlich nur die marktrelevanten Tatbestände erfasst werden und die Besteuerung familienpolitisch neutral zu sein habe, ist insofern überholt. Die Besteuerung darf dem Stpfl. den Teil seines Einkommens, den er für seine eigene Existenzsicherung und die seiner Kinder aufgrund zwangsläufiger Unterhaltsaufwendungen benötigt, nicht wegnehmen, um zu verhindern, dass er nach der Besteuerung aus Mangel an eigenen Mitteln auf Sozialhilfe angewiesen ist. Mindestens das, was der Gesetzgeber dem Bedürftigen zur Befriedigung seines existenznotwendigen Bedarfs aus öffentlichen Mitteln zur Verfügung stellt, muss er auch dem Einkommensbezieher von dessen Erwerbsbezügen belassen. Insofern wird das Abzugsverbot des § 12 EStG eingeschränkt, d. h., die Besteuerung darf die Belastung durch Kinder nicht wie Ausgaben zur Befriedigung vermeidbarer privater Bedürfnisse vom Abzug ausschließen.
Die steuerliche Berücksichtigung von Unterhaltsverpflichtungen stellt sonach keine Steuervergünstigung dar, sondern ist zwingendes Gebot der Belastungsgleichheit. Der Grundsatz der horizontalen Steuergerechtigkeit gebietet dabei, Kinderlose und Stpfl. mit unterhaltsbedürftigen Kindern gleicher Einkommensstufe entsprechend ihrer geminderten Leistungsfähigkeit zu entlasten. Das Benachteiligungsverbot steht jeder an das Bestehen einer Ehe oder das Vorhandensein von Kindern anknüpfenden belastenden Differenzierung entgegen. Die geminderte Leistungsfähigkeit durch Kinder ist deshalb auch bei Beziehern höherer Einkommen und unabhängig vom individuellen Grenzsteuersatz zu berücksichtigen. Der Splittingvorteil darf daher nicht gegengerechnet werden.
Die Freistellung des Kinderexistenzminimums (als Teil des die Unterhaltslasten umfassenden Existenzminimums des Stpfl. selbst) kann gesetzestechnisch unmittelbar bei der Besteuerung durch einen entsprechenden Abzug von der Bemessungsgrundlage oder durch einen bes. Steuersatz erreicht werden. Daneben oder stattdessen kann es auch mittelbar durch ein Kindergeld berücksichtigt werden, das die bei der (ungerechtfertigten) Besteuerung der Familie erhobenen Steuern wieder vergütet. Bei der Kombination von Kindergeld und Kinderfreibetrag im dualen System bis 1995 ist zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit deshalb das Kindergeld in einen fiktiven Kinderfreibetrag umzurechnen und dann – zusammen mit dem gesetzlich vorgesehenen Kinderfreibetrag – dem tatsächlichen Betrag des Existenzminimums gegenüberzustellen. Erst das darüber hinausgehende Einkommen darf der Besteuerung unterworfen werden. Dem widersprechende Regelungen sind verfassungswidrig.
Hiervon ausgehend war im Einzelnen umstritten, für welche Jahre und bei welcher Kinderzahl – bis 1991 – die steuerliche Entlastung durch die Kombination von Kinderfreibetrag und Kindergeld aus verfassungsrechtlicher Sicht ausreichend war. Nach BFH ist der Kinderlastenausgleich bei einem Kind ab 1986 verfassungswidrig. Dem folgte das BVerfG. Der BFH beanstandete den Kinderlastenausgleich 1984 und 1985 bei zwei Kindern nicht. Ab 1992 bis 1995 waren die Kinderfreibeträge jedenfalls ausreichend.
Die Frage, in welcher Höhe das Kinderexistenzminimum zu berücksichtigen ist, ist rechtspolitisch und verfassungsrechtlich umstritten. Orientiert allein am Leistungsfähigkeitsprinzip wird gefordert, die zivilrechtlichen Unterhaltsverpflichtungen oder die tatsächlichen Aufwendungen anzusetzen. Das BVerfG fordert zunächst, dass keine realitätsfremden Grenzen gesetzt werden dürfen. Sodann geht das BVerfG unter Einbeziehung des Schutzes der Menschenwürde und des Sozialstaatsgrundsatzes davon aus, der vom Sozialstaat durch die Sozialhilfeleistungen gewährleistete existenznotwendige Bedarf, nicht der tatsächliche Aufwand, bilde die Untergrenze des sächlichen Existenzminimums. Die Sonderbelastung durch Kinder wird somit nicht aufwands-, sondern bedarfsorientiert im Weg einer Typisierung nach dem sozialhilferechtlichen Minimum berücksichtigt.
Die Problematik liegt in der Methode der Ermittlung des sozialrechtlichen Mindestbedarfs als des sächlichen Existenzminimums eines Kindes, ausgehend vom durchschnittlichen Sozialhilferegelsatz und Zuschlägen für sog. Einmalb...