Rz. 81

Unter dem Gesichtspunkt des Art. 19 Abs. 4 GG wird problematisiert, dass es die Finanzverwaltung in der Hand hat, durch eine zügige Vollstreckung vollendete Tatsachen zu schaffen, bevor das FG eine Entscheidung im Verfahren nach § 69 FGO fällen kann.[1]

 

Rz. 82

Zur Lösung dieses Problems werden unterschiedliche Ansätze angeboten.[2] Teilweise wird der Weg über eine entsprechende einstweilige Anordnung nach § 114 Abs. 1 FGO unter Berücksichtigung von § 258 AO gegangen. Insofern wäre während eines schwebenden Aussetzungsverfahrens grundsätzlich von der Vollstreckung Abstand zu nehmen, es sei denn, ein weiteres Abwarten würde die Vollstreckung vereiteln. In diesem Zusammenhang wird dann die Darlegungslast bei der Finanzbehörde gesehen. Auch werden dabei nicht die Erfolgsaussichten der AdV-Antrags geprüft.[3]

 

Rz. 83

Nach a. A. kann entweder der Weg über § 114 Abs. 1 FGO i. V. m. § 258 AO oder über eine Eilentscheidung des Vorsitzenden gem. § 69 Abs. 3 S. 4 FGO genommen werden; dies sei aber auf absolute und dringende Ausnahmefälle beschränkt, in denen schwerwiegender und nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gerechtfertigter Schaden dem Stpfl. bei einer Vollstreckung droht.[4]

 

Rz. 84

Teilweise wird hier generell ein Fall für eine Eilentscheidung nach § 69 Abs. 3 S. 5 FGO durch den Vorsitzenden gesehen. Zudem wird erwogen, dass neben dem Hauptantrag auf AdV ein zusätzlicher Antrag gestellt werden kann, gestützt auf § 69 Abs. 3 S. 1 FGO (bzw. § 114 Abs. 2 S. 3 FGO), dass von der Vollziehung bis zu der Entscheidung über den Hauptantrag vorläufig abzusehen ist. Dabei sei summarisch zu prüfen, ob der Aussetzungsantrag Erfolg haben könne oder nur Verzögerungszwecken diene.[5]

 

Rz. 85

Nach Bilsdorfer [6] soll es eine einstweilige Aussetzung der Vollziehung bzw. Aufhebung der Vollziehung in der Zeit zwischen Anbringung des Antrags und der Entscheidung hierüber geben, als aus Art. 19 Abs. 4 GG bzw. als allgemeiner Verwaltungsgrundsatz – vgl. § 80 Abs. 2 bis 8 VwGO – hergeleitet.

 

Rz. 86

Dabei wird man insbesondere zu bedenken haben, dass Art. 19 Abs. 4 GG gerade gewährleistet, dass die Verwaltung nicht vollendete Tatsachen schaffen darf, die zu nicht mehr gut zu machenden Rechtsverletzungen führen.[7]

 

Rz. 87

Andererseits ist aber zu beachten, dass die Finanzbehörde nach AEAO zu § 361 Nr. 3.2 i. V. m. Abschn. 5 Abs. 4 S. 3 VollstrA gehalten ist, von Vollstreckungsmaßnahmen abzusehen, wenn ein Antrag nach § 69 Abs. 3 FGO gestellt ist. Vor solchen hat sich die Finanzbehörde mit dem FG in Verbindung zu setzen, sodass dem FG die Möglichkeit eingeräumt wird, zügig AdV zu gewähren und somit die Vollstreckung zu verhindern.[8] Somit lässt sich also feststellen, dass in der Praxis das geschilderte Problem eine Ausnahme darstellt.[9] Zuzugestehen ist allerdings, dass es Einzelfälle gibt, in denen sich die Finanzverwaltung nicht an diese Selbstbindung hält.[10] Für diese Ausnahmefälle mag der von Bilsdorfer[11] präferierte Weg über § 114 Abs. 1 FGO unter Berücksichtigung von § 258 AO bzw. Art. 19 Abs. 4 GG ein probates Mittel sein.

 

Rz. 88

Der BFH lehnt allerdings grundsätzlich eine einstweilige AdV ab, da er hierfür keine Rechtsgrundlage sieht.[12] Der BFH nur im Fall des "äußersten Notbehelfs", wenn schwerwiegender und nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gerechtfertigter Schaden dem Stpfl. bei einer Vollstreckung droht, diskutiert, ob es eine einstweilige AdV geben kann.[13]

 

Rz. 89

In diesem Zusammenhang ist allerdings darauf hinzuweisen, dass nach §§ 131 Abs. 1 S. 2, 133a Abs. 6 FGO die Möglichkeit einer einstweiligen AdV einer angefochtenen gerichtlichen Entscheidung durch das FG gegeben ist, was aber einen anhängigen Rechtsstreit voraussetzt.[14] Weiterhin setzt dies voraus, dass die angefochtene finanzgerichtliche Entscheidung vollziehbar ist, was jedoch bei einem FG-Beschluss, der eine AdV abgelehnt hat, nicht der Fall sei.[15]

 

Rz. 90

Zudem soll der BFH im Beschwerdeverfahren nach § 155 FGO i. V. m. § 570 Abs. 3 ZPO eine einstweilige AdV erlassen können.[16]

[1] Bilsdorfer, DStR 2021, 320.
[2] Zum Meinungsstand Bilsdorfer, DStR 2021, 320 m. w. N.
[3] FG des Saarlandes v. 7.1.2000, 1 V 389/99, EFG 2000, 449, NWB MAAAB-12578; a. A. FG Hamburg v. 4.2.2002, II 475/01, NWB CAAAB-08093, Haufe-Index HI748939.
[4] Gosch, in Gosch, AO/FGO, § 69 FGO Rz. 168, 168.1.
[5] Gräber/Stapperfend, FGO, 9. Aufl. 2019, § 139 Rz. 232.
[6] DStR 2021, 320.
[7] Jarass, in Jarass/Kment, GG, 17 Aufl. 2022, Art. 19 Rz. 69f. Insofern werden im finanzgerichtlichen Verfahren auch Hängebeschlüsse aus Art. 19 Abs. 4 GG hergeleitet – vgl. FG Sachsen-Anhalt v. 1.9.2021, 3 V 544/21, NWB JAAAI-61074; FG Hamburg v. 30.3.2021, 4 V 33/21, NWB 4 V 33/21, NWB YAAAH-75322; Hofmann, in Schmidt-Bleibtreu/Klein, GG, 15. Aufl. 2022, Art. 19 Rz. 69.
[9] Gosch, in Gosch, AO/FGO, § 69 FGO Rz. 168.1 mit dem Hinweis, dass es für eine einstweilige AdV keine (hinreichende) Rechtsgrundlage gäbe.

Das ist nur ein Ausschnitt aus dem Produkt Steuer Office Kanzlei-Edition. Sie wollen mehr?

Anmelden und Beitrag in meinem Produkt lesen


Meistgelesene beiträge