Rz. 168

Die Auslegung einer Rechtsnorm findet ihre Grenze in ihrem möglichen Wortsinn (vgl. Rz. 137). Ist das Gesetz wegen unbeabsichtigter Unzulänglichkeiten im Normtext lückenhaft, kommt eine Lückenschließung im Wege richterlicher Rechtsfortbildung in Betracht. Sachlich und terminologisch ist die Rechtsfortbildung von der Auslegung deshalb zu unterscheiden, weil Rechtsfortbildung nicht mehr vom Wortsinn der Norm gedeckt ist.[1] Allerdings sind Auslegung und Rechtsfortbildung nicht wesensverschieden, sondern nur verschiedene Stufen desselben gedanklichen Verfahrens.[2] Auch in der Rechtspraxis liegen häufig Überschneidungen von Auslegung und Rechtsfortbildung vor.[3] Auch die in der BFH-Rspr. geläufige Figur der "Auslegung gegen den Wortlaut"[4] beschreitet nur sprachlich einen Sonderweg[5] und zielt in der Sache auf eine Rechtsfortbildung.

 

Rz. 169

An der grundsätzlichen Zulässigkeit der Rechtsfortbildung besteht kein Zweifel.[6] Sie ist, wie z. B. schon § 11 Abs. 4 FGO und § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO zeigen, eine anerkannte Aufgabe der Rechtsprechung. Darin liegt insbesondere kein Verstoß gegen das Gewaltenteilungsprinzip.[7] Die Fortentwicklung des Rechts zwecks Anpassung an veränderte Verhältnisse sowie die Ausfüllung der zahlreichen offen formulierten Normen ist Aufgabe der Gerichte; diese müssen jedoch insoweit den anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung folgen.[8]

[1] Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 4 AO Rz. 377 ff; Schenke, DStR-Beihefter 2011, 54; so auch ausdrücklich z. B. BFH v. 12.12.2002, III R 33/01, BStBl II 2003, 322.
[2] Larenz, Methodenlehre, 6. Aufl. 366 f.
[3] Drüen, in Tipke/Kruse, AO/FGO, § 4 AO Rz. 344.
[5] Zutr. Geserich, DStR-Beihefter 2011, 59/61.
[6] Z. B. BVerfG v. 25.1.2011, 1 BvR 918/10, BVerfGE 128, 193 Tz. 53 m. w. N.; BVerfG v. 7.4.2022, 2 BvR 2194/21, BFH/NV 2022, 797; Englisch, StuW 2015, 302 ff.; krit. im Hinblick auf die fehlende Kompetenzzuweisung an den Richter z. B. Hillgruber, in Maunz/Dürig, GG, Art. 97 Rz. 63 ff.

6.5.1 Grenzen der Rechtsfortbildung

 

Rz. 170

Ihre verfassungsrechtliche Grenze findet die Rechtsfortbildung stets im Gewaltenteilungs-, Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip. Der Richter darf sich nicht aus der Rolle des Normanwenders in die einer normsetzenden Instanz begeben, damit dem Gesetzgeber vorbehaltene Befugnisse beanspruchen und sich damit der Bindung an Gesetz und Recht entziehen.[1] Da die richterliche Rechtsfortbildung nicht die eigene Gerechtigkeitsvorstellung an die Stelle derjenigen des Gesetzgebers setzen darf, lassen sich im Wege der Rechtsfortbildung insbesondere keine neuartigen Steuern bzw. Steuerbelastungen kreieren.[2] Ganz allgemein scheidet eine Rechtsfortbildung bei einem sog. rechtspolitischen Fehler aus, aufgrund dessen eine gesetzliche Regelung nur rechtspolitisch als verbesserungsbedürftig anzusehen ist.[3] Derartige Defizite können nach dem Prinzip der Gewaltenteilung allein vom Gesetzgeber beseitigt werden.[4] Ausgeschlossen ist daher eine Gesetzesinterpretation, die den klaren Gesetzeswortlaut hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich bzw. wegen einer erkennbar planwidrigen Gesetzeslücke nicht stillschweigend gebilligt wird.[5] Ob eine Regelungslücke oder lediglich ein rechtspolitischer Fehler vorliegt, ist unter Heranziehung des Gleichheitssatzes zu ermitteln, wobei auf die Wertungen und die Entstehungsgeschichte des Gesetzes abzustellen ist. Dabei muss sich die Unvollständigkeit bereits aus der dem Gesetz immanenten Zwecksetzung ergeben und nicht aus einer kritischen Würdigung des Gesetzes.[6]

 

Rz. 171

Praktisch bedeutsam ist insbesondere die Frage nach der Zulässigkeit einer steuerverschärfenden Rechtsfortbildung (insbesondere durch Analogie und teleologische Reduktion bzw. Extension). Eine steuermindernde (z. B. zu einer Steuervergünstigung führende) Rechtsfortbildung zugunsten des Stpfl. ist unproblematisch möglich.[7] Ebenso ist bei Vorschriften des steuerlichen Verfahrensrechts eine Rechtsfortbildung zulässig; die für die steuerverschärfende Rechtsfortbildung geltenden Einschränkungen sind hier ohne Bedeutung.[8]

 

Rz. 172

Die Zulässigkeit einer steuerverschärfenden Rechtsfortbildung ist in erster Linie ein Problem des Gesetzes- und Parlamentsvorbehalts.[9] In der Vergangenheit wurde vielfach von einem generellen Verbot steuerbegründender oder -verschärfender Rechtsfortbildung (Analogie) ausgegangen.[10] Soweit die Rechtsfortbildung jedoch keine neuen, keine neuartigen Steuern bzw. Steuerbelastungen schafft, sondern lediglich gesetzesimmanenten Wertungen des gesetzten Rechts folgt, lassen sich gegen eine steuerverschärfende Rechtsfortbildung keine durchgreifenden Einwände erheben.[11] Davon geht nunmehr auch die jüngere BFH-Rspr. aus. Sie hält eine steuerverschärfende Rechtsfortbildung für zuläss...

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