Entscheidungsstichwort (Thema)

Zur Erwerberhaftung nach § 75 AO 1977

 

Leitsatz (NV)

War der Erwerber eines gewerblich genutzten Bauwerks nach dessen Übernahme genötigt, zwecks Durchführung einer unabweisbaren Reparatur erhebliche Aufwendungen vorzunehmen, so liegt keine Unternehmensübereignung im Sinne von § 75 AO 1977 vor.

 

Normenkette

AO 1977 § 75

 

Tatbestand

Mit Vertrag vom 31. Dezember 1982 erwarb der Kläger und Revisionsbeklagte von einem Möbelkaufmann ein teilweise bebautes Grundstück in B. Der Kaufpreis betrug 3 009 000 DM zuzüglich 13 % Mehrwertsteuer (391 170 DM). Die Umsatzsteuer aus dem Veräußerungsvorgang hat der Veräußerer nicht an das FA abgeführt. Er ist zahlungsunfähig.

Das auf dem Grundstück befindliche Gebäude war großenteils an zwei gewerbliche Unternehmen vermietet. Den nicht vermieteten - leerstehenden - Gebäudeteil ließ der Kläger abreißen, um den Beschwerden der Mietparteien wegen dort häufig stattfindender Einbrüche und anderer Belästigungen abzuhelfen. Die durch den Abbruch (einschließlich Wegschaffen des Abbruchmaterials) des leerstehenden Gebäudeteils dem Kläger entstandenen Kosten betrugen rund 500 000 DM.

Das FA erließ am 15. April 1983 gegen den Kläger einen auf § 75 AO 1977 gestützten Haftungsbescheid, mit dem es von ihm die auf dem Veräußerungsvorgang beruhende Umsatzsteuer (391 170 DM) anforderte. Es vertrat die Ansicht, der Kläger habe ein Unternehmen bzw. einen gesondert geführten Betrieb im Ganzen übernommen, da er in die mit den beiden Mietparteien abgeschlossenen Mietverhältnisse eingetreten sei.

Der nach erfolglosem Einspruchsverfahren (Einspruchsentscheidung vom 2. Dezember 1983) mit dem Ziel der Aufhebung des Haftungsbescheids erhobenen Klage hat das FG mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 1985, 426 veröffentlichten Urteil stattgegeben.

Es hat ausgeführt: Die Haftung des Erwerbers eines Unternehmens komme nur in Betracht, wenn ein lebendes Unternehmen übereignet worden sei. Dies setze nach der Rechtsprechung voraus, daß die veräußerten Gegenstände die wesentlichen Grundlagen des Unternehmens gewesen seien und der Erwerber das Unternehmen ohne nennenswerte finanzielle Aufwendungen (Investitionen) fortführen könne (Hinweis auf die Urteile des BFH vom 28. November 1973 I R 129/71, BFHE 111, 17; vom 4. Februar 1974 IV R 172/70, BFHE 112, 110; vom 27. November 1979 VII R 12/79, Steuerrechtsprechung in Karteiform - StRK -, Abgabenordnung, § 75, Rechtsspruch 1, und vom 8. Juli 1982 V R 138/81, BFHE 137, 388, BStBl II 1983, 282). An dieser Voraussetzung fehle es hier, weil der Kläger gezwungen gewesen sei, mit dem für den Abbruch des leeren Gebäudeteils aufgewendeten Betrag von 500 000 DM eine erhebliche Investition vorzunehmen, um die Vermietungstätigkeit fortsetzen zu können. Er habe also - im Ergebnis - ein nicht mehr lebensfähiges Unternehmen erworben. Damit entfalle die Anwendung von § 75 AO 1977.

Mit der Revision beantragt das FA, unter Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils, die Klage abzuweisen. Es rügt unrichtige Anwendung von § 75 AO 1977.

Die Auffassung des FG, daß der Abbruch des Gebäudeteils unumgänglich und die dadurch entstandenen Kosten unabweisbar gewesen seien, sei rechtsfehlerhaft. Denn die mit dem Abbruch bezweckte Sanierungsmaßnahme hätte sich auch in einfacherer Form, etwa durch Verschlagen der Zutrittsmöglichkeiten zu dem Gebäudeteil unter wesentlich geringeren Kosten durchführen lassen. Dies um so mehr, als die Mietparteien nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts ihrerseits den völligen Abbruch des Gebäudeteils nicht hätten verlangen können.

Das übernommene Unternehmen hätte sich somit auch bei Vermeidung des Abbruchs und der dadurch entstandenen Kosten weiterführen lassen. Es wäre in seiner Lebensfähigkeit durch den leerstehenden Gebäudeteil nicht entscheidend betroffen gewesen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des FA ist unbegründet.

Das FG ist ohne Rechtsfehler zu dem Ergebnis gelangt, daß auf den Kläger ein Unternehmen (oder ein in der Gliederung eines Unternehmens gesondert geführter Betrieb) nicht im ganzen übereignet worden ist (§ 75 AO 1977). Die in dem finanzgerichtlichen Urteil teilweise angesprochene Frage, ob der Kläger ein noch lebensfähiges oder ein sterbendes Unternehmen erworben hat, stellt sich nicht.

Mit dem FG ist davon auszugehen, daß der Kläger für den Abbruch des leerstehenden Gebäudeteils rund 500 000 DM aufgewendet hat. Es sind keine Anhaltspunkte dafür vorhanden, daß das FG die Voraussetzungen der Haftung nach § 75 AO 1977 verkannt hat. Was die Höhe der Abbruchkosten (500 000 DM) betrifft, so sind sie sowohl im Verhältnis zum Kaufpreis des Grundstücks - rund ein Sechstel des Nettokaufpreises -, wie für sich allein gesehen keine unbedeutende, sondern eine nennenswerte Investition im Sinn der vom FG angeführten Rechtsprechung des BFH.

Ob die Aufwendungen zur Fortsetzung des vom Kläger übernommenen Unternehmens in vollem Umfange erforderlich waren oder ob sich die Baumaßnahme möglicherweise auch mit geringerem Kostenaufwand hätte durchführen lassen, ist eine Frage der tatsächlichen freien Beweiswürdigung (§ 96 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Diese ist der revisionsrichterlichen Überprüfung nur insoweit zugänglich, als sie mit allgemeinen Erfahrungssätzen und den Denkgesetzen unvereinbar ist (vgl. Gräber, Finanzgerichtsordnung, Tz. 10 zu § 118 FGO mit Hinweisen). So liegt der Fall hier nicht. Denn es ist jedenfalls möglich, daß der Abbruch zur Abhilfe der von Mietparteien erhobenen Beschwerden in der hier vorgenommenen Form - also auch mit den dadurch entstandenen Kosten - durchgeführt werden mußte. Mehr ist nicht erforderlich (vgl. Gräber, a.a.O., unter Hinweis auf das Urteil des BFH vom 1. April 1971 IV R 195/69, BFHE 102, 85, BStBl II 1971, 522).

 

Fundstellen

Haufe-Index 414941

BFH/NV 1988, 1

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