Rz. 133

Die AO enthält keine Regeln zur Auslegung steuerrechtlicher Vorschriften.[1] Der Gesetzgeber hat die Aufnahme solcher Regeln und insbesondere die Beachtung der wirtschaftlichen Betrachtungsweise für entbehrlich gehalten, weil sie allgemein gelten und deswegen im Steuerrecht ebenso wenig kodifiziert werden müssen wie im übrigen Recht. Das Steuerrecht weist zwar in der Rechtsmaterie begründete spezifische Auslegungsprobleme auf. Gleichwohl gelten auch für das Steuerrecht grundsätzlich dieselben Auslegungsmethoden wie in anderen Rechtsmaterien.

 

Rz. 134

Für das deutsche Recht ist nach gängiger Methodenlehre zwischen der durch den äußersten Wortsinn des Gesetzes begrenzten Auslegung und der Rechtsfortbildung zu unterscheiden.[2] Während die Auslegung durch den möglichen Wortsinn des Gesetzes begrenzt wird, zielt die Rechtsfortbildung auf die über den möglichen Wortsinn des Gesetzes hinausgehende Schließung von Gesetzeslücken sowie der Beseitigung eines bei wortgetreuer Gesetzesanwendung eintretenden sinnwidrigen Ergebnisses. Auslegung bzw. Rechtsfortbildung sind primär Aufgabe der zuständigen Fachgerichte. Nach der BVerfG-Rspr.[3] ist die Anwendung des einfachen Rechts, die Wahl der hierbei anzuwendenden Methoden sowie die Rechtsanwendung im Einzelfall verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, solange sie die Grenzen vertretbarer Auslegung und zulässiger richterlicher Fortbildung wahrt. Diese Grenze ist erst überschritten, wenn sich die Auslegung in krassen Widerspruch zu den zur Anwendung gebrachten Normen setzt.

[1] Anders zuvor § 1 StAnpG und der Entwurf der AO.
[2] Näher z. B. Geserich, DStR-Beihefter 2011, 59; Schenke, DStR-Beihefter 2011, 54; Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 4 AO Rz. 344.

6.1 Auslegungsgegenstand; Grenzen der Auslegung

6.1.1 Wortlaut

 

Rz. 135

Ausgangspunkt jeder Auslegung ist der Gesetzeswortlaut. Maßgebend ist der in diesem unter Berücksichtigung des Sinnzusammenhangs zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers.[1] Der Wortlaut einer Vorschrift ist stets auslegungsfähig. Gesetzestexte sind nie ganz eindeutig.[2] Bereits das einzelne gewählte Wort wird im allgemeinen und besonderen Sprachgebrauch unterschiedlich gemeint und verstanden. Im Steuerrecht ist zu beachten, dass der Gesetzgeber im Steuerrecht teilweise mit fachspezifischen Formulierungen Aussagen trifft, die sich nicht ohne Weiteres auf Gesetze in anderen Rechtsbereichen übertragen lassen. Es gibt sogar beim Sprachgebrauch in den verschiedenen Einzelsteuergesetzen eine unterschiedliche Wortwahl und unterschiedliche Formulierungen. Zur Auslegung kann auch eine von der gesetzgebenden Körperschaft mitbeschlossene amtliche Gesetzesüberschrift herangezogen werden; bei einem Widerspruch zwischen Gesetzeswortlaut und Gesetzesüberschrift ist jedoch stets dem Gesetzeswortlaut der Vorrang einzuräumen.[3]

 

Rz. 136

Die nachfolgend dargestellten Auslegungsgrundsätze gelten gleichermaßen für steuerbegründende Regelungen wie auch für Steuervergünstigungen oder Ausnahmeregelungen.[4] Ebenso erfolgt auch die Auslegung der AO-Vorschriften nach den allgemeinen Auslegungsgrundsätzen, wobei insbesondere bei der Auslegung der Vorschriften über das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren dem Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung (Rz. 161) besondere Bedeutung zukommt. Die Auslegung des AEAO folgt hingegen den für Verwaltungsvorschriften geltenden Grundsätzen (dazu Rz. 108 ff.).

6.1.2 Grenzen der Auslegung

 

Rz. 137

Der mögliche Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze zulässiger richterlicher Interpretation.[1] Gerichte dürfen sich wegen der Bindung an Gesetz und Recht[2] nicht aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben und nicht unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers eingreifen.[3] Die Auslegung darf daher nicht in Widerspruch zu dem Willen des Gesetzgebers treten.[4] Allerdings ist eine vom möglichen Wortsinn nicht erfasste Lückenschließung des Gesetzes bzw. eine vom Wortsinn nicht mehr gedeckte "Auslegung gegen den Wortlaut" des Gesetzes nicht schlechthin unzulässig, sondern als Rechtsfortbildung (dazu Rz. 168ff.) in den insoweit gezogenen Grenzen zulässig.[5]

[1] BVerfG v. 10.1.1995, 1 BvR 718/89 u. a., BVerfGE 92,1/12; Geserich, DStR-Beihefter 2011, 59 m. w. N.
[5] Zur Trennung zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung vgl. z. B. Schenke, DStR-Beihefter 2011, 54 ff.; Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 4 AO Rz. 344.

6.2 "Klassische" Auslegungsmethoden

 

Rz. 138

Der Ermittlung des für die Auslegung maßgebenden objektivierte...

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